I‘m not: Angel von Ernst Lubitsch

Hinter den Türen, vor den Türen, ein Lächeln, eine Träne: Ich bin Angel, ich bin nicht Angel. Ernst Lubitsch praktiziert in seinem Angel ein derart konsequentes Aufrechthalten von Fassaden, von Scheinwelten, das man manchmal ins Zweifeln gerät, obwohl man die Wahrheit eigentlich kennt. Man hat gesehen, was passiert ist, aber trotzdem wird einem glaubwürdig ins Gesicht gelogen. Es ist in diesem Sinn ein unheimlich vielschichtiges Hinterfragen der Evidenz von Bildern oder anders: Eine Aufforderung genau hinzusehen.

Marlene Dietrich als Angel/Maria Barker/Mrs Brown, sie beginnt so, dass sie auch uns täuscht: Auf der Flucht, in Paris, für ein Abenteuer in einem Von Stroheim-Salon, hohe Gesellschaft, dann geht sie durch eine dieser Lubitsch Türen, die alles verstecken und alles entblößen und sie trifft ihn: Melvyn Douglas, Lubitsch sieht ihn gerne in Paris. Es ist im Salon einer russischen Fürstin, eine Meisterin der Fassaden, Lubitsch fährt vorbei an Fenstern, denen wir nicht trauen können, es sind zu viele, gestellte Höflichkeit und Hochkultur als Fassade für eine Partnerbörse: Das Abenteuer in Paris, eine unverhoffte, unschuldige Begegnung als Arrangement. Einige Szenen zärtlicher Harmonie, Nähe, Hoffnung, der Beginn einer Geschichte. Ihr Ende? Eine Illusion. Angel öffnet sich nicht und sie erntet, was man dafür erntet: Liebe. Mit Douglas ist sie immer links im Bild. Später mit ihrem Ehegatten wechselt sie oft nach rechts.

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Es geht zurück nach London, obwohl wir dort noch nicht waren. Angel verschwindet aus Paris. Sie bleibt unerreichbar. Die Blumen, die Douglas ihr schenken wollte, liegen auf dem Boden im Park. Die Verkäuferin sammelt sie wieder ein und richtet sie fein säuberlich neben die anderen Blumen in ihrer Kiste. Spuren werden verwischt. Nichts ist passiert. Man verkauft die gleichen Blumen an andere Liebende. Angel, die niemals mehr Angel sein darf, lebt die perfekte Ehe. man muss blinzeln, um sich zu erinnern, was man am Beginn des Films gesehen hat. Einmal sagt Angel: „When the beginning is so beautiful, I wonder if the end matters“. Die Fassade könnte das Ende sein oder der Anfang. Wir werden es bis zum Ende nicht wissen und wir werden es auch nach dem Ende nicht wissen. Auch ihre Ehe mit Sir Frederick (Herbert Marshall) kennt einige Fassaden. Die Fassade der Öffentlichkeit: Meisterlich vollführt in der Oper, Würde, Lächeln, ein Bekannter sagt, dass sie das ideale Ehepaar wären. Sir Frederick versteckt sämtliche Gefühle zu Gunsten des Scheins einer Liebe. Er lächelt sie weg. Alles an ihm versteckt. Eine zweite Fassade in der Erinnerung an Österreich. Eine Nacht im Hotel, ein Dialog, vielleicht der wahre Augenblick einer Liebe. Aber Sir Frederick kämpft gegen das Vergessen. Er geht durch Türen, er schließt sie hinter sich und erwartet Anrufe. Lubitsch verharrt immer wieder für eine Sekunde auf diesen Türen. Er zeigt uns drei Dinge:

1. Die Fassade selbst: Die Überzeugung im Gesicht von Angel, das sichere Lächeln einer gestellten Zärtlichkeit, die man mit echter Zärtlichkeit verwechseln kann.

2. Den Blick hinter die Fassade. Kurzes Aufflackern eines wahren Lichts. Angel beugt sich in einem Moment der Nähe zu ihrem Mann. Aber dieser steht auf und widmet sich den Geschäften. Später in einer der grandiosen Szenen der Filmgeschichte ein Blick in die Küche. Es kam was kommen musste: Melvyn Douglas, dem man sich nur mit seinem Schauspielernamen nähern kann, ist nach London gekommen. Er isst mit dem Ehepaar. Die Fassade bleibt zunächst aufrecht, doch in die Küche kommen die Teller zurück. Angel und Douglas haben ihren nicht angerührt. Das Personal fragt sich, ob etwas mit dem Fleisch nicht stimmt. Doch der von Sir Frederick ist leer. Im Appetit und seinem Fehlen offenbart sich was nötig ist, um die Fassade aufrecht zu erhalten.

