Nahe Ferne: Mythos und Mystik im Kino bei Music von Angela Schanelec

Auftreten: Manchmal geht man ins Kino und denkt sich nicht viel dabei. Ein andermal vielleicht, weil man gerade sehr viel nachdenkt und vergessen will. Oder aber auch, weil man nicht weiterkommt und dringend eine Antwort benötigt. Wahrscheinlich kann ein Film all das hergeben, aber am Ende auch nur unter der Bedingung, das Gezeigte wieder zurückzunehmen und vergessen zu lassen. Demgegenüber haben womöglich Angela Schanelecs Filme deshalb eine so unwirkliche Bedeutung, weil sie die Sehnsucht, die das Kino verspricht einzulösen, auf Distanz halten. Nicht weil Bilder oder Worte im Kino automatisch darauf hindrängen würden, leicht verträgliche Antworten nach den Bedürfnissen des Publikums zu vergeben, sondern eher, weil die Menschen, für die sich Schanelec interessiert, zwischen Hoffnungsschimmer und Schicksalsergebenheit zerrissen sind. So bewegen sich ihre Figuren durch urbane und rurale Landschaften, als zöge sie etwas Unbestimmtes an. Kaum setzen sie einen Fuß auf den Boden, erfahren sie durch ihr Eigengewicht von der Schwerkraft ihres Tuns. Willkür oder Wahlfreiheit scheinen kaum zu existieren, stattdessen überwiegen Stetigkeit und Komplexität. Bei Schanelecs Filmen handelt es sich um konsequente Filme im doppelten Sinne. Tugendhaft bescheiden sie sich auf wenige filmische Mittel, doch anstatt zu verstummen, dringt eine Stimme hervor, die tonangebend nach dem »Weil« in der Welt mit dem Blick des Kinos fragt.

Setzen: Schanelecs Film Music führt diesen eingeschlagenen Weg weiter und verengt ihn durch außergewöhnliche Präzision. Der Film beginnt mit einer Gewitterwolke, die grollend über einen Bergrücken zieht. Wenig später wird ein Kind gefunden. Als wäre nur ein Augenblick vergangen, folgt der Film dem erwachsen gewordenen Waisenkind Jon. Ein Unfall, ein Selbstmord und ein erneuter Unfall reihen sich aneinander, dazwischen zärtliche Blicke im Gefängnis. Während Jon seine Strafe für das Unglück absitzt, lernt er die Aufseherin Iro kennen. Sie kommen sich näher. Doch Iro wird herausfinden, dass sie sich schon vor ihrer Liebe zueinander nah standen. Nachdem sich Iro dessen klar wird und sich ihr Leben nimmt, findet sich der Film in Berlin wieder. Zwar müssen Jahre vergangen sein, aber die Vergangenheit scheint immer noch an Jon zu haften. Das Geschehen des Films löst sich in einzelnen, kraftvollen, monolithischen Bildern auf. Meistens sind es Hände oder Füße, die vom Blick der Kamera umschlossen, nicht nur dem Eigensinn des Films folgen, sondern auf etwas darüber hinaus liegendes verweisen. Fugenhaft zersprengt fügen sie sich aber trotzdem frei von effekthaschendem Erzählen zu einem Ganzen zusammen. Nimmt man beim Sehen die Perspektive ein, gleichzeitig nach vorn und zurückblicken zu können, ließe sich erkennen, wie jedes Bild aus dem anderen hervorgeht. Wie vom fließenden Wasser getragen, führt ein Bild des wunden Kinderfußes, zum wunden Fuß des erwachsenen Jon am Meer, hin zum wunden Fuß in der Gefängnisdusche. Schanelec entwirft so eine großangelegte Bewegung, die detailversessen in jedem Blick die Richtung aufsucht, ausweist und jener unhintergehbar folgt.

