Nahe Ferne: Mythos und Mystik im Kino bei Music von Angela Schanelec

Auftreten: Manchmal geht man ins Kino und denkt sich nicht viel dabei. Ein andermal vielleicht, weil man gerade sehr viel nachdenkt und vergessen will. Oder aber auch, weil man nicht weiterkommt und dringend eine Antwort benötigt. Wahrscheinlich kann ein Film all das hergeben, aber am Ende auch nur unter der Bedingung, das Gezeigte wieder zurückzunehmen und vergessen zu lassen. Demgegenüber haben womöglich Angela Schanelecs Filme deshalb eine so unwirkliche Bedeutung, weil sie die Sehnsucht, die das Kino verspricht einzulösen, auf Distanz halten. Nicht weil Bilder oder Worte im Kino automatisch darauf hindrängen würden, leicht verträgliche Antworten nach den Bedürfnissen des Publikums zu vergeben, sondern eher, weil die Menschen, für die sich Schanelec interessiert, zwischen Hoffnungsschimmer und Schicksalsergebenheit zerrissen sind. So bewegen sich ihre Figuren durch urbane und rurale Landschaften, als zöge sie etwas Unbestimmtes an. Kaum setzen sie einen Fuß auf den Boden, erfahren sie durch ihr Eigengewicht von der Schwerkraft ihres Tuns. Willkür oder Wahlfreiheit scheinen kaum zu existieren, stattdessen überwiegen Stetigkeit und Komplexität. Bei Schanelecs Filmen handelt es sich um konsequente Filme im doppelten Sinne. Tugendhaft bescheiden sie sich auf wenige filmische Mittel, doch anstatt zu verstummen, dringt eine Stimme hervor, die tonangebend nach dem »Weil« in der Welt mit dem Blick des Kinos fragt.

Setzen: Schanelecs Film Music führt diesen eingeschlagenen Weg weiter und verengt ihn durch außergewöhnliche Präzision. Der Film beginnt mit einer Gewitterwolke, die grollend über einen Bergrücken zieht. Wenig später wird ein Kind gefunden. Als wäre nur ein Augenblick vergangen, folgt der Film dem erwachsen gewordenen Waisenkind Jon. Ein Unfall, ein Selbstmord und ein erneuter Unfall reihen sich aneinander, dazwischen zärtliche Blicke im Gefängnis. Während Jon seine Strafe für das Unglück absitzt, lernt er die Aufseherin Iro kennen. Sie kommen sich näher. Doch Iro wird herausfinden, dass sie sich schon vor ihrer Liebe zueinander nah standen. Nachdem sich Iro dessen klar wird und sich ihr Leben nimmt, findet sich der Film in Berlin wieder. Zwar müssen Jahre vergangen sein, aber die Vergangenheit scheint immer noch an Jon zu haften. Das Geschehen des Films löst sich in einzelnen, kraftvollen, monolithischen Bildern auf. Meistens sind es Hände oder Füße, die vom Blick der Kamera umschlossen, nicht nur dem Eigensinn des Films folgen, sondern auf etwas darüber hinaus liegendes verweisen. Fugenhaft zersprengt fügen sie sich aber trotzdem frei von effekthaschendem Erzählen zu einem Ganzen zusammen. Nimmt man beim Sehen die Perspektive ein, gleichzeitig nach vorn und zurückblicken zu können, ließe sich erkennen, wie jedes Bild aus dem anderen hervorgeht. Wie vom fließenden Wasser getragen, führt ein Bild des wunden Kinderfußes, zum wunden Fuß des erwachsenen Jon am Meer, hin zum wunden Fuß in der Gefängnisdusche. Schanelec entwirft so eine großangelegte Bewegung, die detailversessen in jedem Blick die Richtung aufsucht, ausweist und jener unhintergehbar folgt.

Binden: Mit dem Gewitter, den Unfällen und dem Aufeinandertreffen zweier Menschen, die sich nicht kennen, obwohl sie einander nicht fremd sind, geht Music vom Zufall aus. Doch anstatt sich über das Eintreten der unerwarteten Möglichkeit zu wundern, erkennt der Film die Ereignisse nur nüchtern an. Vielleicht macht sich der Film gerade dadurch die Unabwendbarkeit des Geschehens stoisch bewusst. Dass sich Schanelec am Ödipus-Mythos bedient, indem sie unverkennbare Motive und Figuren in ätiologischer Weise, aufgreift, wie etwa Jons wunden Fuß, macht den Film aufschlussreich, aber nicht unbedingt einleuchtend. Insofern muss der Film vielleicht eher als eine Meditation verstanden werden, deren Inhalt sich nicht nur auf antike, sondern ebenso christlich-abendländische Mystik bezieht. Beides verbindet sich in der Suche nach dem Auskommen mit einer zugeführten Wunde. Sie lässt sich verbinden, doch ihre Ursache kann dadurch nicht verschwinden. Was Schein und was wirklich ist, gerät allerdings zunehmend durcheinander. So sitzt Jon auf einer Berliner Polizeiwache, als er plötzlich blitzartig von einer Erkenntnis getroffen wird. Worauf seine Eingebung zielt, lässt sich nicht versprachlichen. Ob es sich um einer Vision oder eine Einsicht handelt, wird der Film nicht beantworten, weil es das Kino nicht beantworten kann. Schanelecs Kino eröffnet hierbei konzentriert den unverstellten Blick auf die eigenen Wunden, die sich einerseits unmittelbar auf der Haut, und andererseits weit in der Vergangenheit befinden. Dass sich die Ursache der Wunden nicht restlos verstehen lässt, muss erst zur Bedingung werden, um mit ihnen leben zu können.

