Die beiden Autor*innen diskutieren die Geschichte des öffentlichen Raums und die zunehmend unklare Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum.
„Im Prinzip taucht die Frage nach dem öffentlichen Raum mit der Feststellung seines Verschwindens auf. Im Zuge der konstatierten Krise der Städte in den 1980er Jahren wird vor allem auch der Verlust des öffentlichen Raumes beklagt. Mit Bezug auf Privatisierungen, Suburbanisierung, vernachlässigte innerstädtische Wohnquartiere, Segregation und Leerstand ist vom Verfall der Großstädte oder gar von der zweckentfremdeten Stadt die Rede. Denn heute ist zunehmend nicht mehr unterscheidbar, was privater und was öffentlicher Raum ist: sowohl die Formen als auch die Funktionen mischen sich. Der Bahnhof – ein paradigmatischer öffentlicher Verkehrsraum – wird zur privatisierten Shopping Mall mit Hausrecht. Das private Einkaufszentrum wird von Architekten im Stil italienischer Plätze gestaltet, mit Springbrunnen und Parkbänken, und suggeriert so die Freiheit eines vermeintlich öffentlichen Raums. Der öffentliche Raum verschwimmt und entzieht sich.“
Architektur als Luxus-Marke
Johan Popelard: Late capitalism’s theme park
https://mondediplo.com/2015/08/10vuitton
Eine ästhetische Analyse der Louis Vuitton Foundation von Frank Gehry.
„If the building is an emblem, as the reception it got suggests, it is to the client’s power rather than his generosity, to spectacular consumption rather than democracy, to a luxurious manifestation of the values of financial liberalism rather than art for all. At this point of liquid utopias and dream architectures, we can only hope that public cultural institutions can recover their autonomy, that artists will organise themselves on a cooperative model where democratised commissioning replaces the monopoly of patrons, so that there are alternatives for art that don’t lead to capitalism’s theme park.“
Ein Überblick über die Geschichte und den Niedergang des sozialen Wohnungsbaus in der BRD am Beispiel des gemeinnützigen Bauunternehmen Neue Heimat des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
„1985/1986 verkündete die Bundesregierung das Ende der staatlichen Förderung des Mietwohnungsbaus. Man begründete das mit alles andere als verlässlichen Prognosen über den Rückgang der Bevölkerung, zeigte ansonsten mit dem Finger auf den 1982 pleite gegangenen gewerkschaftseigenen und gemeinnützigen Baukonzern Neue Heimat und verkündete, von der ‚Objektförderung‘ zur ‚Subjektförderung‘ übergehen zu wollen. Statt günstige Wohnungen zu bauen oder die Höhe der Mieten zu regulieren, wurden durch Wohngeldzahlungen und Kostenübernahmen private Mieteinkünfte aus öffentlichen Mitteln subventioniert.“
Aus Neu mach Alt: Simulation von Altstadt
Philipp Oswalt: Vorbild Frankfurt – Restaurative Schizophrenie
Der Artikel geht anhand der Neuen Altstadt in Frankfurt der Frage nach, wie die Privatisierung von Wohnungsbau einher geht mit historischen Rekonstruktionsprojekten.
„Es ist eine Medienarchitektur, die aus technischen Bildern generiert nun vor allem der Erzeugung neuer medialer Bilder dient. Auch sonst ist die Architektur keineswegs so traditionell, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. (…) Nicht nur für die Bewohner, auch für die zeitknappen Ferntouristen aus Asien und Übersee ist die neue Altstadt die moderne Alternative, und so wird sie auch beworben. Anstatt historische Fachwerkstädte wie Fritzlar oder Michelstadt aufsuchen zu müssen, können sie innerhalb von zwanzig Minuten vom Frankfurter Flughafen eine deutsche Altstadt mit U-Bahn-Station und Autobahnanschluss erreichen.“ Dabei sei es „kein Zufall, dass Dresden als Ursprungsort der neuen Rekonstruktionswelle fast den gesamten städtischen Wohnungsbaubestand privatisiert hat; die Stadt Braunschweig finanzierte mit der Privatisierung städtischen Bodens den staatlichen Bau der Schlossfassade; und in Frankfurt wurde parallel zur Altstadtrekonstruktion das zuvor öffentliche Bauland des knapp 90 Hektar großen Europaviertels privatisiert und dann von einem globalen Immobilienfonds für etwa 40 000 Wohn- und Arbeitsplätze entwickelt, mit der üblichen Mischung aus konventionellem Städtebau, mediokrer Architektur, hohen Wohnungspreisen und großen Gewinnmargen für die Kapitalanleger.“
Business Improvement Districts
WDR: Unternehmen Stadt – Kommunale Aufgaben in privaten Händen
Sendung: https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-dok5-das-feature/audio-unternehmen-stadt—kommunale-aufgaben-in-privaten-haenden-100.html
Transkript als pdf: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/dok5/unternehmen-stadt-104.pdf
Das Radiofeature des WDR untersucht die private Verwaltung von Stadtplanung und kommunalen Aufgaben durch „Business Improvement Districts“ und redet mit Akteur*innen in Remscheid, Solingen-Ohligs (beides in NRW) und Hamburg-St. Pauli.