Binden: Mit dem Gewitter, den Unfällen und dem Aufeinandertreffen zweier Menschen, die sich nicht kennen, obwohl sie einander nicht fremd sind, geht Music vom Zufall aus. Doch anstatt sich über das Eintreten der unerwarteten Möglichkeit zu wundern, erkennt der Film die Ereignisse nur nüchtern an. Vielleicht macht sich der Film gerade dadurch die Unabwendbarkeit des Geschehens stoisch bewusst. Dass sich Schanelec am Ödipus-Mythos bedient, indem sie unverkennbare Motive und Figuren in ätiologischer Weise, aufgreift, wie etwa Jons wunden Fuß, macht den Film aufschlussreich, aber nicht unbedingt einleuchtend. Insofern muss der Film vielleicht eher als eine Meditation verstanden werden, deren Inhalt sich nicht nur auf antike, sondern ebenso christlich-abendländische Mystik bezieht. Beides verbindet sich in der Suche nach dem Auskommen mit einer zugeführten Wunde. Sie lässt sich verbinden, doch ihre Ursache kann dadurch nicht verschwinden. Was Schein und was wirklich ist, gerät allerdings zunehmend durcheinander. So sitzt Jon auf einer Berliner Polizeiwache, als er plötzlich blitzartig von einer Erkenntnis getroffen wird. Worauf seine Eingebung zielt, lässt sich nicht versprachlichen. Ob es sich um einer Vision oder eine Einsicht handelt, wird der Film nicht beantworten, weil es das Kino nicht beantworten kann. Schanelecs Kino eröffnet hierbei konzentriert den unverstellten Blick auf die eigenen Wunden, die sich einerseits unmittelbar auf der Haut, und andererseits weit in der Vergangenheit befinden. Dass sich die Ursache der Wunden nicht restlos verstehen lässt, muss erst zur Bedingung werden, um mit ihnen leben zu können.

Sehen: Eine Sache lange zu betrachten, hat seine Tücken, denn irgendwann bildet man sich ein, die Dinge könnten zu einem sprechen. Oftmals verharren Schanelecs Einstellungen so, als würde ein Gedanke stehen bleiben, so wie man selbst manchmal mit starrem Blick innehält. Folgt man Ödipus ins Kino, müsste man jedoch mit dem zwanghaften Versuch, klarer sehen zu wollen, paradoxerweise erblinden. Das Kino kann aber nicht blind machen. Vielmehr verspricht es, sogar dann etwas sehen zu können, wenn es eigentlich nichts mehr zu sehen gibt. Wie in Schanelecs Bildern stellt sich so eine Aporie ein: Nach einem Bild zu suchen, das nichts zeigt, klingt absurd, und trotzdem ist diese Suche nicht zwecklos – Wenn wir die Augen verschließen, verdrehen oder uns abwenden. In diesem Fall sind es Momente, in denen die persönliche Verbindung zum Kino klarer wird. – Wenn wir etwas gesehen haben, was uns gefiel oder verärgerte, das aber niemand sonst bemerkte. Beim Kino handelt es sich zwar um einen Raum, der Platz für eigene Gedanken bietet, sie lassen sich aber dort nicht aufbewahren. So wie man seinen eigenen Kopf mitbringt, muss man auch denselben wieder mit nach Hause nehmen. In dieser Hinsicht mag die Vorstellung, vom Kino erleuchtet zu werden, indem man nur noch ganz Auge ist und seinen Kopf verliert, erleichternd und befreiend sein. Aber die Geschichte der Mystik lehrt, dass sich dieses Ziel allein mit größter Entsagung verwirklicht. Diese Absicht ließe sich Music vielleicht unterstellen. Der Mythos spricht dafür ebenso wie die Armut an Ornament. Doch dem Film schwebt dabei nichts unmittelbar Kosmisches oder Schicksalhaftes vor, denn genauso wenig, wie sich etwas aus dem Nichts für Jon ergab, führte er eine Änderung herbei. Der Film versucht vielmehr den Blick auf das »Weil« – die Verkettung des Geschehens – einzuüben, ohne gegen seinen Widerstand – die Willkür – anzuarbeiten. So verhält sich gerade die Musik im Film weder als klanglicher Teppich noch als Kontrapunkt. Vielmehr verleiht sie dem wortkargen Film seine Stimme, sie stößt ihn an. Vielleicht gibt sie ihm sogar sein Licht. Und wahrscheinlich wird erst mit dem Verklingen des letzten Bildes wirklich begreifbar, was die ganze Zeit zwar sichtbar war, aber sich nicht sehen ließ. Es gibt eine spürbare Parallele zwischen Film und Musik, in der Weise wie am Ende die Kamera in einer langen Parallelbewegung den singenden und tanzenden Menschen auf der anderen Seite des Flusses folgt.

