Atemtechniken im Kino: Eine Beobachtung

Eines steht fest: Alle Menschen, die leben wollen, müssen atmen. Wer nicht mehr atmet, ist entweder tot oder auf dem besten Weg dahin. Deshalb müssen einem Kinosaal pro Stunde für jeden Zuschauer mindestens 25 Kubikmeter Frischluft zugeführt werden. Laut Vorschrift sollte ein Kinobesucher ebenso lebendig das Kino verlassen, wie er es betreten hat – zumindest einigermaßen. Ermüdung ist in diesem Fall durch gähnende Münder als Zeichen für den letztlich erfolgreichen Kampf gegen die Luftarmut zu betrachten. Im Kino befindet man sich sozusagen in einer lebensfeindlichen Zone, die darin besteht, einander die Luft zu nehmen. Seit das Leben in der Öffentlichkeit wieder unreglementierter stattfindet, macht sich das besonders bemerkbar. Endlich: Alle Menschen atmen auf, und atmen sich gegenseitig ein.

Der Film atmet, las ich kürzlich. Oder vielleicht sollte man ihn atmen lassen wie ein gepflegtes Gläschen Rotwein (Nur nicht zu lang, sonst kippt er um). Also einfach gar nicht betrachten, bis er nach seiner wuchtigen Anstrengung wieder zu Atem kommt. Nein, es war wohl anders. Er muss etwas versprüht haben, das sich an den Augen und Ohren vorbei schummelte, um auf direktem Weg in den Lungen des Autors zu verschwinden. Durch die Nase oder den Mund hinein, und hoffentlich auch wieder heraus. Es hätte dabei nichts stecken bleiben dürfen, denn das könnte lebensverändernd, weiß Gott lebensgefährdend enden. Also eher ein Film zum Atmen. – Man liest nur noch selten, wie ein Film schmeckt oder riecht. Wahrscheinlich aus Gründen der Pietät. So ein geradewegs obszönes, subjektives Urteil ist dem Leser nicht zuzumuten. Er wäre gezwungen, sich etwas vorzustellen, anstatt einfach zu glauben, was geschrieben steht.

Ich muss gestehen, dass mir nach dem Kinobesuch meist ein fahler Geschmack im Mund bleibt. Einzelheiten, die meine Essens-, Trink- und Rauchroutine betreffen, möchte ich hierzu aussparen. In der Regel ist mir aber mehr daran gelegen, diesen Geschmack loszuwerden, als mich mit ihm zu beschäftigen. Glücklicherweise verflüchtigt er sich mit einem tiefen Atemzug der klaren, nächtlichen Luft, die sich mit einer verträumten Zigarette auf dem Heimweg vermischt. Während die rasend heißgelaufen Bilder immer noch meinen Kopf schwitzen lassen, kühlt etwas ab. Ein anderer Geruch trifft meine Nase, eine andere Note legt sich auf meine Zunge. Ich denke nochmals an den Film zurück und spüre erst an dieser kaum merkbaren Veränderung, dass ich nun tatsächlich nicht mehr Sessel sitze und wieder allein bin.

Nochmals tief Luft holen. Während ich diesmal für einen Moment innehalte, sehe ich wieder das Bild vor mir. Stillgelegt, dem Atem beraubt, nicht mehr lebendig. Unwillkürlich taten ich und eine andere Person im Dunkel dasselbe. Ich atmete durch meine Nase ein. Dabei hörte ich, wie die Luft an den Nasenflügeln vorbeiströmte und sich ihren Weg in die Luftröhre bahnte. Der Brustkorb hob sich, das Zwerchfell spannte sich. Wie lang könnte dieser Moment andauern? Und was wird danach passieren? Fast hielt ich es nicht mehr aus. Dann drückte sich die verbrauchte Luft wieder nach oben. Indessen überkam mich ein unangenehmes Gefühl. Ich befürchtete, eventuell zu viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen zu haben. Also presste ich meine Lippen zusammen und ließ die Luft heimlich wieder durch meine Nase entweichen.

Wirklich entlastend ist nur, durch den Mund auszuatmen. So lehren es die Gewichtheber, Akrobaten und Leichtathleten. Sie bewegen sich damit im Gleichgewicht, halten die Spannung, ohne sich zu verausgaben. Wenn es im Kino spannend wird, dann spielt gerade die Atmung beziehungsweise ihr Unmöglichkeit eine zentrale Rolle. – Zunächst gibt es jene, die sich mit ihrem Atem derart entspannen, dass sie bereits nach zehn Minuten genüsslich in den Schlaf fallen. Manchmal ist ein kleines Säuseln, Bribbeln, Grischeln, Röcheln oder Zippsen zu vernehmen. Jenen Kandidaten ist nichts vorzuwerfen, sie haben sich dem Film hingegeben und wurden von ihm warm empfangen, auch wenn sie hin und wieder hechelnd aufwachen. – Dann gibt es selbstverständlich jene, die mit der Einblendung des Filmtitels und Regisseurs nickend die gesammelte Luft wie ein Föhn ausblasen. Womöglich waren sie den halben Tag oder ihr halbes Leben lang angespannt und können jetzt alles bekommen, worauf sie gewartet haben. Zu dieser Sorte gehört in wenigen Fällen aber ebenso eine arrogant bis überhebliche Spezies. Der Unterschied liegt darin, dass sich ihr süffisant schmunzelnder Mund wieder verschämt schließt, sobald etwas Unvorhergesehenes eintritt. – Vereinzelt trifft man auch jenen, der immerzu stöhnt. In bitterer Ignoranz werde ich ihn nicht weiter beachten, selbst wenn er stolpernd den Saal verlässt.

Im Gegenteil zu den vorangegangen ist jedoch der nun folgende letzte Typus, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, der einzig konsequent auffällige. – Seine permanente Anspannung fällt mit seinem penetranten Ringen um Luft auf. Das gequälte Japsen und Schnappen wird durch seine verknotete Sitzposition nicht gerade erleichtert. Stoßweise lässt er angestaute Luft durch seine Nasenlöcher ausschießen, als müsste sich dabei noch mehr lösen, als die muffige Luft beinhaltet. Manchmal wird daraus auch so etwas wie ein verkniffenes Lachen, das sich mit einem leichten Kitzeln oder gar Grunzen am hinteren Gaumen paart. Mit zunehmender Wiederholung scheint sich daran etwas festzusetzen, anstatt abzufallen. Es fällt ihm schwer, einfach loszuprusten, etwas hält ihn zurück. Irgendwann will man nur noch glauben, dass der Betroffene gar nicht anders zu Luft käme. Doch es kann vereinzelt durch das zaghafte Anstimmen eines Lautes unterbrochen werden. Zum Beispiel ein sonores »Hm«, ein simples bis vulgäres Räuspern oder auch ein barsches »Würden Sie bitte etwas leiser sein«, kann helfen. Selbstverständlich mit einem verschluckten Fragezeichen versehen.