Sehen: Eine Sache lange zu betrachten, hat seine Tücken, denn irgendwann bildet man sich ein, die Dinge könnten zu einem sprechen. Oftmals verharren Schanelecs Einstellungen so, als würde ein Gedanke stehen bleiben, so wie man selbst manchmal mit starrem Blick innehält. Folgt man Ödipus ins Kino, müsste man jedoch mit dem zwanghaften Versuch, klarer sehen zu wollen, paradoxerweise erblinden. Das Kino kann aber nicht blind machen. Vielmehr verspricht es, sogar dann etwas sehen zu können, wenn es eigentlich nichts mehr zu sehen gibt. Wie in Schanelecs Bildern stellt sich so eine Aporie ein: Nach einem Bild zu suchen, das nichts zeigt, klingt absurd, und trotzdem ist diese Suche nicht zwecklos – Wenn wir die Augen verschließen, verdrehen oder uns abwenden. In diesem Fall sind es Momente, in denen die persönliche Verbindung zum Kino klarer wird. – Wenn wir etwas gesehen haben, was uns gefiel oder verärgerte, das aber niemand sonst bemerkte. Beim Kino handelt es sich zwar um einen Raum, der Platz für eigene Gedanken bietet, sie lassen sich aber dort nicht aufbewahren. So wie man seinen eigenen Kopf mitbringt, muss man auch denselben wieder mit nach Hause nehmen. In dieser Hinsicht mag die Vorstellung, vom Kino erleuchtet zu werden, indem man nur noch ganz Auge ist und seinen Kopf verliert, erleichternd und befreiend sein. Aber die Geschichte der Mystik lehrt, dass sich dieses Ziel allein mit größter Entsagung verwirklicht. Diese Absicht ließe sich Music vielleicht unterstellen. Der Mythos spricht dafür ebenso wie die Armut an Ornament. Doch dem Film schwebt dabei nichts unmittelbar Kosmisches oder Schicksalhaftes vor, denn genauso wenig, wie sich etwas aus dem Nichts für Jon ergab, führte er eine Änderung herbei. Der Film versucht vielmehr den Blick auf das »Weil« – die Verkettung des Geschehens – einzuüben, ohne gegen seinen Widerstand – die Willkür – anzuarbeiten. So verhält sich gerade die Musik im Film weder als klanglicher Teppich noch als Kontrapunkt. Vielmehr verleiht sie dem wortkargen Film seine Stimme, sie stößt ihn an. Vielleicht gibt sie ihm sogar sein Licht. Und wahrscheinlich wird erst mit dem Verklingen des letzten Bildes wirklich begreifbar, was die ganze Zeit zwar sichtbar war, aber sich nicht sehen ließ. Es gibt eine spürbare Parallele zwischen Film und Musik, in der Weise wie am Ende die Kamera in einer langen Parallelbewegung den singenden und tanzenden Menschen auf der anderen Seite des Flusses folgt.

Man könnte denken und hoffen, der Film würde eine greifbare Antwort bereithalten, worin diese Parallelität besteht. Dabei müsste man sie sich aber vielleicht gerade in der Uneindeutigkeit und Unschärfe einer nahen Ferne vorstellen: Was Parallelität bedeutet, lässt sich zwar einfach erklären, aber dass sich zwei Sachen wirklich nie treffen werden, weil sie immer gleich nah und fern sind, traut man sich nicht vorstellen. Gleichsam ermüdend ist es, immer nur zu benennen, was unsichtbar oder unerklärlich – kurz: abwesend – blieb. Film und Musik können helfen, sich daran anzunähern, aber auch nichts ungeschehen machen. Das wäre Hybris.

Atemtechniken im Kino: Eine Beobachtung

Eines steht fest: Alle Menschen, die leben wollen, müssen atmen. Wer nicht mehr atmet, ist entweder tot oder auf dem besten Weg dahin. Deshalb müssen einem Kinosaal pro Stunde für jeden Zuschauer mindestens 25 Kubikmeter Frischluft zugeführt werden. Laut Vorschrift sollte ein Kinobesucher ebenso lebendig das Kino verlassen, wie er es betreten hat – zumindest einigermaßen. Ermüdung ist in diesem Fall durch gähnende Münder als Zeichen für den letztlich erfolgreichen Kampf gegen die Luftarmut zu betrachten. Im Kino befindet man sich sozusagen in einer lebensfeindlichen Zone, die darin besteht, einander die Luft zu nehmen. Seit das Leben in der Öffentlichkeit wieder unreglementierter stattfindet, macht sich das besonders bemerkbar. Endlich: Alle Menschen atmen auf, und atmen sich gegenseitig ein.

Der Film atmet, las ich kürzlich. Oder vielleicht sollte man ihn atmen lassen wie ein gepflegtes Gläschen Rotwein (Nur nicht zu lang, sonst kippt er um). Also einfach gar nicht betrachten, bis er nach seiner wuchtigen Anstrengung wieder zu Atem kommt. Nein, es war wohl anders. Er muss etwas versprüht haben, das sich an den Augen und Ohren vorbei schummelte, um auf direktem Weg in den Lungen des Autors zu verschwinden. Durch die Nase oder den Mund hinein, und hoffentlich auch wieder heraus. Es hätte dabei nichts stecken bleiben dürfen, denn das könnte lebensverändernd, weiß Gott lebensgefährdend enden. Also eher ein Film zum Atmen. – Man liest nur noch selten, wie ein Film schmeckt oder riecht. Wahrscheinlich aus Gründen der Pietät. So ein geradewegs obszönes, subjektives Urteil ist dem Leser nicht zuzumuten. Er wäre gezwungen, sich etwas vorzustellen, anstatt einfach zu glauben, was geschrieben steht.