Man könnte denken und hoffen, der Film würde eine greifbare Antwort bereithalten, worin diese Parallelität besteht. Dabei müsste man sie sich aber vielleicht gerade in der Uneindeutigkeit und Unschärfe einer nahen Ferne vorstellen: Was Parallelität bedeutet, lässt sich zwar einfach erklären, aber dass sich zwei Sachen wirklich nie treffen werden, weil sie immer gleich nah und fern sind, traut man sich nicht vorstellen. Gleichsam ermüdend ist es, immer nur zu benennen, was unsichtbar oder unerklärlich – kurz: abwesend – blieb. Film und Musik können helfen, sich daran anzunähern, aber auch nichts ungeschehen machen. Das wäre Hybris.

Altern und Spielberg widersprechen

It is only that youth is still able to believe
It will get away with anything, while age
Knows only too well that it has got away with nothing

(aus The Sea and the Mirror von W.H. Auden)

Ich möchte Steven Spielberg widersprechen. Das heißt, ich möchte ihm begegnen, entgegnen. Ich möchte etwas zu seinen mich nachhaltig störenden Filmen sagen, was nicht gesagt wurde oder etwas verneinen, widerlegen, anzweifeln, auflösen. Ich kann und möchte nicht, seine Bedeutung für das Kino hinterfragen. Ebensowenig soll sich das hier wie eine Kritik an seinem Schaffen lesen, dafür fehlen mir die Instrumente und die Laune. Vielmehr möchte ich über ihn verstehen, was mich am Kino stört. Sein neuer Film The Fabelmans bietet sich als perfektes Beispiel für diese Unternehmung an, schließlich liefert er eine selbstmythologisierende, irgendwie alles zusammenfassende Genese seiner durch die Filme schimmernden Persona, seiner überlappenden Vision eines Kinos und der durch das Kino verformten Welt. Wann immer hier also von The Fabelmans geschrieben wird, ist eigentlich und unbedingt das Werk Spielbergs an sich gemeint.

Ich kann mich noch genau erinnern, ich muss fünf Jahre alt gewesen sein, als ich den Namen Spielberg zum ersten Mal bewusst hörte. Bei einem Abendessen im Nachbarhaus erzählten sich die allesamt älteren Kinder von weißen Haien und Dinosauriern und in meinem Kopf entstand neben manch furchterregender Phantasie ziemlich schnell eine Verbindung zwischen Namen und Beruf. Spielberg und Regisseur. Ein bisschen so wie Becker und Tennisspieler, Matthäus und Fußballspieler, Clinton und Präsident. Meine erste Begegnung mit einem Film Spielbergs habe ich vergessen, da muss ich ihm also gleich widersprechen, da er in The Fabelmans doch allzu dick aufgetragen von bestimmten Filmen erzählt, die ihn geprägt hätten. So ganz stimmt das natürlich nicht, denn auch ich hatte solche Erlebnisse im Kino. Die aber kann ich kaum mit weit aufgerissenen Augen und Lichtstrahlen verknüpfen. Vielmehr erlebte ich sie, zum Beispiel bei meiner ersten Begegnung mit Antoine Doinel ganz bei mir selbst, gar nicht so stark auf die Leinwand fixiert, sondern mehr von ihr durchdrungen, das, was sie zeigte, durch mich fließend erspürend. Ich entdeckte das Kino weniger im Kino als in dem, was von ihm in mir fortlebte. Für mich hängt das Altern an den geheimsten Momenten, dann, wenn ich alleine bei mir erahnte, dass es etwas gab, was ich nicht kannte.    