„Immer mehr deutsche Städte folgen dem US-amerikanischen Vorbild und führen ihr Gemeinwesen wie ein Unternehmen. In Sonderbezirken gehen sie gesetzlich geregelte Partnerschaften mit Grundeigentümern und Gewerbetreibenden ein. Wie verändern sich die Städte dadurch?“
Eric Töpfer, Volker Eick, Jens Sambale: Business Improvement Districts – neues Instrument für Containment und Ausgrenzung? Erfahrungen aus Nordamerika und Großbritannien
http://www.policing-crowds.org/uploads/media/Toepfer-Eick-Sambale-Business-Improvement-Districts.pdf
Alternativ verfügbar hier: http://www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/496
„Business Improvement Districts“ zwischen Ausgrenzung, privatisierter Polizeiarbeit und Charity als Imagepflege: Der Artikel untersucht die Auswirkungen unterschiedlicher BID in Kanada, den USA und Grossbritannien auf die Sicherheitspolitik.
„Mit der wachsenden Bedeutung von Business Improvement Districts wächst auch ihr Einfluss auf die Gestaltung städtischer Sicherheitspolitik und entsprechend auf die raumstrategischen Prioritäten staatlicher Polizei. Gleichzeitig entziehen sich diese Praktiken in den unübersichtlichen Netzwerken öffentlich-privater Entscheidungsfindung weitgehend demokratischer Kontrolle mit der Folge, dass – ähnlich wie die Installierung von BIDs einem äußerst beschränkten Verständnis von ‚öffentlichem‘ Interesse entspricht – sich eine neue exklusive Version von ‚öffentlichem‘ Raum in den Zentren der Städte und darüber hinaus institutionalisiert. Für die Betroffenen heißt das in der Regel Vertreibung, kann (selten) territoriale Kompromisse umfassen oder das Gegenteil bedeuten: das Beispiel Los Angeles jedenfalls zeigt die Containment-Variante.“
Gentrifizierung
Susannah Jacob: What Happened to the West Village?
Was passiert wenn ein Viertel immer teurer wird? Susannah Jacob spricht für ihre Reportage mit den alten Mieter*innen im New Yorker West Village darüber, wie es ist, mit einem bezahlbaren Mietvertrag in einer unbezahlbaren Gegend zu wohnen.
“At first glance, its increasing emptiness – vacant commercial spaces blighted by skyrocketing rents, shells of brownstones, and luxury apartments unoccupied for fifty weeks a year – suggested a place on the precipice of becoming something else. In time, I understood that the neighborhood’s emptiness is simply its deepening condition. (…) Today, late-stage gentrification has isolated the longest-lasting, often elderly, residents; the wealthy West Village newcomers don’t rely on local services to fill their needs. ‚When a mixed-income neighborhood becomes entirely wealthy, the last people standing find that everything they need is gone. All they have is their un-renovated apartment and no place to eat,‘ Schulman told me.“
Zum Beispiel Berlin: Zwischen Geldanlage, Wohnungsnot und Creative City
Was wird neu gebaut in Berlin? Der Artikel wirft einen Blick auf luxuriöse Retro-Neubauten und bietet einen Ausblick auf Siedlungen, die nach jahrelanger Pause von den Berliner Wohnungsbaugesellschaften erneut gebaut werden.