3. Das Medium der Fassade: Türen. Die Figuren gehen hindurch, sie schließen die Türen. Die Perfektion dieser öffentlichen Intimität wird durch die Beiläufigkeit dieser Türen unterstrichen. Und doch existieren sie. Am Ende öffnet sich eine Tür, ein neues Abenteuer oder folgt sogleich der Gegenschnitt und die Tür schließt sich?

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Douglas konfrontiert nach dem Essen Angel. Sie leugnet, dass sie Angel ist. Ich bin nicht Angel, sagt sie. Er akzeptiert ihr Spiel. Er hält die Fassade. Sie halten sie beide vor Sir Frederick. Doch sobald dieser durch die Tür verschwindet, bricht die Fassade zusammen.  Früher im Film empfängt die Fürstin einen Anruf während Angel mit ihr im Zimmer ist. Sie will den Anruf zunächst abwimmeln, aber Angel bietet ihr an, das Zimmer zu verlassen. Die Fürstin sagt: „You‘re so understanding“, und würdigt damit den Respekt vor der Tür. Die Tür hat allerdings zwei Seiten und Lubitsch schneidet sogleich auf die andere Seite. Dort, wo das Abenteuer beginnt. Erhält die Tür eine Privatsphäre oder verschleiert sie eine Wahrheit? Wenn Douglas Angel ansprichst und sie vor ihm leugnet, dass sie Angel ist, leugnet sie es nicht wirklich. Sie sagt ihm: Es ist eine Fassade. Akzeptiere sie.

Schließlich erfährt Sir Frederick vom Paris-Besuch seiner Frau. Er lässt sich nichts anmerken und setzt sich in den Salon der Fürstin. Doch diese ist die Meisterin der Fassade. Er dringt nicht zu ihr hindurch, sie lässt sich nichts anmerken. Das kann man sehen in diesem Film: Ehe heißt sich nichts anmerken zu lassen, Fassaden funktionieren in der Gleichgültigkeit einer Reaktion. Wenn die Fassaden durchbrochen werden, dann nie in einem Drama, sondern den Regeln der Fassade folgend: Höflichkeit. Angel tritt in den Raum zu ihrem Mann: Eine Überraschung sei es, dass man sich hier treffen würde. Sir Frederick konfrontiert sie mit der Wahrheit. Angel sagt, dass sie nicht Angel sei. Sie würden sich nur sehr ähnlich sehen. Sie bietet ihrem Mann ein Spiel an, das er eigentlich bereits die ganze Zeit gespielt hat. Er könne durch die Tür gehen, um sich zu überzeugen, dass sie es sei oder nicht sei. Dann würde sie ihn verlassen. Oder er könne ihr glauben und mit dieser Unsicherheit leben. Eine Unsicherheit, die sich vielleicht in eine Liebe verwandeln würde, die in dieser Ehe nur mehr als Erinnerung existiert. Sir Frederick geht durch die Tür.

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Aber so wie man die Blumen verschiedenen Liebenden schenken kann, kehrt er zurück durch die Tür und nimmt Angel mit in die Erinnerung, nach Österreich, eine Reise, die dahin führt, wo Angel wohl die ganze Zeit hinwollte. Es könnte aber auch sein, dass sie nur eine Fassade aufrechterhält, die eigentlich gar nicht mehr vorhanden ist. Dann wird es wirklich grausam. Die Verabschiedung von Douglas liegt wie ein Versprechen im Off. Ich bin Angel, ich bin nicht Angel. Der verspielteste Gefängnisfilm aller Zeiten.

Heute keine Projektion: Von Sternberg/Angels

A Childhood Memory

„Eine der Damen, die Abstecher in meine Straße unternahmen, hieß Suleika, die fliegende Jungfrau. Ich weiß nicht, wie sie zu diesem Namen kam. Sie war Ungarin, keine Türkin, außerdem blond, hatte keine sichtbaren Flügel, und niemand wusste, wie es ihr gelang, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren.“ (Josef von Sternberg)

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Only Prostitutes Have Wings

Lilja 4 ever

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Sleeps with Angels

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Los Angeles

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I heard an Angel singing

When the day was springing,

‚Mercy, Pity, Peace

Is the world’s release.‘

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Liebe im Kino

In Anlehnung an einen Text von Tuli Kupferberg (Love in the Movies) in Film Culture No.25, Summer 1962.