Spielberg aber zeigt Erkenntnisgewinn in penetrant lichtdurchfluteten Nahaufnahmen, er behauptet, dass man (ich, du, die Kamera und vor allem ein ominöses Wir) sieht und deshalb empfindet. Das war immer anders für mich. Gerade weil ich dem Sehen so viel Bedeutung beimesse und stets beigemessen habe, empfinde ich stärker in der Erblindung, dann also, wenn sich etwas über das Sehen stülpt, sei es eine Berührung, ein Geräusch oder ein körperliches Erinnern (die leichten Zuckungen, mit denen ich einschlafe, der Phantomschmerz, der sich gegen das innere Vergessen sträubt, ein plötzlicher, verlorengeglaubter Geruch, der mich am Leben hält). Wenn je etwas in mir gereift ist, dann geschah dies in der Dunkelheit, eben dort, wo mich niemand sehen konnte, am wenigstens ich selbst, in einem Zustand entblößter Intimität, geborgener Vertrautheit, mich umgebender Sicherheit. In diese Dunkelheit, die es bei Spielberg schlicht nicht gibt, weil er alles ausschließt, was sich nicht erzählen lässt, zerre ich bis heute meine Ängste und Begehren. Diese Dunkelheit ist paradoxerweise das Kino für mich. Ich weiß aber nicht, ob das so widersprüchlich ist. Es spielt auch keine Rolle, es führt nur letztlich dazu, dass mir die Formen des Erinnerns, des Konstruierens eines Lebens in The Fabelmans unerträglich falsch vorkommen, ein bisschen so, als hätte Proust geschrieben: Ich sah den Sandteig und alles war klar. Spielberg filmt immer nur die Blüten und behauptet, dass sie Samen wären. Warum? Wahrscheinlich weil die Blüten den größeren gemeinsamen Nenner erzeugen, sie lösen die Emotion aus, die er einfangen will, während die Samen viel zu unberechenbar und ehrlich wären für dieses Kino der Gefühlskontrolle. 

Nun mag man mir entgegnen (ich kann mir keinen Dialog mit Spielberg vorstellen, weil ich tief in mir überzeugt bin, dass ihm das alles egal ist), dass dieser Mann nun mal filmt und wenn man filmt, dann geht es ums Sichtbare und dann kann ich nicht erwarten, dass er das filmt, was man nicht sieht. Das ist wiederum mir egal. Mal abgesehen davon, dass ich glaube, dass es Filme über das Heranwachsen gab, die diese Dunkelheit erahnt haben (zum Beispiel von Maurice Pialat), behaupte ich im Gegensatz zu diesem Regisseur keineswegs, dass meine Form des Älterwerdens kollektive Gültigkeit hat; ich bin nicht dazu in der Lage und ich bin nicht dazu bereit, mich selbst so sehr zu entleeren, dass andere sich auf mich, in mich projizieren sollen. Diese Form der Projektion (in diesem Wort werden jene, die Spielberg zusprechen, die gewünschte Doppeldeutigkeit finden) beseelt beziehungsweise pervertiert jede Sekunde in The Fabelmans, einem Film, der angeblich aus Kindheit und Jugend seines Machers berichtet, während man dazu eingeladen wird, in jedem Bild sich selbst zu entdecken. Man blickt in den großen, alles überblendenden Spiegel der westlichen Mittelklasse. Die daraus folgende Rührung ist lediglich narzisstische Flucht in überladene und schlichtweg falsche Bedeutungen von Familie, Mutter, Vater, erste Liebe, die auch deshalb so anwidernd effektiv arbeiten, weil diese limitierte, auf eine bestimmte Bildungsschicht zielende Art des Fühlens längst den Ereignissen vorausgeht. Wie ich bereits erwähnte, kannte ich Spielberg bevor ich mich in eine Klassenkameradin verliebte und bevor ich mich ins Meer wagte. Sein larger than life Kino erzeugt Erwartungen an das eigene Leben. Bis zur Verwechslung. Spielberg würde mir, so denke ich, ohne mit der Wimper zu zucken, sagen, was es bedeutet, meinen Vater zu lieben. Aber er kennt meinen Vater nicht und das macht mich stutzig.