„‚Wer sich in Berlin eine Wohnung kauft, will offenbar in einem Château oder Palais leben‘, sagt Jan Kleihues, Mitglied des Baukollegiums (…) ‚Es ist die Sehnsucht nach der alten Ordnung der europäischen Stadt, weshalb Menschen von auswärts den historisierenden Baustil bevorzugen‘, glaubt Lüscher. Wer sich dagegen in Schanghai seinen Zweitwohnsitz einrichte, wohne lieber in einem gläsernen Hochhaus. Berlin wird zum Schauplatz von Geschmäckern aus der ganzen Welt, die hier etwas diffus Europäisches suchen, und staffiert sich entsprechend aus. (…) Fassaden, mit Gesimsen versehen wie vor hundert Jahren, Hauseingänge, die von griechischen Säulen umstanden sind. Die Fenster haben mitunter Holzläden wie die Stadthäuser in Nizza, ihre Brüstungen sind eisern und verziert. In den Foyers hängen Kristallleuchter, zum Hof hin stapeln sich Loggien. Aus den Ornamenten und Bauelementen aller Epochen taucht hier auf, was gefühlig wirkt und repräsentativ. Zugleich sollen die Häuser in ihrer nagelneuen Anmutung als solide Geldanlagen etwas Grundvernünftiges ausstrahlen. Zu viel Ornament soll es deshalb auch nicht sein. Ein internationaler Fantasiestil schreibt sich ins Berliner Stadtbild ein.“
Silke Hohmann im Interview mit Anh-Linh Ngo: „Arm, aber sexy“ war ein politisches Programm – Berlin als Kreativort
Ein Interview mit dem Kurator Anh Link Ngo anlässlich der Ausstellung 1989-2019: Politik des Raums im Neuen Berlin im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.): Berlin nach 1989 zwischen Retro, Privatisierung und Vermarktung als kreative Stadt.
Weitere Informationen zur Ausstellung: https://www.archplus.net/home/projekte/1989-2019-politik-des-raums-im-neuen-berlin/338,0,1,0.html
„Statt öffentliche Daseinsvorsorge trat eine vordergründige Dienstleistungsmentalität an den Tag, die alles, was nicht dem neoliberalen Zeitgeist des schlanken Staates entsprach, dem Sparzwang unterwarf. Budget, Kennziffer, Output, Controlling und Wettbewerb waren die Schlagworte. Das kurzsichtige Primat der unternehmerischen Stadt hat jedoch zu einer Vernachlässigung der öffentlichen Infrastrukturen geführt, unter deren Folgen die Stadtgesellschaft heute in Form von Wohnungskrise, Lehrermangel, unterbesetzte Verwaltungen u.v.m. leidet. Begründet wurde der politische Reformwille in Berlin auch mit der Notwendigkeit, auf globaler Ebene mit anderen Metropolen konkurrieren zu können. Ein Baustein in dieser Strategie war die Instrumentalisierung des Kultur- und Kreativsektors. (…) Was in der Subkultur Berlins vor der Wende noch eine avantgardistische Prämisse war, hat sich heute zu einer ökonomischen Größe entwickelt. Kaum ein Treffen von Wirtschaft und Politik geht heute zu Ende, ohne dass Kreativität als funktionale Variable beschworen wird. Es ist die Rede von der Kreativindustrie, von der Creative Class, von der Creative City. Ursprünglich als Mittel zur Überwindung der funktionalistischen Gesellschaftsform gedacht, ist sie selbst funktionalisiert worden und hat ihren kritischen Gehalt längst verloren.“
Disney’s Städte
Michael Pollan: Town Building is no Mickey Mouse Operation
Eine Reportage über die von der Disney Corporation geplante Stadt Celebration, FL. Michael Pollen spricht mit den Bewohner*innen über Community und Konflikte rund um die Organisation der Schule.
„The town of Celebration represents the Disney Company’s ambitious answer to the perceived lack of community in American life, but it is an answer that raises a couple of difficult questions. To what extent can redesigning the physical world we inhabit – the streets, public spaces and buildings – foster a greater sense of community? And what exactly does ‚a sense of‘ mean here? – for the word community hardly ever goes abroad in Celebration without that dubious prefix.“
“For Roger Burton, a successful small-business owner who had moved his family to Celebration from Chicago largely because of the school, the episode was disillusioning. ‚Sure it was a public school, but we figured if Disney was behind it, it would be as fabulous as everything else they do,‘ he said. ‚I knew Celebration was going to be a very controlled situation, but controlled in a good way. But as soon as you run into a problem, you find there is no mechanism to change things. The only person you can call is a corporate vice president, but he’s not interested in the school, not really. He’s interested in selling real estate.‘“
Ursprünglich handelt es sich bei „neoliberal“ um einen Begriff aus der ökonomischen Theorie, sodass bei dem Versuch diesen auf den urbanen Raum zu übertragen die ersten Assoziationen meist Räume sind, wie sie in den Finanz-, Konsum- und Transitzentren der Welt zu finden sind: Glatte Oberflächen, klare Konturen, geometrische Formen, Minimalismus. Eigenschaften also, die auch skandinavisches Design der Gegenwart oder die Architektur des Bauhaus auszeichnen. Im Unterschied zu den humanistischen Grundgedanken des letzteren stehen diese Attribute allerdings auch sinnbildlich für die Effekte und Prozesse des wirtschaftlichen Neoliberalismus: Delokalisierte, abstrakte Produktionsprozesse, Effektivität, Geschwindigkeit. Die damit verbundene Architektur, wie auch weniger repräsentative, infrastrukturelle Orte dazwischen, beschreibt der französische Anthropologe Marc Augé in seinem gleichnamigen Buch als Nicht-Orte: Ästhetisch vollkommen austauschbar und an das Texture Mapping eines grafisch limitierten Computerspiels der 90er Jahre erinnernd, sind sie rein instrumentellen Zwecken wie schnellem Transit, reibungslosem Konsum oder effektivem Arbeiten unterworfen. Raum und Gebäude wirken glatt, abstrakt und monolithisch, ein „Dahinter“ ist kaum vorstellbar. Die Gebäude stellen lediglich einen bedeutungslosen Rahmen für den eigentlichen Zweck dar.