Dieser Text soll sich nicht mit dem unergründlichen Thema der Liebe und ihrer kinematographischen Darstellung befassen, sondern mit der Liebe vor der Leinwand. Dem Kuss in der letzten Reihe, der heimlichen Berührung am Oberschenkel und dieser endlosen Sehnsucht, die sich in einem rührt, wenn man die Einsamkeit der Kinobilder vor sich schwimmen sieht, während man seinen eigenen Körper nicht mehr spüren kann.

Aber Cinephile sind einsam. Sie sind blass und können nicht sprechen. Hans Hurch hat gesagt: „Cinephilie ist eine Krankheit.“ Leichen der Umnachtung, sozial unfähige Trinker und Träumer…wie wollen wir von Liebe im Kino sprechen? Sprechen wir von der Einsamkeit des Cinephilen. Das Problem: Ein Kuss während eines Films ist ein Verbrechen. Geht man als Cinephiler mit einem Partner oder einer Person des Begehrens ins Kino steht man wie zwischen zwei Lieben. Man muss eine betrügen. Dort die Unendlichkeit von Bildern und Tönen, die sich wie die aufregendste Fremdheit in der Heimat anfühlt und in uns all die Sehnsüchte und das Begehren einer potenzierten Liebe verdichtet einflößt. Und hier die, in der Reflektion dieser Sehnsucht erstrahlenden Augen einer anderen Unendlichkeit, in die man mit weitaus weniger Sicherheit eintauchen möchte, die eine andere Sinnlichkeit und Körperlichkeit offenbart, eine hinter der man nicht unsichtbar bleiben kann, eine die verpflichtet und zur Handlung verführt. Ein unlösbares Problem. Ist das nicht so? Bevorzugt man das eine, verletzt man das andere. Nein, gibt man dem einen nur eine Sekunde, stiehlt man dem anderen alles. Man fragt sich, warum nicht beides gleichzeitig geht und denkt an die verstohlenen Blicke zur Leinwand in The Last Picture Show (ein Film von einem krankhaft cinephilen Casanova) oder das Entdecken einer Liebe im Kinosaal von Antoine Doinel (in einem Kurzfilm von einem besessen-cinephilen Casanova).

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Doch trägt diese Dunkelheit überhaupt noch ein Versprechen in sich? Das Kino als Rückzugsort für Jugendliche ist heute Vergangenheit. Ein Kuss in der Dunkelheit ist heute kaum mehr Zauber, er ist eher Schüchternheit. Wer würde schon noch davon sprechen, dass man einen Ort für Intimität und Dunkelheit sucht? Doch dann betritt eine junge Frau den Kinosaal, sie gibt sich große Mühe, um die geheimnisvolle Aura der Leinwand zu übertreffen, sie kommt immer kurz bevor es losgeht, damit alle sie sehen können, sie kommt immer alleine, sie ist abwesend und doch verspielt, sie dreht sich durch die Eingangstür, als würde in jeder Sekunde ein Scheinwerfer auf ihr erblühen, sie ist Marlene Dietrich in Morocco (von einem Mann, der vielleicht verstanden hat, wie man diese zwei Lieben vereinen kann), sie ist die Fahrt wie ein Wind auf Gene Tierney in Heaven Can Wait, sie dreht sich in das Kino, jemand flüstert zu sich selbst: „Sie sieht aus wie Sylvia Sidney,“ sie ist ein Pick-Up Artist, mit ihren traurigen Augen, die einladend lächeln… machen wir uns nichts vor: der von Augenringen des Leids umnebelte Junge in schwarz, der immer auf dem selben Platz in der zweiten Reihe sitzt und auffällig häufig mit dem Finger über seine Lippen streicht und auf jeden Fall so aussieht, als wäre ihm alles egal, ist auch ein Pick-Up Artist, Cinephile sind Pick-Up Artisten der Einsamkeit, sie bemerken kaum, dass sie nie jemanden berühren, aber dafür in den Träumen der blickenden Doinels und Bogdanovichs landen bis diese ihnen die wichtigste Frage nach einem Film stellen: „Ich fand One Hour with You ja besser als The Marriage Circle. Was meinst du?“