Gerät man einmal in die Lage (Ulrich Seidls Œuvre eignet sich dafür ausgezeichnet) diese Typen zu beobachten, will man die eigenen Luftregungen nur noch peinlich beschämt verstecken, weshalb ich davon zutiefst abrate. Das kann einen so weit in den Wahnsinn treiben, dass man sich, bis man blau wird, kaum noch zu atmen traut. Von Filmgenuss kann dann natürlich keine Rede mehr sein. Es kommt erst der Notarzt, dann die Polizei, zu guter Letzt der Bestatter und der ganze Abend ist gelaufen. Glücklicherweise endet sowohl eine Einstellung als auch ein Film. Immer, ganz bestimmt. Man darf also wieder ausatmen – und aufatmen. Alles andere wäre albern und nicht auszuhalten.

Noch eine Woche Kinophantasie

In Österreich bleibt uns noch eine Woche, in der wir uns vorstellen können wie das Kino sein könnte. Dann wird es wieder mit seiner anstrengenden Gewöhnlichkeit, seiner lärmenden Beschränktheit über uns einbrechen. Es wird sich nichts verändert haben, schon gar nicht zum Guten. Die Filme werden keine anderen sein und trotzdem werden alle so tun, als wäre etwas Besonderes zurückgekehrt. Womöglich liegt darin auch ein Fünkchen Wahrheit. Aber trotzdem bleibt uns nur mehr eine Woche, von den Veränderungen zu träumen, die uns irgendwann versprochen wurden, die wir eigentlich selbst einleiten müssten.

Da das Kino seit jeher seinen eigenen Tod erfühlt, bleibt auch von der Dunkelheit der letzten Monate nichts Neues über. Vielleicht die Stille und die Flucht in andere Kanäle. Die Waren wurden billiger und lauter im Internet angeboten. Aber das ist schon lange so. Die eigentlichen Marktplätze blieben verweist und nur mit ihrer Phantasie zurück. Es ist auch eine Verblendung, keine Frage. Als hätte man das Kino beerdigt und alles vergessen, was es uns angetan hat. Von den Tränen der Angehörigen berührt, schweigen diejenigen am Grab, die es besser wüssten. Es wird nicht lange dauern und viele werden wieder begreifen, dass sie am Kinobetrieb nichts verloren haben. Das Bild des Kinogangs, das sich so stark in seiner Abwesenheit in uns aufbäumte, war nicht das, des Kinogangs vor der Pandemie; es war ein altes, bereits verlorenes Bild, womöglich aus unserer Kindheit oder früher, als es uns noch gar nicht gab.

Das Kino gehört jeder und jedem allein. Es ist dort, wo uns die Filme hinbringen und unsere Erinnerungen und alles, was wir uns vorstellen. Bestenfalls birgt ein geöffnetes Kino neue Erinnerungen und alte Filme. Ganz selten könnte auch ein neuer Film vorbeikommen, aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr hoch. Wenn es passiert, ist das ein Wunder. Wie im Kino.

Die Menschen, die wir so vermisst haben, werden um die Plätze streiten, sich anraunzen, wenn man ihnen die Sicht versperrt. Zwischendurch werden sie lächeln und lachen, sich erfreuen, aber auch das geht vorbei. Sie werden sich wieder anziehen, um einen Film zu sehen und die kleinen Rituale werden zurückkehren, die, die man erst wieder erlernen muss: die Zigarette vor dem Film, der in der Handfläche ruhende Kopf, die übereinandergeschlagenen Beine. Manche Rituale werden verpönt sein: das Schnäuzen zum Beispiel.

Also können wir noch eine Woche träumen, vielleicht eine der magischsten Wochen des Kinos. Eine Woche, in der wir nur die guten Gefühle mit dem Kino assoziieren, in der jeder Film, den wir noch nicht gesehen haben, unser Leben verändert. Eine Woche, in der wir gefordert und verzaubert werden. Wenn es dann mal losgegangen ist, können wir wieder schimpfen und darüber sprechen wie alles einmal besser war.

Das Schöne ist nur: wenn das Kino einmal läuft, dann ist es endlich jenen wieder egal, die sich sowieso nicht darum scheren. So kann man das Kino wenigstens genießen, wenn einem nicht die ganze Zeit zugeschrieen wird, wie wichtig es denn sei.

Der Sessel im Gartenbaukino

Gartenbaukino, innen / Detailaufnahme von gepolsterten Kino-Klappsesseln (Lucca Chmel / Robert Kotas, 1961) Quelle: ÖNB, Bildarchiv Austria, CHM 2338.

Man kennt ihn. Nach einer halben Stunde, also etwa nach Ende des ersten Aktes, macht er sich bemerkbar. Manchmal aber auch schon direkt nachdem man Platz genommen hat. Jedenfalls immer dann, wenn man es sich gerade richtig gemütlich machen will. Ein hölzerner oder vielleicht stählerner Balken drückt sich allmählich durch das Polster auf den Rücken, während gleichzeitig die Knie davor an die Rückwand des vorderen Stoßen. Das alles, nachdem der Kampf um die Armlehne befriedet wurde. Mit ein wenig Glück hat man freie Sicht. Meistens jedoch verdeckt ein Hinterkopf einen nicht unwesentlichen Teil des Bildes. Wenig später schafft es noch ein Nachzügler in den Saal. Missmutig erhebt sich eine Gruppe, von zehn Personen. Eine unruhige Mischung aus Peinlichkeit und Empörung macht sich breit. Doch bald sind die Wogen wieder besänftigt. Irgendwie gehört das ja auch dazu.

