Kreisende Möwen, tiefer Schnee: Nakinureta haru no onna yo von Hiroshi Shimizu

Aus einer eher unbestimmten inneren Notwendigkeit heraus habe ich mir in den vergangenen Tagen mehrfach die ersten Minuten von Hiroshi Shimizus Nakinureta haru no onna yo angesehen. Ich besitze eine digitale Version, die seltsam filmisch rauscht und ploppt, als könnte sie in Flammen aufgehen. In diesen ersten Minuten des Films, den der damals (1933) 30jährige Shimizu als seinen ersten Tonfilm realisierte, sieht man, wie ein Schiff beladen wird: Güter, Dreck, Menschen und sich in der Meeresbrise verlierende Hoffnungen betreten das Schiff auf dem Weg nach Hokkaidō in den schneebedeckten Norden.

Ich habe diese Eröffnungssequenz immer wieder betrachtet und stets unterbrochen, wenn es zur ersten Begegnung, der sich später tragisch liebenden, verlorenen Seelen an Deck kommt. Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht weiterschauen. Etwas war mir zu viel. So ergeht es mir manchmal bei der Lektüre von Proust oder Musil, wenn in einem Absatz schon so überwältigende, tiefe Wahrheit steckt, dass mir die tausend folgenden Seiten, wie mein eigenes Ende vorkommen. Ich glaube, dass es im Fall von Nakinureta haru no onna yo mit der Parallelität der Ereignisse (die hier auch Zustände sind) zu tun hat. Sie legen das ganze Dilemma des Films, der Welt, in der er entsteht, aber auch des heutigen, tagtäglichen Unglücks frei, sodass sie nackt und unerträglich vor mir schwimmen.

Dass das nur möglich ist, weil Shimizu es versteht, allem was er filmt (Menschen, Schatten, Schnee usw.), Gewicht und Gegenwärtigkeit zu verleihen, muss den folgenden Beobachtungen, hilflos wie sie sein mögen, vorangestellt werden. Shimizu macht Bilder, die sich zum heutigen Kino so verhalten, wie eine tagelang zubereitete Gemüsebrühe zu Suppenwürfeln. Auch sein Umgang mit Ton, damit ist er ja nicht allein bei jenen, die noch aus dem Stummfilm kommend in der Lage waren, Bilder zu hören, erzeugt eine Dringlichkeit. Zum einen aufgrund der gleich eines Tragödienchors aus den traurigen Zwischenräumen klingenden Volkslieder, zum anderen, weil er den Ton wie ein zweites Bild einsetzt, in dem die Abwesenden über die Anwesenden nachdenken; ein bisschen wie das, was Jahrzehnte später Marguerite Duras als Ende des Kinos begriff (so viele Enden, die eigentlich ein Anfang sind).

In dieser Eröffnungssequenz habe ich also immer wieder gesehen, wie das Schiff beladen wird. Dabei unterscheidet Shimizu nicht zwischen den pechschwarzen Wagons und den Menschen. Es ist eine Bewegung. Zu dieser Bewegung gehören drei Zustände. Der erste Zustand, das sind Gewalt und Kälte. Dazu gehören die militärische Sprache des späteren „Bosses“ der Mine, das unerbittlich fortschreitende Maschinengetriebe des Schiffs, die gesenkten Blicke der Männer, die Art und Weise, in der Menschen zu Nummern werden.

Der zweite Zustand, das sind Liebe und Wärme. Sie tauchen mit den Frauen und dem einsamen Kind auf, das versucht Kontakt zu einem der Minensoldaten aufzunehmen. Zu diesem Zustand gehören die Gesänge, der mehrfach von den Protagonisten beschriebene Geruch nach Make-Up, das lange Zeit versteckte Begehren, die Menschlichkeit, die alles bedingt, das Leiden und die Nähe.

Und dann ist da noch ein dritter Zustand, für den sich Shimizu immer interessiert und den er hier in Form von einigen am Himmel kreisenden Möwen und der durch das Schiff aufgewirbelten Gischt bebildert. Dieser Zustand ist all das, was unbeeindruckt bleibt von Krieg und Frieden, Kälte und Wärme, Leiden und Liebe. Es ist das, was gleichzeitig passiert und das, was über den Dingen schwebt. Früher nannte man diese Präsenz das Göttliche und noch früher die Götter. Heute neigt man dazu, es als Natur zu beschreiben. Später im Film tauchen ähnliche Bilder wieder auf, vor allem, wenn es um den Schnee geht, der die Landschaften bedeckt.

Shimizu realisierte den Film teilweise on-location und außer während seiner Titelsequenz, in der karge Silhouetten winterlicher Bäume zu erkennen sind, dient ihm die Location nie als bloßer Hintergrund oder (was noch schlimmer wäre) als Metapher. Sie ist eine eigene Figur, ein dritter, gleichwertiger Zustand. Um was es eigentlich geht, das ist die stete Gleichzeitigkeit dieser drei Zustände. Das Drama des Films (und des Lebens) entsteht dann, wenn zwischen den Zuständen verkehrt wird. Wenn die Liebenden leiden und die Natur die Kämpfenden aufhält, wenn die Arbeiter sich amüsieren wollen und die Unterdrückten ausbüxen, wenn die Erde, unter die man kriecht, in sich zusammenfällt, sodass Leid über die kommt, die eigentlich leben wollten.

Einige Jahre vor Nakinureta haru no onna yo realisierte Josef von Sternberg seinen Morocco, an dessen berühmten Ende einige Frauen ihren militärischen Männern in die Wüste folgen. An diesem Ende setzt Shimizu an. Die Soldaten sind Bergarbeiter, die Frauen betreiben eine Bar, die Wüste besteht aus Schnee. Alle bleiben hier einsam, hoffnungslos. Der sich selbst aufgebende Blick Marlene Dietrichs am Ende von Morocco hat alles vorhergesehen, es stimmt: Die Zustände lassen sich nicht vereinen. Ich denke, dass ich das spüre in diesen ersten Bildern des Films. Es braucht einen Filmemacher, der bereits mehr als 80 Stummfilme gedreht hat, bevor er diesen, seinen ersten Tonfilm dreht und der trotzdem erst 30 Jahre alt ist, sodass ihn die Unvereinbarkeit der Dinge, die Ungerechtigkeit der Welt erschaudern lässt.