Beispiel für Texture Mapping, also die grafische Ausstattung von 3D-Körpern mit Oberflächeneigenschaften, anhand eines Screenshots aus dem 1997 erschienenen Rennspielklassiker Need for Speed II
Dass diese Assoziationen ihre Daseinsberechtigung haben, zeigt die Dominanz funktional-ästhetischer Monokultur im urbanen Raum der Gegenwart, insbesondere in den Zentren politischer und ökonomischer Macht. So wie der Neoliberalismus allerdings längst den Kernbereich Ökonomie verlassen hat, lässt sich gleichzeitig auch die Entwicklung einer vermeintlich gegensätzlichen Raumprogrammatik beobachten: Weg vom rein funktionalen und hin zum kulturalisierten, identitätsstiftenden städtischen Raum, den Lokalkolorit und architektonisches Erbe ebenso auszeichnen wie eine lebendige Kunst- und Alternativszene, eine immer weniger vorhandene Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten, sowie eine breite Gastronomielandschaft und zahllose Konsummöglichkeiten. Gerade das von großflächigem Leerstand geprägte Nachwende-Berlin erscheint ebenso symptomatisch wie anschaulich für diese Entwicklungen, die zum Teil auch durch die offizielle Kulturpolitik des Berliner Senats lanciert wurden. Symptomatisch dafür steht der vom ehemaligen Oberbürgermeister Klaus Wowereit getätigte Ausspruch, Berlin sei „arm, aber sexy“: Trotz oder gerade durch infrastrukturelle, ökonomische und sozialpolitische Defizite hat sich die Stadtverwaltung einen produktiven Mehrwert durch die kulturelle Bespielung des in den 90er Jahren brachliegenden urbanen Raums versprochen. Ziel dabei: Die Konkurrenzfähigkeit mit anderen nationalen wie internationalen Großstädten sowie die Konsolidierung des maroden Landeshaushalt. Zentral war dabei die Kommerzialisierung der Sub- und Gegenkulturen und der Kunstszene (Ost-)Berlins, mittels welcher ein Mythos von Berlin als globalem Kreativstandort der New Economy geschaffen werden sollte.
Der ehemalige Reichsbahnbunker in Berlin-Mitte, der nach jahrelangem Leerstand zunächst verschiedene Clubs und mittlerweile die renommierte private Kunstsammlung Boros Collection beherbergt / Foto: Jean-Pierre Dalbéra, licensed under creative commons
Wie es für Berlin überhaupt möglich war, aus einem vermeintlichen Defizit – Leerstand, postindustrieller Verfall, marode Infrastruktur – Kapital zu schlagen, veranschaulicht dabei das soziologische Konzept des „grit as glamour“. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt damit für gewöhnlich als schäbig oder nichtssagend bewertete physische Aspekte urbaner Räume, die plötzlich als interessant, historisch wertvoll und authentisch wertgeschätzt und einer Umnutzung unterworfen werden. Dies betrifft lange als unmodern und ineffizient ignorierte und plötzlich begehrte Altbauwohnungen ebenso wie die Umfunktionierung verwahrloster Industrie- und DDR-Bauten in Bezirken wie Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain zu Clubs, Ateliers, Boutiquen und Startup-Büros. Ehemals dem Verfall preisgegebene, jetzt aber als bewahrenswert und kulturell wertvoll bewertete Straßenzüge und Häuserblöcke beherbergen plötzlich „creative cluster“ neuer Szenebezirke: Raumkonstellationen in denen Sub-, Gegenkulturen und Kunstszene auf Konsum- und Kreativökonomie treffen.