Das letzte Mal als ich das Vergnügen mit den Sesseln des Gartenbaukinos hatte, liegt schon ein paar Monate zurück. Ich sah mir den neuen Film von Hong Sang-soo, Domangchin yeoja während der Viennale an. Es war eine Spätvorstellung und ich hatte an diesem Tag gearbeitet, war also entsprechend müde. Dankbarer Weise ließen mich der Sessel nicht schlafen, vielleicht war es aber auch der Kaffee, den ich zuvor noch trank. Der Saal war nahezu leer, geradezu ausgebrannt. Er vermittelte den Eindruck, als hätte auch er unter den Strapazen des Festivals gelitten. Die vielen Menschen, die mir noch im Foyer entgegen strömten, hatten ihren Abdruck hinterlassen. Sang-soos Film endete im Kino. Es war ebenso leer, wenngleich steriler als das, in dem ich mich befand. Ein paar Tage später unterhielt ich mich mit Kollegen über den Film. Ich kam nicht umhin, mich über die Sitze zu beschweren. Lächelnd stimmte man mir zu.

Seitdem ist einiges geschehen. Die sterile, gähnende Leere aus Sang-soos Film hat gänzlich auf die Säle der Stadt umgegriffen. Der Angst, die die Kinolandschaft noch im Frühjahr 2020 erfüllte, ist einer Resignation gewichen. Es ist still geworden und die Zukunft ungewiss. Doch nicht für das Gartenbaukino. Ein paar Wochen nachdem die Kinos wieder schließen mussten, las ich eine Meldung, welche die Renovierung dieses altehrwürdigen Kinos ankündigte. Wie automatisch versuchte ich mich zu erinnern, wie es aussah, um dieses Bild für mich zu behalten. Ich hatte Sorge es nicht mehr wiederzuerkennen.

Ist es denn wirklich so schlimm um das Kino bestellt, dass das notwendig ist? Gibt es denn nichts wichtigeres für das Kino als eine Renovierung? Womöglich ist es doch notwendig. Auf Facebook startete vor einiger Zeit ein Aufruf nach Bildern der Sessel aus den 1960er Jahren. Nun ist März 2021 und von den siebenhundertsechsunddreißig Sesseln fehlt jede Spur.

Stattdessen öffnet das Haus seine Pforten für eine Pressekonferenz, welche die Planungsschritte der Sanierung vorstellt. Auf der Bühne stehen verloren ein paar Buchstaben der alten Leuchtreklame, dahinter mit Abstand Geschäftsführer Norman Shetler, die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, Staatssekretärin für Kunst und Kultur Andrea Mayer und der Architekt Manfred Wehdorn. Nach den obligatorischen Zahlen hat Wehdorn das Wort. Er schildert das Konzept der Sanierung. So wolle man das Kino wieder in den ursprünglichen Zustand der 1960er Jahre versetzen. Damals, als die Zeiten nach den ‚schlimmen Kriegsjahren‘ endlich wieder ‚gemütlicher‘ wurden. Jene ‚schlimmen Kriegsjahre‘, von denen auch in den persönlichen Annalen des Gartenbaukinos, zwischen „Einbau der Tonanlage“ 1930 und „Übernahme der Kino-Konzession durch die KIBA (Kinobetriebsanstalt Ges.m.b.H)“ 1947 jede Spur fehlt. Man will zurück zu dem Kino, das Robert Kota 1954 umgestaltete. Dieser Robert Kota, der an einigen Projekten ab 1933 von Carl Wittmann (baute Theaterinnenausstattungen für Propagandazwecke und erhielt nach Ende des Zweiten Weltkriegs Berufsverbot) mitwirkten. [1] Es soll schließlich alles werden, wie es einmal zu Zeiten von Robert Kota war – damals, in der guten alten Zeit. Alles soll wieder in dem festlichen Ambiente und Glamour erstrahlen. Und das alles bis zur kommenden Viennale – „Das geht nicht anders!“

Ziel sei es in erster Linie die Technik zu erneuern und die Räume zu restaurieren. Dieses Vorhaben am denkmalgeschützten Objekt soll so gewissermaßen ein Paradebeispiel für die Zukunftsfähigkeit des Kinos sein, gleichwohl haben nicht alle Wiener Kinos dieses Privileg. Aber sieht so die Zukunft des Kinos aus? Leider behält Lars Henrik Gass womöglich schneller recht, als uns lieb ist, wenn er fordert, dass man das Kino nur in die Zukunft retten kann, indem man es zum Museum erklärt. Aber muss die Zukunft des Kinos in der Vergangenheit liegen? Das Kino ausgerechnet in einer Zeit zurückzuführen, als es noch nicht um seinen gesellschaftlichen Stellenwert bangen musste, lässt einen gewissen Zynismus durchscheinen, der vor der Realität die Augen verschließt und sich in eine sorgenlose Vergangenheit flüchtet. Es heißt von Seiten Shetlers, es zähle der Komfort. Der Komfort, der leider zu gut nach Wien passt, wo Kino nur für die Privatangelegheit der eigenen nostalgischen Sehnsüchte dient, wo Moderne nicht gelebt wird, sondern fetischisiert wird. Mir scheint, bald schon soll der Film beginnen, bevor der Projektor überhaupt angeschaltet wurde. In eben dieser glorreichen besungenen Zeit der 1960er Jahre hielt Christian Metz in den Cahiers du Cinéma fest:

„Die Summe der Eindrücke teilt sich nach Henri Wallon bei der Projektion eines Filmes in zwei völlig voneinander getrennte Reihen, die ‚visuelle Reihe‘ (d.h. den Film, die Diegese) und die ‚propriozeptive Reihe‘, d.h. das Bewusstsein vom eigenen Körper – und damit das der realen Welt –, das nur noch eine schwache Rolle spielt (nämlich dann, wenn man sich in seinem Sessel bewegt, um eine bessere Lage zu finden)“[2]

Gerade jetzt vermisse ich diesen unbequemen Sessel, der auf den Rücken drückt und einem mitteilt, dass man immer noch in irgendeinem Kino sitzt. Wenn man Filme wieder „kollektiv“ schauen und vor allem im Kino „streiten“ will, wie es Andrea Mayer in Aussicht stellte, dann sind die neuen Sitze wohl kaum eine Hilfe dafür, es sei denn, sie meinte mit „streiten“ gemütlich plauschen oder lästern. Eher will man, eine „Bindung“ zum Publikum herstellen. Diese Bindung gibt es, soviel Spätmoderne darf sein, bei Startnext zu erkaufen, kostet 360€ und sichert einem eine Sesselpatenschaft, die darin besteht, seinen Namen mit einer Plakette für fünf Jahre an einen Kinosessel anzubringen. Dies wird stolz am Ende der Pressekonferenz verkündet. Danach flimmert über den ORF-Livestream von der Pressekonferenz die Projektion des Kampagnen-Teasers auf der riesigen Leinwand des Gartenbaukinos  – ein bisschen wie das Ende in Sang-soos Film. Wo einst vor ein paar Monaten die Wiener Unterwelt vergangener Tage zu sehen war, sieht man nun zusammengetrommelt die Größen des österreichischen Films, um dort mit ihren Erinnerungen für das Kino herzuhalten, als wären sie Zeitzeug_innen einer längst vergangenen Epoche. Ob „Gartenbau Forever“ ein glücklicher Slogan für den Aufbruch in die Zukunft ist, wage ich zu bezweifeln. Es bleibt am Ende doch alles, wie es war.