Ich muss gestehen, dass mir nach dem Kinobesuch meist ein fahler Geschmack im Mund bleibt. Einzelheiten, die meine Essens-, Trink- und Rauchroutine betreffen, möchte ich hierzu aussparen. In der Regel ist mir aber mehr daran gelegen, diesen Geschmack loszuwerden, als mich mit ihm zu beschäftigen. Glücklicherweise verflüchtigt er sich mit einem tiefen Atemzug der klaren, nächtlichen Luft, die sich mit einer verträumten Zigarette auf dem Heimweg vermischt. Während die rasend heißgelaufen Bilder immer noch meinen Kopf schwitzen lassen, kühlt etwas ab. Ein anderer Geruch trifft meine Nase, eine andere Note legt sich auf meine Zunge. Ich denke nochmals an den Film zurück und spüre erst an dieser kaum merkbaren Veränderung, dass ich nun tatsächlich nicht mehr Sessel sitze und wieder allein bin.

Nochmals tief Luft holen. Während ich diesmal für einen Moment innehalte, sehe ich wieder das Bild vor mir. Stillgelegt, dem Atem beraubt, nicht mehr lebendig. Unwillkürlich taten ich und eine andere Person im Dunkel dasselbe. Ich atmete durch meine Nase ein. Dabei hörte ich, wie die Luft an den Nasenflügeln vorbeiströmte und sich ihren Weg in die Luftröhre bahnte. Der Brustkorb hob sich, das Zwerchfell spannte sich. Wie lang könnte dieser Moment andauern? Und was wird danach passieren? Fast hielt ich es nicht mehr aus. Dann drückte sich die verbrauchte Luft wieder nach oben. Indessen überkam mich ein unangenehmes Gefühl. Ich befürchtete, eventuell zu viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen zu haben. Also presste ich meine Lippen zusammen und ließ die Luft heimlich wieder durch meine Nase entweichen.

Wirklich entlastend ist nur, durch den Mund auszuatmen. So lehren es die Gewichtheber, Akrobaten und Leichtathleten. Sie bewegen sich damit im Gleichgewicht, halten die Spannung, ohne sich zu verausgaben. Wenn es im Kino spannend wird, dann spielt gerade die Atmung beziehungsweise ihr Unmöglichkeit eine zentrale Rolle. – Zunächst gibt es jene, die sich mit ihrem Atem derart entspannen, dass sie bereits nach zehn Minuten genüsslich in den Schlaf fallen. Manchmal ist ein kleines Säuseln, Bribbeln, Grischeln, Röcheln oder Zippsen zu vernehmen. Jenen Kandidaten ist nichts vorzuwerfen, sie haben sich dem Film hingegeben und wurden von ihm warm empfangen, auch wenn sie hin und wieder hechelnd aufwachen. – Dann gibt es selbstverständlich jene, die mit der Einblendung des Filmtitels und Regisseurs nickend die gesammelte Luft wie ein Föhn ausblasen. Womöglich waren sie den halben Tag oder ihr halbes Leben lang angespannt und können jetzt alles bekommen, worauf sie gewartet haben. Zu dieser Sorte gehört in wenigen Fällen aber ebenso eine arrogant bis überhebliche Spezies. Der Unterschied liegt darin, dass sich ihr süffisant schmunzelnder Mund wieder verschämt schließt, sobald etwas Unvorhergesehenes eintritt. – Vereinzelt trifft man auch jenen, der immerzu stöhnt. In bitterer Ignoranz werde ich ihn nicht weiter beachten, selbst wenn er stolpernd den Saal verlässt.

Im Gegenteil zu den vorangegangen ist jedoch der nun folgende letzte Typus, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, der einzig konsequent auffällige. – Seine permanente Anspannung fällt mit seinem penetranten Ringen um Luft auf. Das gequälte Japsen und Schnappen wird durch seine verknotete Sitzposition nicht gerade erleichtert. Stoßweise lässt er angestaute Luft durch seine Nasenlöcher ausschießen, als müsste sich dabei noch mehr lösen, als die muffige Luft beinhaltet. Manchmal wird daraus auch so etwas wie ein verkniffenes Lachen, das sich mit einem leichten Kitzeln oder gar Grunzen am hinteren Gaumen paart. Mit zunehmender Wiederholung scheint sich daran etwas festzusetzen, anstatt abzufallen. Es fällt ihm schwer, einfach loszuprusten, etwas hält ihn zurück. Irgendwann will man nur noch glauben, dass der Betroffene gar nicht anders zu Luft käme. Doch es kann vereinzelt durch das zaghafte Anstimmen eines Lautes unterbrochen werden. Zum Beispiel ein sonores »Hm«, ein simples bis vulgäres Räuspern oder auch ein barsches »Würden Sie bitte etwas leiser sein«, kann helfen. Selbstverständlich mit einem verschluckten Fragezeichen versehen.

Gerät man einmal in die Lage (Ulrich Seidls Œuvre eignet sich dafür ausgezeichnet) diese Typen zu beobachten, will man die eigenen Luftregungen nur noch peinlich beschämt verstecken, weshalb ich davon zutiefst abrate. Das kann einen so weit in den Wahnsinn treiben, dass man sich, bis man blau wird, kaum noch zu atmen traut. Von Filmgenuss kann dann natürlich keine Rede mehr sein. Es kommt erst der Notarzt, dann die Polizei, zu guter Letzt der Bestatter und der ganze Abend ist gelaufen. Glücklicherweise endet sowohl eine Einstellung als auch ein Film. Immer, ganz bestimmt. Man darf also wieder ausatmen – und aufatmen. Alles andere wäre albern und nicht auszuhalten.

