Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Dinge mit Sinnen in den Filmen von Jacques Tati

Ein Fahr­rad allein in Jour de fête

von Iva­na Miloš

Die Men­schen auf ihren Fahr­rä­dern, wes­halb erschei­nen sie so rät­sel­haft? Die Fahr­rä­der, was macht sie so fas­zi­nie­rend im Ver­gleich zu ande­ren Trans­port­mit­teln, die nicht der­art geliebt wer­den? Viel­leicht hat es mit ihrer fort­lau­fen­den Bewe­gung zu tun, dem unbe­irr­ba­ren Dre­hen die­ser bei­den Räder – schnell genug, um uns wei­ter und vor­wärts zu brin­gen und doch gera­de lang­sam genug, um gese­hen zu wer­den bei ihrem Dre­hen, Dre­hen, Dre­hen. Oder hängt es mit dem am Rad kle­ben­den Frei­heits­ge­fühl zusam­men, einem Gefühl für Bewe­gung jen­seits der Ver­bo­te, des Ver­kehrs, der Stra­ße, jen­seits von allem eigent­lich. Oder es geht um die­se Fra­ge, die man­che Objek­te ganz beson­ders auf­wer­fen: Lebt es ein eige­nes Leben, wenn wir nicht hin­schau­en? Was auch immer stim­men mag, das Fahr­rad ist erfüllt von Magie. Des­halb soll­te es kaum über­ra­schen, dass es in der Lage ist, ganz von sich allei­ne zu flie­hen wie in Jac­ques Tatis wun­der­vol­lem Jour de fête. Zunächst scheint sich das Fahr­rad des Brief­trä­gers, also Tatis, mit einem fah­ren­den Last­wa­gen zu ver­kei­len und so in Bewe­gung ver­setzt zu wer­den – aber dann, nach einer schar­fen Kur­ve, haut es ab mit dre­hen­den Peda­len, eine Land­stra­ße hin­ab, ganz allein. Eini­ge Zie­gen wer­fen die­sem rasen­den Rah­men auf zwei Rädern einen fra­gen­den Blick zu. Tati ver­sucht es ein­zu­ho­len, aber es wür­de ihm nie gelin­gen, wür­de das Fahr­rad nicht ent­schei­den anzu­hal­ten, erneut ganz von sich allein. Selbst­re­dend mar­kiert die­se Sze­ne nur einen Beginn von Tatis lebens­lan­ger Fas­zi­na­ti­on für Din­ge, die den Men­schen ent­wi­schen. Din­ge, die ihre Fes­seln lösen, die ihr eige­nes, oft­mals haar­sträu­ben­des und lächer­li­ches Leben füh­ren. Nur ist das Leben der Din­ge auf ewig mit dem ihrer Her­stel­ler ver­bun­den und so kann man nicht anders, als sich beim Beob­ach­ten die­ses ele­gant flie­hen­den Fahr­ra­des an Eliza­beth Wests berühm­ten Spruch zu erin­nern: „Der Fort­schritt hät­te halt­ma­chen sol­len, als der Mensch das Fahr­rad erfun­den hatte.

Aus dem Eng­li­schen von Patrick Holzapfel

Knaut­sch­ma­te­ria­li­en in Playtime

von Patrick Holzapfel

Kein Mate­ri­al ist geeig­ne­ter für einen, der sich über die Welt wun­dert, als das Knaut­sch­ma­te­ri­al. Was soll das sein, wer­den man­che fra­gen und ich kann hier nicht mit wis­sen­schaft­li­chen Ant­wor­ten die­nen, wer­de aber den­noch ver­su­chen, etwas über die­se Stof­fe zu ver­ste­hen , die man zer­drü­cken, quet­schen, ein­dul­len, kne­ten oder knaut­schen kann und die sich dann, sobald man von ihnen ablässt, einem für mich schwer nach­voll­zieh­ba­ren inne­ren Drän­gen nach­ge­bend, lang­sam, mit der unbe­irr­ba­ren Bestimmt­heit phy­si­ka­li­scher Bewe­gun­gen zurück in ihre ursprüng­li­che Form begeben.