Das Älterwerden in The Fabelmans ist ein sentimentales Unterfangen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, auch wenn die im Film vorherrschende Sentimentalität eher der überhöhten Erinnerung an die Jugend, als dem tatsächlichen Durchleben selbiger geschuldet scheint. Das Sentimentale, Glorreiche, Überwältigende der Jugend äußert sich auch nicht stilistisch, wie das zum Beispiel in den Kindheitserinnerungen von Danilo Kiš geschieht, dafür ist Spielberg viel zu industriell, brav. Er behauptet (und viele folgen ihm), dass man in diesem industriellen, von bekannten Grammatiken beherrschten System persönlich erzählen kann. Das muss man sich erstmal trauen. Aber seis drum. Spielberg behauptet auch, dass man entlang einer nachträglich nachvollziehbaren Linie altert, dass sich das, was zählt, aufeinander schichtet und ergänzt, dass es einen Ariadnefaden gibt, entlang dessen man sich irgendwann zurück durch das eigene Leben bewegen kann. Eine Begegnung hier, ein Scheitern dort, ein Trauma, eine Erfahrung, ein Erfolg und schon ist man wer und kann davon erzählen. Mein Älterwerden dagegen bestach stets dadurch, dass das, was mir eben noch wichtig schien, kurz darauf bereits wieder vergessen war. Das ist auch heute noch so, schließlich werde ich noch immer älter und möchte mich auch weigern, je so alt zu werden, dass ich zurückblicke auf etwas, das ich als abgeschlossen erzählen möchte. Wenn ich unter Einfluss von unerwünschten Gefühlsregungen doch einen Blick zurückwerfe, dann empfinde ich meist Entfremdung. Meine Ich-Erzählungen lassen keine Fäden erkennen, sie verirren sich ununterbrochen, enden in Sackgassen und ja, es sind diese Sackgassen, in denen ich vielleicht etwas von mir erkenne. Eine Begegnung mit meinem jüngeren Ich würde nicht diese von Hollywood propagierte Lebensweisheit auslösen, sondern schlicht Irritation. Jedes Jahr ist letztlich eine Aneinanderreihung genuiner Fehler, die mich ein bisschen mehr verstehen lassen, dass ich nicht bin, wer ich glaubte zu sein. Es mag ein Bild geben, das dadurch entsteht, aber ich könnte dieses Bild nie selbst erzeugen, empfinde mich vielmehr im ständigen Widerspruch zu diesem Bild. Ich muss ständig Rollen aus meiner Vergangenheit spielen, die mir keineswegs entsprechen. Spielberg dagegen bedient sein eigenes Bild, er erschafft es gleich mit, weil er weiß, dass die Mythenbildung Teil der Filmwelt ist. Es lässt sich bestimmt auch besser leben, wenn man sich selbst narrativeren kann. Wer nun sagt, dass es nun mal zum Kino gehört, ein Leben in Plot-Points und derlei Stumpfsinn einzuteilen, hat nie Filme gesehen. Und irgendwann muss auch ernsthaft darüber diskutiert werden, dass Filme enden, das Älterwerden aber nicht. Es fällt auf, dass kaum ein Film je über die dust to dust Religiosität hinweggegangen ist, um wirklich zu zeigen, was passiert, wenn man immer weiter altert, selbst wenn man schon tot ist. Körper scheinen ohnehin nicht so wichtig für das Kino-Altern, zumindest bei Spielberg, bei dem nie wer müde wird oder lasch, bei dem es nie das Gefühl gibt, dass vor drei Jahren noch schmerzfrei war, was heute höllisch wehtut. Auch das ist vergeistigt, spirituelle Blicke in den hell strahlenden Himmel. Das wahre geistige Symptom des Alterns jedoch, das sich an sich selbst berauschende Selbstmitleid, spart er aus. Es ist zu wenig tröstlich für seine Art des Kinos. Er überlässt es den Zuschauern, die unterstützt von penetranter Musik weinen sollen. Diese Musik entspricht selten dem Raum des Geschehens, sie kommt aus dem Raum des Betrachtens. Spielberg zeigt wiederholt sein Alter Ego beim Setzen von Musik auf bereits existierende Bilder, man könnte es musikalische Untermalung nennen, nur dass die Bilder hier eher die Musik untermalen; hier verrät er sich, denn sein Erinnern ist nicht subjektiv, es sucht nach einem allgemeingültigen Effekt. Und was ist daran schlimm? Gar nichts, nur dass eben nichts gezeigt und gesagt wird. The Fabelmans ist reines Suggestivkino, eine leere Samthülle, in die sich jene (vor allem Männer) einkuscheln können, die ihren eigenen Bezug zur Kindheit verloren haben. Kind sind ohnehin alle geblieben, nur die Jugend verliert man zu schnell (auch dieser Satz lässt mich schneller altern). Es ist nicht wirklich traurig, dass sich die Eltern des jungen Fabelmans oder Spielbergs trennen, traurig ist, dass ein Gefühl der Geborgenheit nicht haltbar ist, und das haben letztlich alle schon, aber alle anders erlebt. Würde einer schreiben: Wir alle verlieren das Gefühl der Geborgenheit, würde man ihn als Schriftsteller kaum ernst nehmen. Im Kino dagegen scheint dieser Allgemeinplatz auszureichen, weil das Kino nur allzu gern die Wahrheit betrügt, für ein egal wie billiges Gefühl kollektiver Erinnerung.