Die weiße Wand: Aftersun von Charlotte Wells

»Wozu ins Kino gehen, wenn sich die selben Filme auch zu Hause streamen lassen?« Bei Aftersun handelte es sich um einen Film, der, ausgezeichnet von einigen Festivals, in eher schlecht besuchte Programmkinos wanderte, wo er erst allmählich zu seinem Publikum fand. Nun ist er auf MUBI zu sehen und die Frage, für wen dieser Film ist oder sein könnte, stellt sich nicht mehr wirklich. Denn dort geht er auf, kein anderer Film entspricht womöglich besser dem, was sich MUBI unter Film – nicht Kino – vorstellt. Man sucht nach dem ganz besonderen, einmaligen – aber ständig wiederholbaren – Erlebnis, dessen Ausgang schon zu Beginn klar ist. Mit der glänzenden, selbstverliebten Oberfläche lässt sich zwar in einen Spiegel schauen, aber keine Erfahrung mit etwas Anderem machen.

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Leicht dahingeredet heißt es gelegentlich, ein Film wäre »relatable«. Doch was soll damit gesagt sein? Der Anglizismus gibt sich vermeintlich unverbindlich. Es lässt sich dabei vermuten, man könne etwas nachvollziehen oder sich mit dem Gesehenen identifizieren. Wahrscheinlich bedeutet es aber viel eher, man will etwas auf sich beziehen, womit in aller Regel nicht die ganze Erfahrung gemeint ist, denn genau daran würde es scheitern, sondern ein eklektischer Teil, der sich einigermaßen schmerzfrei ins eigene Gesamtbild fügt. Es wird ein Bild ausgesucht, das schön aussieht, keine Angst macht, – eigentlich ist es leer – und sich mit den eigenen Gefühlen anfüllen lässt. Zu einem Film zu »relaten« klingt mutig, zeigt aber nur eine Feigheit an, zwei widersprüchliche Bilder nebeneinander stehen zu lassen. Das eigene und das des Films. Stattdessen wird jedes Detail aufgeladen, mit dem krampfhaften Versuch, etwas verstehen zu wollen, was sich letztlich nicht verstehen lässt.

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Aftersun begleitet zwei Menschen, den jungen Vater Calum mit seiner Tochter Sophie, die an einem paradiesischen Ort wie Gestrandete landen. Sie passen nicht hinein und fragen sich unausgesprochen, wo und warum sie sich überhaupt hier befinden. Der Film zeigt über einige Tage die vergehende Zeit und Langeweile in einem türkischen Ferienressort. Gerade so scheint das Geld zu reichen. Vater und Mutter leben getrennt, die geteilte Zeit zwischen Tochter und Vater steht also unter einem gewissen Druck. Beide Menschen stehen an einer Schwelle in ihrem Leben. Die Tochter, nicht mehr ganz Kind, trotzdem noch nicht adoleszent. Der Vater, nicht ganz erwachsen, immer noch unzugänglich jungenhaft. Beide finden in der sorglosen Welt des Urlaubsparadieses keinen richtigen Platz. Aber statt anzuecken, aufzubegehren, die Maske herunterzureißen, geht die gemeinsame Zeit dahin. Zwar versucht jeder für sich allein in zwischenmenschlichen Begegnungen davon zu schwimmen, doch am Ende werden sie wieder aufeinander zurückgeworfen.

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Das erste Bild in Aftersun lässt zunächst nicht viel erkennen, es mutet rätselhaft an. Wackelige Camcorder-Aufnahme, schlierig und mosaikhaft. Die Stimmen der beiden Protagonisten sind zu hören. Dann ist Calum vor dem Balkonfenster im Hotelzimmer zu sehen. Im Gespräch dreht es sich um den bevorstehenden Geburtstag des Vaters. Das Bild stoppt und gibt sich als Bildschirm zu erkennen, in dem sich eine Person spiegelt. Durch Vorspulen werden andere Aufnahmen des Urlaubs sichtbar, dazwischen flackern dunkle Bilder einer Tanzfläche auf. Getrennt und verbunden durch zwei Großaufnahmen ist Sophie erst als erwachsene Frau zu sehen und schließlich wieder als zwölfjährige Tochter in einem Reisebus. Schon mit dem Beginn des Films wird hier der Versuch unternommen, Schichten – Materialschichten – ineinander zu verwickeln.

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Filmbildern lebt eine besondere Strenge inne. Mit ihnen wird nicht nur eine Erzählung – der einmalige Lichteindruck – transportiert, sondern auch Tradition. Formprinzipien, die sich auf das handwerkliche Können beziehen. Es mag befreiend sein, die Regeln hinter sich zu lassen und zu vergessen, um eine eigene Sprache zu kreieren. Das könnte heißen, es ist vielleicht gar nicht notwendig, die Regeln zu kennen, um erzählen zu können. Man muss sich eigentlich nur einverstanden zeigen, sich einlassen. Einverstanden mit dem, was erzählt wird. Trotzdem entscheidet schon die Wahl der Mittel und Materialien die Frage, was gezeigt werden kann und was nicht. Oft wird in Hinblick darauf Material und Materialität verwechselt. Wie etwas aussieht, lässt sich zwangloser beschreiben, als das, was zu sehen ist. Entscheidend ist jedoch, dass für einen Film beides bedeutsam ist.