Kann man sich auf den Film konzentrieren, wenn man verliebt ist? Vielleicht haben Verliebte gar nichts im Kino verloren, obwohl Filme für sie gemacht sind. Das Kino ist ein Betrug, eine Lüge, die Wahrheit in 48fps. Eigentlich ist es anders. Cinephile haben diese Regungen nicht. Sie sind kalt und zu neurotisch für Liebe. Sie sind krank, ungepflegt und es ist ihnen egal. Sie tragen nur mehr ihre Sinne in den Kinosaal, der das Grab und die Blüte ihres Lebens in einem Licht ist. Oder sie kennen keine Proportionen. Weil sie in den Filmen leben, ist ihnen nichts im echten Leben gut oder geheimnisvoll genug. Sie erstarren und warten auf eine Nahauaufnahme. Es müssen sich zwei Cinephile finden, damit sie es nicht merken. Das stimmt nicht. Das Kino kann einen zur Liebe bringen.

Carax

Godard hat eine Seelenverwandte gesucht, um Filme mit ihr zu drehen und er hat Hunderte gefunden. Heute gibt es nur noch den verstohlenen Blick. Carax hat gesagt, dass für ihn das schönste im Kino der gefilmte Nacken einer Frau wäre. Was passiert, wenn er im Kino sitzt und ein Nacken auf der Leinwand erscheint, während die Frau vor ihm sitzend, vielleicht weil sie gerne in seinen Filmen spielen würde, vielleicht einfach so, sanft über den eigenen Nacken streicht. Wohin schaut Carax? Wer spaziert mit uns nach den Filmen durch die Nacht? Wollen wir nicht alleine sein, alleine mit den Erinnerungen an den Film? Suchen wir jemanden, der mit uns über den Film spricht? Nein, wir wollen entweder schweigen oder unendlich reden. Es gibt sie/es gab sie. Paare, die sich und das Kino lieben. Tarantino hat einmal gesagt, dass er, wenn er eine Frau kennenlernt, ihr zunächst Rio Bravo zeigen würde: „And she better fucking like it.“ Es ist klar, dass die Liebe im Kino davon beflügelt wird, dass man dasselbe liebt. Eine Art Menage à Trois zwischen den Augen zweier Liebenden und der Leinwand. Das funktioniert im Bezug zu den Bildern selbst besser, als wenn es um einzelne Personen auf der Leinwand geht. Die Liebe zum Kino kann besser geteilt werden als die Liebe zu Grégoire Colin.

Es gibt noch ein weiteres Problem mit der Liebe im Kino. Filme geben einem Zuseher einen Wissensvorsprung. Wer Filme von Garrel gesehen hat, kann sich nicht einfach blind in eine Liebe stürzen. Das Kino bereitet uns auf den Schmerz vor. Das ist natürlich kein Grund ihn nicht erleben zu wollen, aber wir sind gewarnt. Nur zu ihrem Glück sind Cinephile auch naiv. Sie suchen diesen Schmerz und finden ihn bereits in der Traurigkeit eines Blicks. Sie nehmen ihre Liebe mit in einen Garell-Film, sie tragen sie weiter in ihrem Herzen und danach wirkt ihr „Ich liebe dich“ wie eine Lüge. Wie im Zug bei Les Rendez-vous d’Anna von Chantal Akerman fliegt an uns die Welt und ihre Geschichte vorbei während wir uns in einem Flirt verlieren, den wir nicht haben wollen. Wir berühren, aber fühlen nichts, weil in uns noch die Tränen des letzten Films versickern. Wie soll man im Kino damit umgehen, dass Liebe blind macht? Renoir hat gesagt, dass Kino eine private Kunst sei, er meinte damit unter anderem, dass das Kino ganz direkt zu einem persönlich sprechen würde, wie ein Sänger, der einem in die Augen sieht, wenn er keine Kraft mehr hat. Nein, das ist kein Statement gegen die Liebe im Kino, es ist ein Statement dafür. Zu wenige stehen auf und küssen die Leinwand.