Zum Spielberg-Mythos gehört beispielsweise, dass er als kleiner Junge gerne Züge kollidieren ließ und weil er das immer wiederholen wollte, zum Kino gekommen ist. Ist es nicht spannend, dass ein destruktiver, auf die reine Freude an der unvorhersehbaren, zerstörerischen Bewegung gerichteter Impuls zu einem Kino führte, das für sich beansprucht, alles fügen, in runde Formen gießen zu können? Was ist aus diesem Jungen geworden, der angeblich einen Zug in die Luft sprengen wollte für das Kino? Jemand, der glaubt rückwirkend alles zusammenfügen zu können, einer, der schwelgerisch lügt über das, was angeblich irgendwann alles Sinn ergibt, statt einfach weiter zu erkennen, dass das mit dem so innig geliebten Licht am schönsten ist, wenn es durch die Risse und Narben dringt. Einer, der klebt, statt sprengt. Spielbergs angeblich jüngeres Ich hat viel mehr über mein Älterwerden verstanden als dieser alte Mann, der darüber Filme macht. Am Ende steht dann auch in The Fabelmans eine Art offene Erkenntnis, etwas Erbauliches, mit dem man weiter altern kann. Ich muss nicht betonen, dass mir Derartiges noch nie widerfahren ist. Je älter ich werde, desto unabgeschlossener jede Erkenntnis. Jeder Abschluss führt nur zu weiteren Verästelungen. Kann man darüber nicht erzählen? Ist es so viel wichtiger, das Gegenteil zu behaupten? Für jede letzte Einstellung, in der wer auf einen wie auch immer kadrierten Horizont zusteuert, stirbt jemand, weil von rechts oder links zufällig genau dann ein Auto kommt. Es war John Ford, der in seinem Young Mr Lincoln verstanden hat, wie man eine solche, dem Horizont zugeneigte Schlusserkenntnis zeigen könnte: in einem Gewitter, in dem klar wird, dass das, was kommt, alles was war, wegwischen wird.