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Im Laufe des Films entsteht eine Spannung zwischen den unterschiedlichen Materialschichten. Die Videobilder entsprechen Erinnerungen an die zurückliegende Zeit der Beziehung zwischen Vater und Tochter. Die zwölfjährige Tochter ist als Beobachterin der Bilder erwachsen geworden. Womöglich steht sie auf derselben Schwelle in ihrem Leben, an der sich ihr Vater im Urlaub einst befand. Verrätselt drängt sich die Frage in den Vordergrund, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Es blitzt eine Begegnung zwischen dem erwachsenen Vater und der erwachsenen Tochter auf einer Tanzfläche auf, gehüllt in Stroboskop und Schwarz. Die Tochter begibt sich mit den Aufnahmen der Videokamera durch die Welt der Erinnerungen, hin an einen unmöglichen Ort, an dem ein unmögliches Wiedersehen stattfindet. Der schwebende Zustand des von Sonnenbrand gezeichnetem Gleichlaufs verdichteet sich zu einem ekstatischen Moment. Alles soll sich aufklären, rein werden. Von der monotonen Dunkelheit ins grelle Licht, dort wo jedoch keine Sonne mehr scheint. Irgendwas muss hervorgebracht werden, zu dem das einzelne Filmbild offenbar nicht im Stande ist.

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Aftersun ist ein nahezu unbewegter Film. Zwar gibt es eine diffuse Anziehungskraft und etwas Abstoßendes an ihm, doch der Film entzieht sich und will sich vorerst nicht verständlich machen. Also etwas, dem man nur die schönen und schlechten Seiten aufzeigen muss, damit man eine Kritik schreiben kann. Vieles verliert sich in Andeutungen. Zeitweise verschwindet Calum. Er geht nachts ins Meer oder balanciert auf der Brüstung des Hotelbalkons. Immer wieder findet sich Sophie mit ihrem Vater so in merkwürdigen Situationen wieder. Doch der Grund oder Anlass seines Verhaltens bleibt unbenannt. Eigentlich lässt sich mit dem Film nicht abrechnen. Zum Glück, will man sagen bis zuletzt, denn man glaubte, dass es der Film genau darauf absieht. Doch der Film verspielt das gewonnene Vertrauen in die Unsprachlichkeit des Konflikts zwischen Vater und Tochter. Was unklar blieb, muss nun benannt werden. In einer erregenden Montage schwingt sich der Film mit dem Ende zur Lösung seines zum Anfang gestellten Rätsels auf, gleichzeitig wird damit jeder selbstgesetzte Sinn mit einer triumphalen Geste im Gefühlsbad ertränkt.

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Von der Regisseurin heißt es, für die letzte Szene habe sie sich von Chantal Akermans Film ‌La Chambre inspirieren, ja vielleicht sogar leiten lassen. Was man sieht, ist jedoch keine Referenz, keine Auseinandersetzung, sondern allenfalls schlechte Mimikry. Es wird das Video einer Verabschiedung am Flughafen gezeigt. Erneut sind die Stimmen der jungen Tochter und des Vaters, der die Kamera hält, zu hören. Das Video stoppt. Eine Verzögerung schleicht sich in den Lauf des Films. Dann gerät die Kamera in Bewegung, die bislang den Bildschirm filmte. Aus der Bewegung wird nun ein Schwenk. Mit einer vollen Umdrehung wird der ganze Raum, der bislang im Verborgenen blieb, durchmessen. Der objektive und anonyme Blick ähnelt dabei mehr dem Licht eines Leuchtturms, als dem blinden Tasten in einem lichtleeren Raum. Für einen Augenblick ist Sophie als erwachsene Frau zu sehen. Sie blickt durch die Kamera hindurch, als würde sie etwas Dahinterliegendes erkennen. Leise ist ein kreischendes Kleinkind zu hören. Die Kamera schwenkt weiter bis das Bild ganz von einer weißen Wand erfüllt ist. Unbemerkt findet eine Überblendung statt. Der Schwenk der Kamera endet in einem grell ausgeleuchtetem Flughafen-Gate. Calum steht erst nah zur Kamera und entfernt sich mit dem Camcorder in der Hand, bis er schließlich den Nicht-Ort durch eine Tür verlässt, die zur bereits genannten Tanzfläche führt.

Bei Akermans drehender Kamera fühlt man sich an eine Aufzählung erinnert: Alles, was sich im Raum um sie herum befindet, gilt es wahrzunehmen. Die Wiederholung legt eine zweite Schicht über den Raum. Es stehen nicht mehr nur die Dinge und ihre Anordnung im Vordergrund, sondern auch wie das Bild sie einfängt. Charlotte Wells Film bedient sich zwar der Bewegung, doch vom Motiv will er nicht viel wissen. Statt mit der Bewegung den Stillstand aufzulösen, drängt er nur wie besessen auf den erlösenden Moment hin, endlich eine Lösung für die zerstreuten Fäden des Films zu finden. Krampfhaft wird Sinn hergestellt, wo eigentlich keiner herrscht. Der Film fällt hinter sich selbst zurück und öffnet sich gefälliger Spekulation über die Auslassungen, um das Verlorene einzuholen. Doch dabei soll bloß nichts gedacht werden, das über die Grenzen des Films hinausgeht. Die Ausfüllung der Leerstelle muss sich im Rahmen dessen bewegen, was das Ende des Films vorgibt. Vielleicht hätte man das Kino mit gutem Gewissen vorher verlassen können. Zurück bleibt stattdessen Ernüchterung.