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Wie weit darf man gehen mit der Liebe im Kino, fragt Kupferberg 1962. Im selben Jahr dreht Antonioni L’eclisse, einen Film über das Ende der Liebe. Klar ist, dass es unterschiedliche Regeln gibt im Kino. Haben wir jemals geklärt, ob das Kino ein Ort der Freiheit oder der Disziplin ist? Man wird schließlich eingesperrt, aber dieses Eingesperrtsein fühlt sich an wie Freiheit. Wenn man sich küsst in dieser Gefangenschaft löst sich womöglich die Freiheit auf. Lieber blicken wir, begehren wir und stellen uns vor. Dann nach dem Kino halten wir unsere Hände, aber sie halten meist zitternd Zigaretten. Wir versuchen uns Dinge zu sagen wie wir sie im Kino gehört haben, aber sie klingen gekünstelt, wir lieben uns so wie im Kino und merken nicht, dass wir nur eine Projektion lieben. Was wir eigentlich lernen müssen, ist dass Liebe das Kino mit einschließt. Es gibt einen Drang, der sich für manche wie eine Krankheit anfühlt, für andere wie eine Lust und wenn man diesem Drang folgt, dann liebt man. Er führt direkt an die Lippen des Kinos, in die Zärtlichkeit von Augen, die das Kino sehen, in eine gemeinsame Flucht vor der Welt und in die geöffneten Arme einer weißen Leinwand, die man spürt, wenn man alleine ist und wenn man gemeinsam ist. Das Kino war immer ein Ort für Liebe, nicht nur weil man sich dort in der letzten Reihe geküsst hat, sondern weil dort Wahrnehmungskanäle in einem geöffnet wurden, die neben den Schmerzen, der Intelligenz, der Politik und der Wut auch von der ganzen Zärtlichkeit und Liebe der Menschheit durchzogen waren. Das ist aber nur ein Traum. Der Cinephile ist einsam voller Liebe.

Rainer on the Road: Museum für Film und Fernsehen

Marlene Dietrich Schrein

Prolog

Seit Frühjahr dieses Jahres wird das Wiener Kulturangebot durch ein Literaturmuseum ergänzt. Untergebracht ist es standesgemäß im Grillparzerhaus, dem ehemaligen Hofkammerarchiv, also der langjährigen Arbeitsstätte des österreichischen Nationaldichters in unmittelbarer Nähe zum Metro-Kino. Da ich am Aprilwochenende der Eröffnung rund zwei Stunden in der Innenstadt totzuschlagen hatte, der Besuch zum Auftakt kostenlos war und ich mir wenig darunter vorstellen konnte, wie man Literatur museal aufbereiten könnte, sah ich mir die Sache mal an. Es stellte sich heraus, dass die Kuratoren meine Phantasielosigkeit teilten. Zwar entpuppte sich der Rundgang als beeindruckender historischer Parcours durch die jüngere österreichische Geschichte, aber darüber hinaus wurde mein Verständnis von Literatur durch die Masse an ausgestellten Manuskripten, Briefen und Urkunden nicht sonderlich bereichert. Es scheint, die verstaubt, schummrige Atmosphäre des Standorts hat auf die Gestaltung der Ausstellung abgefärbt: der Rundgang ist öd, lieblos und viel zu oberflächlich. Das Museum ist gefühlsmäßig dazu konzipiert Deutschlehrern das Langweilen ihrer Schulklassen zu erleichtern. Dementsprechend fehlt die kritische Distanz zu Literatur und Politik, fehlen die Verknüpfungen zwischen Kunst und Gesellschaft, die vielerorts angedeutet werden. Man begnügt sich mit einer mäßig kontextualisierten Flut an Schaukästen, die mehr oder weniger interessante Fundstücke präsentieren, die sich über die Jahre in der Nationalbibliothek zusammengesammelt haben.

Filmhaus Berlin

Berlin, August 2015. Déjà-vu.