[1] https://www.gartenbaukino.at/das-kino/die-geschichte-des-kinos.html. Im Online-Geschichtslexikon der Stadt Wien finden sich leider auch nur spärlich Information. Die einzige Notiz über die ominösen Jahre, war „eine Gedächtnisfeier für den verewigten Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß“. (https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Gartenbaukino)

[2] Christian Metz, „Zum Realitätseindruck im Kino“ in Semiologie übers. v. Renate Koch, München, Fink 1972, S. 30. Orig.: „A propos de l’impression de réalité du cinéma“ in Cahiers du Cinéma, Paris, de l’Étoile. – Nr. 166-167, Mai-Juni 1965, S. 75-82.

Die Fliege auf dem Rezensenten

Es kommt selten vor, dass sogenannten Rezensenten etwas peinlich ist. Gewisse Strömungen innerhalb ihrer Branche brüsten sich gar damit, dass ihnen gar nichts peinlich ist, ihre Texte sprechen da für sich. Dabei gäbe es viel, was den Rezensenten peinlich sein könnte. Zum Beispiel könnten sie zu spät zu einer Pressevorführung im Kino kommen oder in einem Anflug von Leichtsinn das falsche Buch gelesen haben. Sie könnten einen unvorteilhaft gekleideten Zuschauer im Theater für einen Teil des Szenenbilds halten, während des Konzertes einnicken oder aufgrund intimster Assoziationen eine falsche Interpretation an den Tag legen, etwa dass es in Hemmingways Hills Like White Elephants um eine Brustvergrößerung geht und nicht um eine Abtreibung. Er hätte ja auch einfach schreiben können, um was es geht, sagen dann die überraschten Rezensenten.

Inzwischen sind solche Fehler jedoch weniger üblich, schließlich gibt es im Internet oft bereits Rezensionen, die die Rezensenten lesen können und die sogenannten Presseabteilungen schreiben schon ganze Texte für die müde Horde an Rezensenten, die von einer Rezension in die nächste geschleudert wird und an manchen Abenden gar nicht mehr weiß, was sie rezensiert hat und vor allem weshalb. Am Wichtigsten für die Rezensenten ist ohnedies ihre eigene Schlauheit, das heißt, sie schreiben seltener, um etwas über das Werk zu sagen, dass sie rezensieren, als um selbst schlau zu wirken (und wenn das nicht, so doch zumindest nicht dumm).

Vor einigen Jahren ist mir im Rahmen meiner Arbeit für ein kleines Tageblatt, bei dem ich eigentlich für den Sport zuständig war (ich war der einzige, der etwas für den Radsport übrig hatte und die Zeitung war Hauptsponsor eines größeren lokalen Feuerwehrradrennens) dennoch etwas Peinliches passiert. Der zuständige Rezensent für das Kino erkrankte kurzfristig und so wurde ich auserkoren mir den neuen Blockbuster von Christopher Nolan, Inception anzusehen und vor allem darüber zu schreiben. „Es wird darin allerhand geklettert und man fährt wohl auch Ski. Das ist doch was für Sie!“, meinte mein Chef, für den alle Mitarbeiter genau aus dem bestanden, über was sie schrieben. Ich war also ein Fahrrad mit ein paar Tennis- und Fußbällen am Lenker und ich stand irgendwo im Keller, sodass er nicht zu oft an mich erinnert wurde.

Trotzdem wollte ich dem guten Mann, der kurz darauf einem Herzinfarkt erlag nicht widersprechen, ja eigentlich fand ich sogar Gefallen an der Idee, mich in einem dunklen Saal von Bildern und Tönen berieseln (in diesem Fall eher beschießen) zu lassen, um dann ein paar mehr oder weniger schlaue Sätze zu schreiben. Der eigentlich zuständige Rezensent hatte mir sogar mit vor Husten röchelnder Stimme durch das Telefon eine kleine Einführung in das Werk dieses Nolan gegeben und ich fühlte mich bereit, meine erste Rezension zu verfassen. Ein wenig besorgte mich zwar, dass ich nur 30 Minuten nach dem Abpfiff des Films bei einem Eishockeyspiel außerhalb der Stadt sein musste, aber ein wenig Sport, so dachte ich, könne mir nicht schaden, selbst wenn es nur ein Sprint zum Auto wäre.

Im Kino sah ich dann viele verschiedene Rezensenten (vor allem Männer, die ohne Unterlass über das Kino sprachen bis der Film begann und sobald dieser endete wieder mit dem Sprechen begannen), die sich mit Kugelschreibern und Notizblöcken und Wurstsemmeln und Kaffeetassen und ihren Regenschirmen und Bananen im Kino ausbreiteten. Auch ich zückte meinen Notizblock, auf dem ich sonst Statistiken festhielt, die ich bei Sportveranstaltungen aufschnappte, zum Beispiel „das letzte Mal, dass wir in einem Spiel dreimal die Latte trafen, gab es noch gar keine Latte.“. Als die Lichter im Kinosaal ausgingen, wurde mir klar, dass ich meinen Notizblock gar nicht würde sehen können. Ich spähte zu meiner Seite und sah, dass manche der Rezensenten mit leuchtenden Kugelschreibern ausgerüstet waren, was mich etwas zum Schmunzeln brachte, ich weiß nicht genau weshalb.

Ich packte den Notizblock also zurück in meine Tasche, aber das ist nicht das, was mir peinlich ist an dieser Geschichte. Denn wenige Minuten nachdem der Film begonnen hatte, hörte ich durch den Lärm des Films das laute Summen einer überdimensional großen Fliege, die schnurstracks auf meiner Nase landete und keine Anstalten machte sich von dort wegzubewegen. Zunächst wischte ich mit der gewohnten Geste des genervten Ärgers, die wir in solchen Situationen alle an den Tag legen, die Fliege beiseite, aber sie sprang nur über meine Hand und landete wieder auf meiner Nase. Es ist kein angenehmes Gefühl eine Fliege auf der Nase sitzen zu haben, schon gar nicht, wenn man sich eigentlich auf etwas anderes konzentrieren sollte.