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Obwohl man es Aftersun nicht zwangsläufig ansieht, handelt es sich um ein autobiografisches, oder eher autofiktionales Werk. Was verändert das am Umstand dieser Auflösung? Macht es den Film gegen Kritik immun oder trägt es gar zum Verständnis bei? Womöglich weder das eine, noch das andere. Bezeichnend ist, dass sich eine eigensinnige Erzählperspektive und ein Hang zu trivialer Eindeutigkeit, in dem am Ende alles dasselbe bedeutet, nicht ausnehmen. Im Hinblick darauf lässt sich in Aftersun vor allem etwas über das gegenwärtige Verhältnis von Kino und Streaming erfahren. Streaming will die Filme ohne das Kino. Erleben bleibt in vorgefertigten Bahnen verhaftet und die Filmbeschreibungen halten, was sie versprechen. Kein zu viel, kein zu wenig. Wäre alles andere verspieltes Vertrauen?

Die Suche nach verlässlicher Eindeutigkeit gibt den Takt an. Doch ließe sich nicht auch ein Ort vorstellen, der sich nicht den täglichen Identitäts- und Existenzfragen aussetzt, dessen einziges Ziel die selbige Auflösung anstrebt, sei es für einen Moment, wie am Pool eines zweitklassigen Hotels? Dort, wo sich eine Andeutung nicht den Zwängen eines zu Ende gedachten Ziels unterwirft. Man könnte etwas aus dem Blick verlieren, ohne die Sorge es nicht mehr wiederzufinden. Liegt man zu lang, trägt man den Schmerz und die Peinlichkeit einer verbrannten Haut davon. Das Heimweh und der Gedanke an den Flug zurück, wollen davor schützen. Kino kann einer dieser Orte sein, auch dann, wenn man bleibt, obwohl man eigentlich hätte gehen sollen.

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Seit 17. März kann Aftersun nun über MUBI gestreamt werden. Mittlerweile erlaubt die Plattform keine Screenshots mehr und hinterlässt am Ende nur noch schwarze Kader.

Hin und wieder, Vergessen im Kino

Wann beginnt man, über einen gesehenen Film nachzudenken? Zumeist legen sich schon während des Abspanns andere Gedanken über die abflachende Konzentration. Weniges stiftet dazu an, unmittelbar nach dem Verlassen des Kinos, etwas zu notieren und festzuhalten. Der Film bleibt an seinem Ort, während ich mich von ihm entferne. Das Gespräch mit einem Freund im Anschluss mag vielleicht eher ein gegenseitiges Versichern sein, dass nun etwas aufgehört hat und etwas anderes beginnt. Oftmals wird dabei gerade das Ende des Films zum Thema gemacht. Etwas persönliches über die verbrachte Zeit mit dem Film zu sagen, fällt in diesem Moment alles andere als leicht. Doch irgendwann kommt der Film zurück, vielleicht aus Schuldbewusstsein, oder weil man erst etwas verstehen musste, bevor die richtigen Worte dafür gefunden waren. Das kann erst in einem anderen Film passieren, vor dem Schlafen oder im Zug nach Hause.

Versucht man sich an etwas Bestimmtes zu erinnern, will es meist nicht gelingen. So beginnt Unutma Biçimleri, Burak Çeviks Film auf der Berlinale 2023. Ein Fischer steht vor einem schmalen Eisloch. Nichts außer das bodenlose Schwarz umringt von schimmerndem Weiß ist zu sehen. Auf der Wasseroberfläche tänzelt eine Pose, an der ein Netz hängt. Fische sollen gefangen werden, doch gemeint sind Träume – die Erinnerung an Träume. Um die Flüchtigkeit des Traums zu bewahren, muss man ihn beredt werden lassen. Man muss Worte wählen, die geeigneter und weniger geeignet erscheinen. So tastet man sich an etwas heran, das man eigentlich nicht wirklich gesehen hat. Einiges ist restlos verloren, aber ein trübes Nachbild – manchmal eher Nachhall – blieb noch haften. Was der Film hier von Beginn an womöglich selbstreflexiv exponiert, entspringt dem Gespräch zwischen Nesrin und Erdem – einem Paar, das versucht sich an seine Beziehung und Trennung zu erinnern. Ihr Austausch wird ungeahnt intim, nicht wegen ausgesprochener Geheimnisse, sondern wegen ihrer Ungereimtheiten. Beide Menschen haben gänzlich verschiedene Erinnerungen an dieselben Begebenheiten. Erst in dem das Paar eine gemeinsame Sprache dafür findet, treten diese gegensätzlichen Erinnerungen zueinander in Beziehung. Vor allem für diese Suche im Dunkeln interessiert sich Çeviks Film. Ebenso könnte sich das Paar über einen Film unterhalten, den sie gesehen haben. Dort, wo ihre Erinnerungen an das Gesehene auseinanderklaffen, würden sie womöglich erkennen, dass beide einen anderen Film gesehen haben. Jeder für sich einen Film im Verborgenen mit anderen verschwiegenen Sehnsüchten und Ängsten. Es wäre nicht weniger intim.