Ich erin­ne­re bei­spiels­wei­se die unend­li­che Fas­zi­na­ti­on, die mich als Klein­kind über­fiel, wenn ich die­se per­fekt run­den, so offen­sicht­lich ein­drück­ba­ren Mem­bra­nen in den Laut­spre­cher­bo­xen mei­nes, sei­ne Boxen über alles lie­ben­den, Vaters erblick­te. Nichts sehn­li­cher woll­te ich, als mit mei­nen klei­nen Fin­gern in die­se wei­chen, glat­ten Mem­bra­nen zu drü­cken, die sich bewe­gen­de Luft unter der sam­te­nen Ober­flä­che zu spü­ren, gera­de­zu ein­zu­drin­gen, in die mir unbe­kann­te Welt hin­ter dem mat­ten Schwarz, aus dem die auf­re­gen­den Töne kamen, um dann zu beob­ach­ten, wie die­se Stof­fe zurück in ihre per­fekt run­den For­men plop­pen. Lei­der stell­te sich das Plop­pen nicht immer ein und so wur­de mir, der ich die ein oder ande­re Mem­bran zu tief ein­drück­te, ver­bo­ten, auch nur noch in die Nähe die­ses Knaut­sch­ma­te­ri­als zu krab­beln. Gut, dass es für der­lei bis­wei­len ver­ges­se­ne Freu­den einen Fil­me­ma­cher gibt, der sich wei­ter gewun­dert hat, dem es gelang, der Welt noch so zu begeg­nen, als wür­de er nicht alles begrei­fen oder begrei­fen wol­len, son­dern so, als wäre er ein Frem­der oder tat­säch­lich ein Kind geblie­ben. Einer, der etwas Knaut­schen­des auf­spürt und des­sen Bewe­gun­gen dann folgt wie die Kat­ze einer Fliege.

In Play­ti­me ver­bin­det die­ser Jac­ques Tati, von dem hier die Rede ist, die Ver­wun­de­rung, die manch­mal einer Ver­zau­be­rung, manch­mal einem Alb­traum gleicht, mit der soge­nann­ten tech­ni­schen Moder­ne. Er treibt die Ent­frem­dung des Men­schen von den Din­gen, die ihn umge­ben, auf die Spit­ze. Da gibt es zum Bei­spiel eini­ge High-Tech-Ses­sel in einem Glas­zim­mer. Tati oder sein Alter Ego traut die­sen klei­nen Desi­gner­ob­jek­ten nicht wirk­lich. Er tas­tet das, unter Druck nach­ge­ben­de, Mate­ri­al ab, bevor er sich äußerst zöger­lich auf einen der Stüh­le setzt und sofort bemerkt, dass er tie­fer im Sitz ein­sinkt, als er erwar­tet hat­te. Er steht wie­der auf und betrach­tet die Spur sei­nes Sit­zens, einen run­den Abdruck im ver­form­ten Ses­sel, der sich mit einem plötz­li­chen Plop­pen zurück in sei­ne geglät­te­te Form begibt. Tati ver­sucht sich noch an einem ande­ren Stuhl. Er zer­drückt die Leh­ne, setzt sich, steht auf und schaut wie das Mate­ri­al zurück in die ursprüng­li­che Form springt, nur ganz plop­p­frei dies­mal, ganz still, was der Albern­heit die­ser Bewe­gung erst die komi­sche und kos­mi­sche Lee­re über­trägt. Die Stil­le die­ses Rau­mes im Ver­gleich zur lär­men­den Stra­ße, von der aus Tati in Zwi­schen­schnit­ten in Ton und Bild immer wie­der auf die­se Inter­ak­ti­on mit den Ses­seln blickt, ver­stärkt die­se herr­lich sinn­lo­se Bewe­gung des Knaut­sch­ma­te­ri­als, die letzt­lich, wenn man für sol­che Gedan­ken emp­fäng­lich ist, hin­ter­fragt, was wir da eigent­lich tun, wenn wir Stüh­le oder ande­re Objek­te ent­wer­fen, die sich ver­for­men und in Glas­zim­mern ste­hen. Man wun­dert sich und stol­pert wei­ter, immer hof­fend, dass irgend­wann alles wie von selbst zurück in die ursprüng­li­che Form springt.