Ich schlug also mit etwas mehr Nachdruck, aber wieder entwischte mir das Insekt, um seine kühlen Beinchen direkt über meinem Nasenloch zu platzieren. Ich war verdutzt, so etwas war mir noch nie passiert. Für einige Zeit wiederholte ich meine Schläge und versuchte dabei angestrengt das Geschehen auf der Leinwand im Blick zu behalten, was mir aufgrund der komplizierten Handlung, die sich wohl auf verschiedenen Zeitebenen bewegte, nicht ganz leicht fiel. An der Fliege irritierte mich besonders, dass sie entspannt und müde schien, wenn sie auf mir saß, also eigentlich eine leichte Beute sein müsste, aber sich sobald ich mich ihr näherte mit jugendlichem Geschick aus jeder noch so brenzligen Lage befreite. Ich veränderte mehrfach meine Sitzposition und mein dauerndes Herumgefuchtel heimste mir einige Psssts aus der näheren Umgebung ein. Ich versank in meinem Sitz und war der Verzweiflung nahe. Im Film schien immer noch erklärt zu werden, um was es eigentlich gehe, aber davon bekam ich nur wenig mit.

Ich entschied mich den Saal zu verlassen, um das Problem im Foyer oder wenn es sein musste auf der Toilette in Ruhe zu lösen. Ich stand also zur Empörung jener Rezensenten, die hinter mir saßen auf und verließ den Saal, wobei ich gekonnt, wenn auch von niemanden bemerkt, so tat, als müsste ich nur kurz und aus den üblichen Gründen austreten. Aber sobald ich den Saal verlassen hatte, war von der Fliege keine Spur mehr. Pures Glück! Ich war sie los. Ich verharrte einige Augenblicke im leeren Foyer, um keinen Verdacht bei den anderen Rezensenten auszulösen und schritt schließlich gelöst und nicht ohne jene Erleichterung vorzuspielen, die uns nach Entleerung der Blase durchaus eigen ist, zurück zu meinem Sitz. Aber just in dem Augenblick, in dem ich mich setzte, war sie wieder da und landete ohne zu zögern auf meiner Nase. Verzweiflung!

Nachdem ich wieder versuchte die Fliege mit einigen reduzierten Bewegungen (um die anderen Rezensenten nicht wieder gegen mich aufzuhetzen) loszuwerden, versuchte ich eine Zeit lang sie zu ignorieren und mich auf den Film zu konzentrieren. Aber sobald mir das halbwegs gelang (so gut man sich eben auf einen Film konzentrieren kann, wenn eine zu große Fliege auf der eigenen Nase sitzt), bewegte sich die Fliege leicht und kitzelte mich. Ich musste niesen und auch dafür erntete ich einige scharfe Blicke, die ich in der Dunkelheit des Kinos glücklicherweise nicht sehen musste. Da erinnerte ich mich meiner Wasserflasche. Vorsichtig griff ich in meine Tasche und zog unter doch zu lautem Plastikknacken meine Flasche hervor, öffnete sie erstaunlich leise, legte meinen Kopf zurück und schüttete den gesamten Inhalt in mein Gesicht. Das müsste doch genug sein, um einer solche Fliege ein Trauma zu verpassen. Dachte ich. Aber die Fliege blieb einfach sitzen, ja, ich war mir sogar sicher, dass ich fühlen konnte wie sie begann zu trinken oder mich abzuschlecken wie eine durstige Katze.

„Können Sie das bitte unterlassen? Sie stören.“, hörte ich plötzlich eine Stimme ganz nah an meinem Ohr. Eine ältere Dame, deren Augen mich an eine Fliege erinnerten, hatte sich neben meinen Sitz begeben, um mit strengen, herablassenden Ton das zu adressieren, was der ganze Saal denken musste. Ich nickte nass. Die Dame zog sich zurück zu ihrem Platz, wo sie herzhaft in einen Croissant biss und ich verblieb wie erstarrt, die Fliege auf meiner Nase, die Augen mehr in Richtung Decke als Leinwand und gelegentlich tropfte Wasser von meiner Schläfe hinab auf den von Popcornresten übersäten Boden.

Es ging mir so manches durch den Kopf. Zum Beispiel dachte ich an Ludwig Wittgenstein, der die Aufgabe der Philosophie einmal darin sah, einer Fliege beizubringen wie sie aus einer Flasche entkommen könne. Ich war mir nicht sicher, wer zwischen mir und der Fliege die Fliege war und wer die Flasche. Eine Zeit lang versuchte ich das Tier mit meinen Händen zu fangen, um es in meiner geschlossenen Faust gefangen zu halten, um wenigsten noch etwas vom Film mitzubekommen, der inzwischen schon eine vierte oder fünfte Zeitebene eröffnete. Aber das Biest entkam mir immer wieder und kroch triumphierend zwischen meinen Fingern hervor. Ich pustete so gut ich konnte mit vorgeschobener Unterlippe nach oben, um meine Nase einem nie gekannten Sturm aus Puste auszusetzen, aber nichtmal die Flügelpaare des Insekts flatterten. Aus meiner Verzweiflung schälte sich langsam eine Wut. Ich schlug etwas fester nach dem Tier, aber das Ergebnis war immer das Gleiche.

Jetzt bemerkte ich immerhin, dass wie angekündigt Ski zum Einsatz kamen und das schneeweiße Licht auf der Leinwand erhellte das Auditorium und ermöglichte mir für einige Momente schielend, einen Blick auf die Fliege zu erhaschen. Ihre Augen waren giftgrün und spöttisch. Sie sah mir direkt in die Pupillen und ich konnte erkennen, dass sie es ernst meinte. Sogleich verdunkelte sich der Saal wieder und ich wollte keine Sekunde mehr verstreichen lassen. Mit voller Wucht schlug ich mir ins Gesicht, verpasste die Fliege denkbar knapp und hörte nur mehr ein Knicken (mein Nasenbein).