Vielleicht hätte der Film hier stehen bleiben können, doch er zieht weiter und schichtet Material auf Material. Ganz so wie die Stadt – Istanbul, um die Unutma Biçimleri unaufhörlich kreist. Die Kamera verliert sich im Hafen, sucht dort nach der Geschichte des Ortes und findet lediglich Überreste statt Relikte. Es sind kleine Beobachtungen, wie der Rost an einem Schiff oder Arbeiter bei ihrer Pause an der Kaimauer. Alles Bilder, wie leere Hüllen, die nicht für sich selbst sprechen können, sondern erst lebendig werden müssen. Von Marc Augés Vorstellung (Les Formes de l’oubli), Erinnerungen seien wie Pflanzen, die sich immer höher überwuchern und verdecken, will auch der Film etwas über sich selbst erfahren. Kann sich ein Film erinnern oder vergessen? Filme, die mit einer essayistischen Form sprechen, wagen sich gern zu dieser Selbstüberschätzung hinaus. Sie laufen Gefahr, sich mit ihrem eigenen Interesse zu verwechseln. Also ist es Selbstvergessenheit? Weder kann sich ein Film erinnern noch vergessen, eher noch nachahmen beziehungsweise dazu anstiften. Dazu braucht er sein Gegenüber. Das Publikum, das Unutma Biçimleri erst gegen Ende wieder anspricht. Es drängt sich die Frage auf, wem Erinnerungen überhaupt gehören, was umgekehrt auch bedeuten könnte, ob Vergessen notgedrungen ein Verlust sein muss.

Spürbar wird das Erinnerte oder Vergessene erst, wenn es sein Gegenüber findet, beziehungsweise verfehlt. Vielleicht lässt sich das nur im Kino begreifen, und doch reicht es auch darüber hinaus. In Tatsunari Otas Film Ishi ga aru begegnen sich eine Frau und ein Mann ohne Namen in einem Flussbett. Ohne dass etwas Wichtiges passiert oder viele Worte gewechselt werden, wirkt es, als seien beide plötzlich aufeinander angewiesen. Das Warum muss nicht beantwortet werden, es genügt die Gewissheit des anwesenden Gegenübers. Sie teilen einen Nachmittag bis zur Dämmerung, während sie gemeinsam die karge Landschaft auf eine spielerische, naive Weise erkunden und immer wieder flussaufwärts oder -abwärts wandern. So selbstlos aber doch selbstzweckhaft, wie diese Beziehung zweier fremder Menschen entsteht, geht sie auch wieder auseinander. Irgendetwas bleibt, denn ihre Trennung, wenngleich ohne Abschiedsworte, fällt nicht leicht. Einige Momente später zeigt der Film den Mann in seinem Haus am Schreibtisch; er versucht, das Erlebte in seinem Tagebuch festzuhalten und zögert lang. So lang, als könnte man in dieser Pause seine eigenen Erinnerungen und Wünsche verstecken. Im gleichen Moment findet die Frau ohne Namen einen Ort, an dem sie den Akku ihres leeren Telefons aufladen kann. (Kaum etwas könnte gegenwärtig greifbarer beschreiben, wie man in einer Welt verlorengehen kann, die selbiges nicht mehr zulässt.) Die Frau schläft ein und erwacht am nächsten Morgen. Aus dem Zug zurück nach Tokio erhascht sie mit einem flüchtigen Blick den Mann erneut im Flussbett, wo er nach einem verlorenen Stein vom Vortag sucht. Was danach passiert, bleibt der Sehnsucht überlassen.

Beide Filme handeln von zwei Menschen, die sich begegnen und zurückschauen. Sowohl Ishi ga aru als auch Unutma Biçimleri wollen zwar vom Altern nicht viel wissen, doch es lässt sich unaufhörlich in ihnen wiederfinden. Unaufgeregt, in regelmäßigen Rhythmen reihen sich Bilder aneinander, so als blieben sie vom Lauf der Zeit außerhalb des Kinos unberührt. Doch anstatt weiterzugehen, besinnen sie sich vielmehr darauf, an einen verlassenen Ort zurückzukehren, um dort etwas Verlorenes aufzusuchen. So als würde man zum zweiten Mal in ein Gesicht blicken und erkennen, es hätte vorher anders ausgesehen. Dabei besteht die Intimität des Alterns vielleicht weniger darin, die Spuren der Veränderung zu entdecken, sondern etwas zu erahnen, das eigentlich dahinter liegt. Erkennt man, um was es sich handelt, gerät die Suche ins Stocken. Es breitet sich eine seltsame Beklemmung aus, über das Gesehene zu sprechen. So steht man nach Ende eines Films wieder vor dem Kino und stellt sich für einen Augenblick die absurde Frage: Was habe ich überhaupt gesehen? Aber ich schweige oder spreche von etwas Unbedeutendem.

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Neulich begegnete ich auf einer Straße einer Frau, die für eine Umfrage von mir wissen wollte, ab wann man alt und wie lang man jung sei. Erst musste ich schmunzeln, da ich mir diese Frage selbst hin und wieder stelle, mich also ertappt fühlte. Meine Antwort schien sie wohl ebenfalls zu amüsieren, vielleicht nicht, weil es ihr ähnlich erging, sondern weil wir wohl gänzlich unterschiedlicher Auffassung waren. Im Kino kann man etwas sehen, das nicht der eigenen Wahrnehmung oder Erfahrung entspricht. Trotzdem ist es möglich, sie für eine bestimmte Zeit verstehen zu lernen. Auch wenn sich das Kino mit seinem Publikum immer wieder erneuern und Zurückliegendes vergessen will, gehört das Altern – also Suchen – dazu.