Ein Besuch im Museum für Film und Fernsehen am Potsdamer Platz führt unwillkürlich zu einem Zurückerinnern, an diesen Samstagvormittag im April. Das Filmhaus, ein modernes Gebäude am Potsdamer Platz, wirkt imposant – ein prächtiger, moderner Palast einzig und allein dem Bewegbild gewidmet. In den Obergeschossen sind die Studenten der dffb untergebracht, darunter die Büros der Deutschen Kinemathek und des Berlinale Forums, sowie im Kellergeschoss die beiden Kinosäle des Arsenals. Die Ausstellung selbst, die im September 2000 eröffnet wurde, speist sich aus den ergiebigen Sammlungen der Deutschen Kinemathek – würde man sich alles, was es hier an Ton- und Bildaufnahmen zu entdecken gibt zu Gemüte führen, dann könnte man wohl mehrere Nachmittage im Museum verbringen. Nur: Warum sollte man das? Die Deutsche Kinemathek als Forschungszentrum und Archiv ist eine großartige Institution, umso krasser der Schock, wenn man sich mit der Aufmachung der permanenten Ausstellung konfrontiert sieht. Diese lässt leider weniger auf ein kuratorisches Gesamtkonzept, als auf eitle Gefallsucht und profitorientierte Touristenabfertigung schließen. Zugegeben sind die ersten Schritte in die Ausstellung atemberaubend, eine Art Spiegelkabinett mit Videomonitoren, doch schon bald müssen sie lieblosen Schaukästen weichen. Skizzen, Verträge, Manuskripte und Briefe sind hier aneinandergereiht, dazwischen wird die deutsche (bzw. Berliner) Filmgeschichte im Eiltempo abgehandelt. Man schmückt sich mit den großen Namen jener, die ihren weltweiten Ruhm der amerikanischen Filmindustrie zu verdanken haben. Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Ernst Lubitsch, Marlene Dietrich sind die Helden und Idole der Vergangenheit, denen gehuldigt wird. Es ist eine regelrechte Fetischisierung dieser internationalen Größen aus besseren Tagen, denen ganze Ausstellungsräume als pervertierte Devotionalienschreine gewidmet sind. Billigster Populismus ist das, unkritisch und nicht einmal besonders gut recherchiert (Plakatives Beispiel: als bedeutender Regisseur des „Proletarischen Kinos“ der Zwischenkriegszeit wird Phil Jutzi angeführt – ohne darauf hinzuweisen, dass derselbe wenige Jahre danach seine Parteimitgliedschaft wechselte und fortan Propagandafilme für Goebbels drehte). So spannend der Prozess der Kanonbildung auch ist, von einem Museum dieser Größenordnung darf man sich doch mehr Tiefgang und historische Präzision erwarten. Es wird ein Bild der deutschen (bzw. Weimarer) Filmindustrie beschrieben, das aus heutiger Sicht schlicht nicht haltbar ist. Hollywood wird als Antipode dargestellt, als Mekka des Kommerzes, während in Berlin zur gleichen Zeit jene künstlerisch wertvollen Filme gedreht wurden, die heute als Klassiker gelten. Diese Sicht ist nur erklärbar, durch die fehlende Tiefe der Aufbereitung, denn das neben den Langs und Murnaus auch in den deutschen Filmstudios industrielle Massenware à la Hollywood im Akkord gefertigt wurde, ist kein filmhistorisches Geheimnis. Doch die Fetischisierung und Nostalgisierung nimmt noch kein Ende. Ähnlich verzerrt werden die Protagonisten des Neuen Deutschen Kinos vereinnahmt und zu Rebellen verklärt. Kaum ein Wort zu den spannenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die in der Nachkriegszeit in der kulturellen Explosion der unzufriedenen jungen Generation gipfelte.

Auf einer anderen Ebene kann man sich fragen, ob es überhaupt Sinn macht, Film und Filmgeschichte so zu präsentieren. Die Nähe zum Material ist nicht gegeben, sofern man vom Material als den Filmen selbst ausgeht. In anderen Kunstmuseen werden mir doch auch keine Originalpinsel oder Auktionsberichte präsentiert, sondern die Werke selbst. Alles in allem, könnte man nun zur Verteidigung vorbringen, geht es hier ohnehin mehr um Kinokultur, Filmindustrie und eine sehr verkürzte und deshalb problematische Präsentation einer sehr verengten Sicht auf die Filmgeschichte. Daraus folgt eine sehr zwiespältige Programmatik, denn das propagierte Genietum der großen deutschen Meisterregisseure lässt sich nur schwer mit der arbeitsteiligen, industriellen Fertigung von Filmen, wie sie nebenan glorifiziert wird, in Einklang bringen. Das ist alles sehr schade, denn ohne Zweifel haben Film, Kino und die Sammlung der Deutsche Kinemathek mehr zu bieten. So jedoch, ist es sinnvoller seine Zeit drei Stockwerke tiefer im Arsenal Kino zu verbringen.