Für einige Sekunden war ich ausgeknockt, zumindest kam es mir so vor als ich plötzlich einen sich drehenden Kreisel auf der Leinwand sah und dann den Abspann. Meine Nase schmerzte höllisch, von der Fliege keine Spur. Zu meinem Glück begannen die Rezensenten schon während des Abspanns ihre Urteile laut von sich zu geben. Sie erzählten sich die Handlung nach, spielten sie sogar vor und ich hatte so ein recht umfassendes Bild des Films und einen ganzen Sack voller Adjektive noch bevor der Abspann endete. Ich erinnerte mich an das anstehende Eishockeyspiel, packte meine leere Flasche zurück in die Tasche und rannte blutend und nass aus dem Kino. In der Redaktion erzählte ich den ob meines demolierten Gesichts eher amüsierten als verstörten Kollegen am folgenden Tag, dass mir ein Puck vom Spielfeld auf die Tribüne ins Gesicht geflogen wäre beim Eishockey, was alle zufrieden stimmte, ja sogar beglückte.

Die Rezension musste ich trotzdem schreiben, was mir mit Hilfe der Erzählungen der anderen Rezensenten, einer ausufernden Pressemappe und diverser bereits existierender Rezensionen im Internet problemlos gelang, ja, anscheinend sogar so gut, dass mein Text es auf die erste Seite des Feuilletons schaffte (eine Seite, die in unseren Breitengraden manchmal gar nicht existiert) und ich fortan ins Kino geschickt wurde, um zu rezensieren. Die Geburt eines Rezensenten, sozusagen. Die Fliege habe ich nie wieder gesehen und etwas ähnliches ist mir seither nicht passiert, aber bis heute habe ich immer Insektenspray bei mir, wenn ich etwas rezensiere.

Das Kino verlassen

Was ihm am Kino gefiel: sich zu verwandeln, mit jedem neuen Film zu verlieren und neu zu finden, nie derselbe bleiben zu müssen, sich von einer Welt in die nächste zu hangeln, zu fliehen. Es war so einfach sich zu transportieren, ganz ohne Risiko, immer weiter, immer weiter bis er nicht mehr wusste, wer er selbst war. Es gefiel ihm, dass das Kino so viele Versprechen vor sich her trug. Nicht wie Bücher, die geheimnisvoll erscheinen, sondern ganz verführerisch, prahlend beinahe, überdeutlich in den Zeiten, Orten, Stimmungen, in denen sie in ihm existieren konnten. Egal wohin er blickte, sah er mehr. Es kam ihm vor, als würde ihm das Kino eine Welt zeigen, die andere nie sehen würden; Welten sogar. Es brachte ihn näher an das, was er als Realität wahrnehmen wollte, verriet ihm die Tragödien und Komödien, die erst später in seinem Leben kommen würden, warnte ihn, machte ihm Angst, ermutigte ihn und erhob sich wie eine Wolke in ihm, die sich von sich selbst löst und abregnet. Mit jedem neuen Film eröffneten sich hunderte weitere Filme, die man sehen konnte, mehr und mehr wurde das Sehen von Filmen zur Suche nach dem Ungewöhnlichen, Außerordentlichen, dem nächsten Fix. Er wehrte sich gegen die innere Abstumpfung, euphorisch klammerte er sich an das, was ihm wichtig war. Gleichzeitig aber konnte er nie lernen zu vergessen; Bilder krabbelten durch seine Augen wie Bakterien. Inzwischen hatte er längst verdrängt, warum er ins Kino ging. Er ging nur mehr. Wollte alles mit dem Kino machen, es durchdringen, damit ihm keine dort versteckte Emotion entging. Jede Emotion könnte die seine sein. Er redete sich um Kopf und Kragen, wenn es um das Kino ging, immer wollte er alle überzeugen vom Kino, von der Schönheit und vor allem davon, dass er das alles gesehen und somit erlebt hatte. Mit einer riesengroßen Brille betrachtete er jeden Grashalm des Kinos, er beobachtete auch die sogenannte echte Welt durch diese Brille. Zunächst schien ihm alles größer zu sein, stärker und wundervoller, aber nach und nach störte ihn die Brille, sie war ihm eine Last. Er wollte lieber blind mit seinen Augen im Gras verschwinden als jeden Zentimeter zu sehen; er wollte die Augen schließen, vielleicht war es das. Schon seit geraumer Zeit hatte er aufgehört vom Kino zu träumen, er träumte nur mehr von seiner Rolle im Kino. Er schrieb Listen auf, um sich zu merken, was ihm wichtig war. Jetzt würde er alles vergessen, ein Feuer legen über seine Erinnerung und einen Film so sehen wie beim ersten Mal: groß und undurchdringbar, seltsam und bewirkend, dass man sich selbst vergisst. Doch heute konnte er sich nicht mehr vergessen im Kino. Er sah sich selbst beim Sehen zu, die Gedanken kreisten schon beim ersten Bild. Was man wohl dazu schreiben könnte? Was das wohl mit irgendeinem anderen Film zu tun habe? Wie man so einen ganz ähnlichen Film machen könnte? Die Filme existierten nicht mehr für ihn. Er schmeckte nur noch das Schauen, nicht mehr die Filme. Er beobachtete die anderen, die ins Kino gingen. Er beschwerte sich, dass ihnen alles daran egal wäre, er sah ihre Ignoranz, er hatte längst die Kraft verloren, die er brauchte, um sie zu überzeugen, eine Kraft, die er nie hatte. Sie waren glücklich, dachte er. Jeder Film ein neuer Selbstzweck. Alle mit denen er einmal berauscht über das Kino sprechen konnte, schwiegen nur mehr, jeder schien in seiner eigenen Endlosschleife gefangen, die einen in jener, die keine Zeit mehr findet für Filme, die anderen in jener, die zu individuell, zu willkürlich, zu zynisch, zu allwissend geworden war. Das Kino ist eine Illusion, sie gibt den Eindruck, dass man darin leben kann, dass man alles sehen kann. In was hatte er sich verwandelt? Er wusste weder das, noch wer er selbst war unter all den Traumfabriksfäden, gespannt um seinen Körper wie eine Fliege im Spinnennetz, kurz vor ihrem zuckenden Tod. Also begann er zu fliehen, das Kino zu verlassen. Er stürzte sich ins Meer, in die Wellen, hörte Musik so laut, dass die Filme in seinem Kopf wie Gehörzellen starben, er wanderte auf einem einsamen Berg aus Eis, spürte die Erde unter sich, ein Kuss, der nicht nach restaurierten Filmen roch, er weinte bitterlich und würgte die verblassenden Versprechen des Kinos aus sich heraus; er wollte allein sein, nicht mehr sprechen, etwas über Steine lernen oder die Kochkunst, am besten keine Kunst, nur mehr durch die Nacht wandern wie der schlaflose Charles Dickens, auf den Treppen schlafen, wieder aufwachen in einem Schloss, er wollte schreien und weinen, aber all diese Dinge, zumal in dieser Abfolge, hatte er nur im Kino gelernt und sie waren auch nur dort möglich. Er hatte verlernt, einfach nur zu sein.