Fluss des Glücks – Tara von Volker Sattel und Francesca Bertin

Links und rechts der SS106, nahe der apulischen Stadt Taranto liegt ein Ort, der, würde man ihn auf einer Karte suchen, wahrscheinlich nicht zu finden wäre. Unwissend, als Fremder, nimmt man im Vorbeifahren von seiner Existenz wohl kaum Notiz. Volker Sattels und Francesca Bertins Film Tara handelt von diesem Ort. Es ist der gleichnamige Fluss, der unter dem Schilf hinter Olivenbäumen entspringt und wenig später ins Mittelmeer mündet. Aber wie bei einem mäandernden Flussdelta lässt sich nur schwer sagen, wo hier etwas anfängt und wieder aufhört. Sich topografisch an diesen Ort anzunähern, kann nur scheitern, denn seine Ausdehnung geht weit darüber hinaus. Das weiß auch die Kamera. Das Bild heftet sich an jene Menschen, die den Ort beleben. Der Film schwimmt mit ihnen, taucht hinab und zieht immer größere Kreise.

Was zunächst als idyllisches Kleinod entdeckt wird, zeigt sich zunehmend fragil. In Sichtweite befindet sich das ILVA-Stahlwerk, das im Verdacht steht, die umliegende Natur zu belasten. Umwelttechniker nehmen Proben am Gewässer. Der Film lässt sich von den Menschen und ihren Erzählungen mittragen. In dieser Weise ist er dem Verlauf des Flusses nicht unähnlich. Je mehr man sich allmählich von der mythischen Quelle entfernt, umso klarer, aber auch komplexer wird die Umgebung: Einerseits ist das Stahlwerk wichtigster Arbeitgeber der Region, andererseits ergreift es an der Umwelt durch aufgeschüttete Halden immer mehr Besitz. Der Film interessiert sich weniger an der veränderten Landschaft, als an den Menschen, die mit ihr leben. So folgt die Kamera keinem klaren Ziel oder Anliegen, sondern bewegt sich mit jeder Begegnung ein Stück weiter und passt sich der Umgebung an.

Am Ende kehrt der Film wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Der Mythos des Flusses Tara, den die Menschen dort hüten, als handele es sich um eine heilige Stätte, wo offenkundig Wunder geschehen sind, hat etwas von seinem schillernden Reiz eingebüßt. Stattdessen könnte man nun glauben, das beharrlich Mythische soll hier der Veränderung der Natur entgegengestellt werden, auch wenn es letztlich vergeblich bleibt. Tara, landläufig auch »Fluss des Glücks« genannt, ist das kleine Paradies einer Handvoll Glückseliger – mehr nicht. Aber wie viele wird es wohl davon geben? Zwangsläufig kommt man in Verlegenheit, etwas von dem, was hier sichtbar wird, auch im Kino zu suchen. Immer da, wo der Film sich realistisch wähnt, verwandelt er wenig später ins Poetische: Seetang im gebrochenen Sonnenlicht. Heranwachsende, die nicht ganz wissen, wohin mit sich. Ein Esel.

Den Dingen einen Namen zu geben, wie diesem unscheinbaren Fluss, lässt vielleicht verstehen, dass die Mythen nicht nur von den Menschen ersonnen werden, sondern auch zu ihnen gehören. Manchmal wird das im Kino vergessen. Weder Moderne noch Deindustrialisierung können darüber hinwegtäuschen.