Alles blit­ze blank in Trafic

von Ron­ny Günl

Die Autos in Jac­ques Tatis Tra­fic müs­sen glän­zen, sonst wer­den sie über­se­hen. Ein eif­ri­ger Mit­ar­bei­ter wedelt beim Auf­bau der Karos­se­rien­schau jede hart­nä­ckig ver­blie­be­ne Staub­flu­se von der Motor­hau­be. Kei­ne Spur soll ver­ra­ten, dass die­ses Fahr­zeug mehr als rei­nes Anschau­ungs­ma­te­ri­al sein könn­te. Den dafür ver­wen­de­te Wisch­mopp – man soll­te eher Wisch-Mops sagen – will die Kame­ra für einen Augen­blick mit dem zot­te­li­gen Hava­ne­ser der ner­vö­sen PR-Mana­ge­rin ver­wech­selt haben. Spä­ter im Film wie­der­holt sich die Ver­wechs­lung, nur weit­aus mor­bi­der, als der Pelz­man­tel der Hip­pies, die sich einen Streich erlaub­ten, eben­falls für das ver­meint­lich über­fah­re­ne Hünd­chen gehal­ten wird. Tati streift sich die Hun­de­at­trap­pe über, eigent­lich um den bit­te­ren Scherz auf­zu­lö­sen, doch die Ner­ven der Frau lie­gen nun gänz­lich blank. Arme Hun­de, man will euch wie Men­schen behan­deln.

Für einen Moment abge­lenkt, nicht nur vom has­ti­gen Vor­bei­fah­ren der PR-Dame, son­dern viel­leicht auch von der polier­ten Ober­flä­che ihres Sport­wa­gens, kommt der Wacht­meis­ter auf der Kreu­zung ins Tau­meln. Unaus­weich­lich folgt der gro­ße Crash. Sei­nen absur­den Her­gang kann man wohl kaum rekon­stru­ie­ren. Aber hät­te ein biss­chen Dreck auf dem Lack schlim­me­res ver­hin­dert? Schö­ne Autos schin­den Ein­druck, las­sen sich die Show nicht steh­len. Aber gut geputzt, wer­den die Boli­den letzt­lich zu Blen­dern im Son­nen­licht. Der Lack zeigt sich als Refle­xi­ons­flä­che und die Sicht auf die Fahr­bahn wird zum strah­len­den Hindernis.

Im Kino sind Autos oft ein wenig zu über­mü­tig unter­wegs, knat­tern gern etwas zu laut. Der Fuß­gän­ger und Hun­de­freund Tati kann sei­ne Abnei­gung gegen­über dem flot­ten Ver­kehr kaum ver­ste­cken. Erst als zer­dell­te und ver­beul­te Blech­tei­le mit hüp­fen­de Rei­fen wol­len sie ihm gefal­len. Eine ver­spiel­te Abrech­nung, glück­li­cher­wei­se ohne ernst­haf­ten Schaden.

Unbe­merkt fällt beim Aus­stel­len des Schecks für die Repa­ra­tur schließ­lich ein Trop­fen Tin­te aufs Bril­len­glas, der die gestress­te Frau nur noch Fle­cken in der Gegend wahr­neh­men lässt. Kein sel­te­nes, aber bedenk­li­ches Sym­ptom unter hoher Belas­tung. Der Putz­wahn ist vor­pro­gram­miert. Zwar wird die Irri­ta­ti­on mit einem Schmun­zeln weg­ge­wischt, aber trotz­dem mun­ter wei­ter­ge­wie­nert was das Zeug, bezie­hungs­wei­se der Lack aus­hält. Auch Tati hilft flei­ßig mit. Anstatt Bil­li­gung der Umwelt, gilt so viel­leicht die Rein­lich­keit der Autos – eher als Drecks­schleu­dern ver­ru­fen – viel mehr als Hybris der Men­schen, die über­all nur noch Ver­schmut­zun­gen sehen kön­nen. Wer eine sau­be­re Hau­be vor­zu­wei­sen hat, pro­vo­ziert wenigs­tens kei­ne unan­ge­neh­men Fra­gen. Doch am Ende besitzt wahr­schein­lich jeder sei­ne eige­ne Ober­flä­che, die tun­lichst vor Ver­un­rei­ni­gun­gen beschützt wer­den soll, sei es ein Auto, eine Bril­le, oder ein Bild­schirm. Was wür­den die Hun­de dazu sagen?