Fluss des Glücks – Tara von Volker Sattel und Francesca Bertin

Links und rechts der SS106, nahe der apulischen Stadt Taranto liegt ein Ort, der, würde man ihn auf einer Karte suchen, wahrscheinlich nicht zu finden wäre. Unwissend, als Fremder, nimmt man im Vorbeifahren von seiner Existenz wohl kaum Notiz. Volker Sattels und Francesca Bertins Film Tara handelt von diesem Ort. Es ist der gleichnamige Fluss, der unter dem Schilf hinter Olivenbäumen entspringt und wenig später ins Mittelmeer mündet. Aber wie bei einem mäandernden Flussdelta lässt sich nur schwer sagen, wo hier etwas anfängt und wieder aufhört. Sich topografisch an diesen Ort anzunähern, kann nur scheitern, denn seine Ausdehnung geht weit darüber hinaus. Das weiß auch die Kamera. Das Bild heftet sich an jene Menschen, die den Ort beleben. Der Film schwimmt mit ihnen, taucht hinab und zieht immer größere Kreise.

Was zunächst als idyllisches Kleinod entdeckt wird, zeigt sich zunehmend fragil. In Sichtweite befindet sich das ILVA-Stahlwerk, das im Verdacht steht, die umliegende Natur zu belasten. Umwelttechniker nehmen Proben am Gewässer. Der Film lässt sich von den Menschen und ihren Erzählungen mittragen. In dieser Weise ist er dem Verlauf des Flusses nicht unähnlich. Je mehr man sich allmählich von der mythischen Quelle entfernt, umso klarer, aber auch komplexer wird die Umgebung: Einerseits ist das Stahlwerk wichtigster Arbeitgeber der Region, andererseits ergreift es an der Umwelt durch aufgeschüttete Halden immer mehr Besitz. Der Film interessiert sich weniger an der veränderten Landschaft, als an den Menschen, die mit ihr leben. So folgt die Kamera keinem klaren Ziel oder Anliegen, sondern bewegt sich mit jeder Begegnung ein Stück weiter und passt sich der Umgebung an.

Am Ende kehrt der Film wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Der Mythos des Flusses Tara, den die Menschen dort hüten, als handele es sich um eine heilige Stätte, wo offenkundig Wunder geschehen sind, hat etwas von seinem schillernden Reiz eingebüßt. Stattdessen könnte man nun glauben, das beharrlich Mythische soll hier der Veränderung der Natur entgegengestellt werden, auch wenn es letztlich vergeblich bleibt. Tara, landläufig auch »Fluss des Glücks« genannt, ist das kleine Paradies einer Handvoll Glückseliger – mehr nicht. Aber wie viele wird es wohl davon geben? Zwangsläufig kommt man in Verlegenheit, etwas von dem, was hier sichtbar wird, auch im Kino zu suchen. Immer da, wo der Film sich realistisch wähnt, verwandelt er wenig später ins Poetische: Seetang im gebrochenen Sonnenlicht. Heranwachsende, die nicht ganz wissen, wohin mit sich. Ein Esel.

Den Dingen einen Namen zu geben, wie diesem unscheinbaren Fluss, lässt vielleicht verstehen, dass die Mythen nicht nur von den Menschen ersonnen werden, sondern auch zu ihnen gehören. Manchmal wird das im Kino vergessen. Weder Moderne noch Deindustrialisierung können darüber hinwegtäuschen.

Notizen zu Peter Goedel

Ein Personenportrait erreicht seine eigensinnige Qualität, indem es die Hülle der Menschen, wie sie tagein, tagaus einander begegnen, berührt; sie ansticht und entblättert. Es bildet sich eine Form, während eine andere, fremde zerfällt. Sie wird in der Neuen aufgefangen. Die Protagonisten in Peter Goedels Filmen verstehen es, sich zu zeigen, auch wenn sie selbst sonst übersehen werden. Das haben die Menschen und seine Filme gemein. Goedel lässt sich von ihnen erzählen und erzählt im selben Moment.

Immer wieder betont er am Rande seine Filme im Laufe der kleinen Werkschau des Österreichischen Filmmuseums, dass ihm nur eine Materialreduktion, die Tiefe seiner Portraits ermögliche. 35 Millimeter, Schwarz-Weiß. Von Tiefgang ist jedoch keine Rede, vielmehr Konzentration. Eine Konzentration, die die offensichtlichen sowie versteckten Furchen in den Gesichtern herausstellt. Spärlich beleuchtet, spröde inszeniert, bleibt trotzdem eine Oberfläche bestehen, die alles Dahinterliegende nur erahnen lässt, unvermittelt.

Bereitwillig, fast übersprudelnd, liefern sich die portraitierten Menschen Peter Goedel aus, geben sich hin. Weder im Lärm noch in der Stille lässt Goedel von ihnen ab. Wie brandende Wellen am Strand, unaufhörlich. Jede Minute erscheint mit aller Nüchternheit außergewöhnlich hingebungsvoll. Goedels Filme zeigen, dass bloße Sympathie für Menschen nicht ohne gebotenes Vertrauen und Direktheit zu haben ist. Das gilt für das Kino im Ganzen, egal mit welchem Material, womöglich.

Tage später, mit Freunden im Kino an einem Sonntagnachmittag – Jacques Demy, Peau d’âne. Menschen, verkleidet als Statuen, bemalt in Blau und Rot. Kleider in Farben des Wetters, des Mondes, der Sonne. Für einen kurzen Moment schien das Märchen in Technicolor und die Realität Grau in Grau – aller Unvereinbarkeit zum Trotz – vom Selben zu sprechen. Aber der Sinn, der Gedanke verblieb im Schatten, unverstanden und ging verloren. Oftmals wirkt in den dunklen Ecken eines Kinos alles offensichtlich und luzid. Erst danach legt sich darüber ein schwerer Dunst. Wohl der, eines heißen Sommertages.