Also ging er aus dem Kino eines Tages. Er warf seine Brille in den Mülleimer, torkelte beinahe blind durch die Stadt, die ihm so laut und gefährlich nahe erschien. Fand sich wieder in einem Wald, der nach Feuchtigkeit roch und nach Stille. Er legte sich auf den Boden, sah nur schemenhaft die teilnahmslosen Wipfel der Bäume und dann sah er nichts mehr, so war das nämlich, er hörte auf zu sehen, zu hören, zu reden, zu schreiben; er verschwand und versuchte mit aller Kraft in sich selbst zu ruhen, einen Abwesenheit zu finden, die ihm erlauben würde, wieder von Neuem die Augen zu öffnen, ohne dieses vom Kino provozierte Gefühl, dass man alles schon gesehen hat; ganz junge Augen, ganz kalte Luft, die zum ersten Mal entlang der Lider streicht.

Sie suchten ihn tagelang. Dann gaben sie auf. Man sagt, dass er jetzt in den Bäumen lebt oder sich gar in einen Baum verwandelt hat.

Im Dachboden vergessen. Trotzdem mitgenommen.

8mm-Filmstreifen

Vor kurzem half ich mit Freude einem Freund bei der Erschließung eines jahrelang unentdeckt gebliebenen Dachbodens in seinem Haus. Solche seltenen Vorstöße ins Ungewisse sind wirklich empfehlenswert, was vor allem daran liegt, dass sie die vielen Möglichkeiten eines Lebens ganz greifbar bewusst machen anstatt sie, wie meist, als anhaltendes Bedauern im Hinterkopf einer Existenz zu bewahren. Von dort klopfen sie bekanntermaßen an und münden von Zeit zu Zeit in das Verzagen einer Unmöglichkeit.

In diesem Dachboden aber, der sich tatsächlich als kleine Schatztruhe entpuppte, war alles möglich bevor wir die gerade einmal kniehohe Türe, die zu ihm führt, öffneten. Alles hätte in sich zusammenfallen können, mein Puls stieg merklich, vielleicht würden wir die Lösung für sämtliche Probleme finden, einen Jungbrunnen, Geheimnisse, Landkarten, verloren geglaubte Schriften oder einen Batzen Geld. Es erinnerte mich ein wenig daran, dass Filme für mich auch dieses Versprechen mit sich trugen, im Kinosaal, wenn die Lichter ausgingen und man daran glauben konnte, dass was man sah, eine Welt war. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum mir dieses Gefühl mit dem Kino und auch im Leben ferner und ferner scheint. Es scheint geradezu so, als würden die Erfahrungen, die man mit den Dingen macht, zu einer Abstumpfung führen. Anders kann ich mir bis heute die geschmacklichen Extravaganzen mancher Kinoliebhaber nicht erklären, die tausende Filme gesehen haben und folglich nach besonders raren, außerordentlich frivolen Kicks suchen. Die normale Dosis wirkt nicht mehr. Man weiß, wie es ausgeht.

Mein Vater, der ein Mann beständigen Humors ist, wenn auch von jener deutschen Sorte, die ein Augenzwinkern braucht, damit man Bemerkungen wirklich als humoristisch versteht, hat an Sonnabenden vor dem TV-Film sitzend immer wieder gesagt: „Habe ich schon gesehen.“ Was mir lange Zeit vorkam wie ein Scherz, der seinen Reiz aus seiner beständigen Wiederholung gewann, erschien mir nach und nach wie unfreiwillige Kulturkritik. Oder gar eine Ermüdung im Angesicht der fehlenden Dachböden. Diese Bemerkungen haben ihn übrigens nie dazu veranlasst, nicht doch weiter zu schauen, um am Ende eines Films beiläufig zu bemerken, dass er gewusst habe wie es ausgehen würde. Dass er auch ein passionierter Fußballschauer ist, erscheint mir in diesem Licht beinahe noch bizarrer. Denn nur die Naiven unter den Fußballanhängern glauben, dass man Ergebnisse nicht vorhersehen kann, dass man nie wisse, was passieren würde.

In Wahrheit ist es immer dasselbe und wahrscheinlich liegt genau darin auch das Potenzial zur Verführung der Massen. Wie bei Restaurantketten sieht das Fußballfeld, egal ob im Stadion, im Fernsehgerät oder auf dem Platz, immer gleich aus. Es fühlt sich immer gleich an. Wenn dann einmal in zwanzig Jahren eine Überraschung geschieht oder gar etwas Verrücktes, dann sagen sie: Das ist Fußball. Als wäre es das Wesen dieses von allerhand Mächten gelenkten Sports zu überraschen. Unter dem Deckmantel dieser Unvorhersehbarkeit feiern die Besitzer des Geldes Triumph um Triumph. Wenn es dann mal zu einer Überraschung kommt, geben sie mehr Geld aus, um die Überraschungen auszuschließen. Noch viel schlimmer erging es mir als Jugendlicher, als ich Fußballvideospiele zu meinen Beschäftigungen zählte. Insbesondere in Spielen gegen computergenerierte Gegner hatte ich das Gefühl, dass das Spiel bereits vorher entschieden hat, ob ich gewinne oder verliere. Selbstredend hinderte mich diese Wahrnehmung nicht daran, der gegebenen Ungerechtigkeit und Willkür dieses Systems mit den größtmöglichen Gefühlen zu begegnen. Ich schrie, ich jubelte und zertrümmerte Gegenstände. Sie sagen, es wäre nur ein Spiel. Der Staat hat entschieden, er manipuliert, der Bürger spielt und kauft weiter. Es war eine Simulation. Vielleicht hätte ich die Verpackung lesen sollen.

Als wir auf allen Vieren kriechend den Dachboden betraten, war das anders. Natürlich war streng genommen auch dort in diesem Moment nicht alles möglich. Es gab Menschen, die vorher in diesem Haus lebten. Sie führten ein bestimmtes Leben, sammelten Objekte an, hatten dieses oder jenes Geheimnis, vergasen und erinnerten sich, bewahrten und warfen weg. Basierend auf weitgehenden Nachforschungen zu den Bewohnern des Hauses hätte man vermutlich einen Großteil der dort gefundenen Gegenstände vor dem Betreten des Dachbodens erahnen können. Nur wählten wir nicht nur notgedrungen den umgekehrten Weg, sondern auch weil es viel spannender ist, aus den Gegenständen auf die Menschen zu schließen. Im Kino geht es mir da ganz ähnlich. Ich folge lieber einer Bewegung, aus der ich einen Menschen oder Ort kennenlerne, als einen Menschen zu kennen und diesem dann in Bewegungen zu folgen. Dieser Rest, der bleibt, an Erkenntnissen, die ich nie gewinnen kann, macht für mich eine Begegnung aus. Sei es mit einem Film, einer Person oder einem Objekt. Im Fall meines Freundes gab es keinen wirklichen Kontakt zu den vorherigen Besitzern. Es ist eigentlich so, dass er nur deshalb dort leben darf, weil er im Rahmen einer Ausschreibung gewonnen hat, sich für drei Jahre um Haus und Garten, die beide Eigentum des örtlichen Kulturverbandes sind, zu kümmern.

In einem Dachboden warten oft Dinge, die sich im Schwebezustand zwischen ihrem Verschwinden und ihrer Bewahrung befinden. Objekte, die man verstaut. Man braucht sie eigentlich nicht, aber glaubt, dass man sie vielleicht eines Tages verwenden könnte. Oder es hängt einfach das Herz daran. Manche verdanken ihr Überleben dagegen einfach dem Vergessen. Man weiß gar nicht mehr, dass man etwas besitzt und genau deshalb wird es nicht entsorgt. Es scheint mir plötzlich sehr gut ins Bild zu passen, dass mein Vater Unbrauchbares mit rasender Geschwindigkeit entsorgt. Er besitzt keinen Dachboden. Zusammen mit meiner Mutter lebt er aber in einem. Man darf seine Eltern nicht in einem Dachboden bewahren. Wenn sie es freiwillig tun, darf man zumindest nicht vergessen, dass es den Dachboden gibt. In manchen Dachböden gibt es mehr als Erinnerungen und Stauraum.

Wir fanden allerhand, und da viele Gegenstände doch eine empfindliche Privatheit sprengen, von der ich zumindest aus solcher Nähe nicht berichten will, beschränke ich mich auf zwei, von denen einer auch der Grund ist, warum ich diesen Text an einer filmbasierten Adresse veröffentliche. Der eine Gegenstand war ein Koffer, in dem sich ein altes Tonabspielgerät und einige dazugehörige Tonträger befanden. Darauf aufgenommen fanden wir Chorgesang, es ist uns noch nicht ganz klar, woher dieser stammt und warum er aufgezeichnet wurde, aber all das klingt ganz wunderbar und harrt weiterer Forschung. Was mich allerdings sofort bewegte, war weniger die Tatsache, dass wir Stimmen aus einer vergangenen Zeit hörten, sondern dass sich jemand die Mühe machte, diese aufzuzeichnen.

In der intensiver werdenden Beschäftigung mit Formen des Heimkinos wird gerne das Argument eines kollektiven Gedächtnis gebraucht. Man sieht das Leben aus Sicht von Bürgern mit Kameras. Darüber gewinnt man Erkenntnisse über die Menschen und die Welt, in der sie lebten. Noch sehr wenig wird, so weit ich das überblicken kann, über jene schwarzen Flecken nachgedacht, die man nicht aus diesen Filmen erschließen kann. Gierig stürzt man sich stattdessen auf alles, was einem klar wird. Offen bleibt wie so oft, was unklar bleibt. Konfrontiert mit diesen Tonaufnahmen, die ich für durchaus vergleichbar mit einer 8mm-Filmrolle halte, faszinierte mich viel weniger das, was ich möglicherweise über den Chor, die Musik und die Aufnahmen würde herausfinden können, sondern was mir von Anfang an völlig unerreichbar schien. Also etwa die physische Anwesenheit von Aufnahmegerät und Stimmen im selben Raum. Die Unsicherheit darüber, ob man alles richtig eingestellt hat, nicht zu leise, nicht zu laut, jemand, den man mit den Aufnahmen beeindrucken wollte, der Moment, in dem man das Interesse daran verlor und sie in den Dachboden stellte.

Der andere Gegenstand war eine kleine, in einer staubigen Schachtel zwischen Einkaufszetteln und abgeschriebenen Gedichten aufbewahrte Notiz, die man als eine Form von tagebuchartiger Filmkritik auffassen könnte, die mir aber so noch nie begegnet ist. Berichtet wird in verschnörkelter Schrift von einem Filmerlebnis im Haus der Tante:

Wir waren bei Tante Hilde. Es gab Essen und dann einen Film. Niemand wollte ihn sehen. Der Film war schön. Ich kenne seinen Namen nicht. Ich glaube, dass ich ihn vergesse. Es gab einen Maler und eine Frau. Sie haben mir Angst gemacht, weil sie nie gelächelt haben. Papa sagt, dass der Schauspieler nicht wirklich malen konnte und dass man das gesehen hat. In seinem Gesicht habe ich aber gesehen, dass er malen kann. Es gab nicht viele Farben. Ich muss Mama fragen wie der Film heißt. Wenn ich mir den Namen nicht merke, vergesse ich auch alle Bilder. Es gab eines mit einem weißen Kleid, das sich in einem Baum verfing. Und einmal waren die Fingerkuppen des Mannes ganz rot und blutig, was vom Malen kommt. Es gab auch ein Meer. Ich weiß nicht, welches Meer. Ich glaube, dass der Film mehr im Norden spielt. Es wird viel gesprochen, das meiste habe ich vergessen. Es wird immer schlechter mit meiner Erinnerung. Das Aufschreiben macht auch nicht Spaß. Ich kann zu wenig schreiben, wenn ich keine Bilder mehr sehe. Papa sagt, dass es mir hilft. Es langweilt mich aber.

Jetzt, nachdem ich diese Fundstücke so beschrieben und wiedergegeben habe, scheint es mir zu wenig. Vielleicht, weil das was wir erwarten immer mehr ist, als das, was wir erzählen können. Weil die eigentliche Erzählung in dem liegt, was ich vergessen habe aufzuschreiben, während ich schrieb. Ich habe ein Foto der kleinen Notiz gemacht. Ich kann mich nicht entscheiden, ob es besser wäre, es dem Text beizulegen oder nicht. Ob ich die Evidenz betonen will oder die Möglichkeit einer Fiktion.