Diese Entwicklungen zeichnen Reckwitz zufolge zahllose moderne Großstadtviertel der Gegenwart aus. Dennoch bot kaum eine andere Stadt mehr „grit“ – also Historie sowie vermeintliche Originalität und Authentizität – als das Nachwende-Berlin und der dort mit dem Fall der Mauer freigewordene, über viele Jahre vernachlässigte innerstädtische Raum. Auch deshalb umgibt Berlin bis heute der Mythos eines „Neo-Bohemias“. Das Konzept des „grit as glamour“ beschreibt gerade im Gegensatz zu den eingangs beschriebenen Assoziationen eine neue, vor allem sinnlich-atmosphärische Qualität urbaner Räume und deren physisch-materieller Eigenschaften: Glätte, Funktionalismus und Monotonie stehen Abwechslungsreichtum, Heterogenität und einer umfangreichen Kulturalisierung gegenüber. Gerade in Berlin zeigt sich aber, inwiefern der urbane Raum mit dieser neuen Qualität auch eine neue Art neoliberaler Formung erfährt: die (Re-)Vitalisierung der Bezirke im Berliner Osten wurde in das primär von wirtschaftlichen Interessen geleitete politische Programm des „arm, aber sexy“ eingepasst.
Gleiches gilt für die ursprünglichen Träger*innen dieser Prozesse und deren urbane Strukturen – also beispielsweise Street Art, Graffiti, besetzte Häusern oder improvisierte Rave Locations. Obwohl sie sich gezielt gegen die normativen Strukturen des Mainstream-Kapitalismus richten oder aufgrund ihrer „grittiness“ unvereinbar mit diesen erscheinen, werden sie zur wertvollen Ressource und ökonomischen Größe für das Stadtmarketing und der lifestyleorientierten Konsum-, Kreativ- und Erlebnisökonomie. Die Inszenierung einer neuen Qualität des urbanen Lebens, das kulturelle Angebot; der gesamte Mythos rund um das „Neo-Bohemia“ Berlins zieht Kreativ- und Wissensarbeiter*innen der New Economy und damit verbunden Kapital in die Stadt. Dass diese Prozesse trotz des Kultur mit Ökonomie versöhnenden Schirms des Neoliberalimus auch an ihre Grenzen stoßen, beweisen die immer breiter gewordenen Debatten rund um bezahlbaren Wohnraum und das Kultursterben in Vierteln wie Mitte oder Prenzlauer Berg.
Neu neben alt, glamour neben grit: Kontraste in der Gormannstraße in Berlin-Mitte, Foto: Ruben Kircher
„Du wohnt jetzt im Ghetto, jeder soll es seh’n“
Ein Grund für diese Debatten ist, dass der einstige „grit“ der Ostberliner Bezirke zunehmend durch Einkaufsmöglichkeiten und mehr oder weniger etablierte Galerien (Mitte) oder kleingärtnerisch genutzte öffentliche Grünflächen und verkehrsberuhigte Zonen (Prenzlauer Berg) ersetzt wurde oder wird (Friedrichshain), so dass Raum für Wohnen und Kultur größtenteils einer finanzstarken, urbanen Mittelschicht vorbehalten bleibt. Orte wie das Tacheles in Mitte existieren schon lange nicht mehr und einstige Ballungsräume der urbanen Avantgarde und verschiedenster Sub- und Gegenkulturen beherbergen mittlerweile größtenteils Flagship Stores einschlägiger Marken des globalen Lifestyle-Kapitalismus, Boutiquen für Besserverdiener*innen, Ateliers zu horrenden Mietpreisen oder Startup-Büros der New Economy. Das beste Beispiel dafür stellt die Gegend rund um den Hackeschen Markt dar, die tagsüber überfüllt ist mit Shoppern, Tourist*innen und Angestellten der Digital- und Kreativwirtschaft, nachts aber ein dystopisch menschenleeres Bild abgibt. Parallel dazu hat die Suche nach bezahlbarem und „authentischem“ urbanen Raum für einen Aufschwung der traditionellen Arbeiter*innenviertel Neukölln und Wedding geführt. Auch hier fand und findet sich materiell-architektonischer „grit“: Karge 60er-Jahre-Architektur und vernachlässigte Altbauten, Betonwüsten, Alt-Berliner Eckkneipen, Sperrmüll in den Straßen.
Ein Bild aus dem Blog Notes of Berlin, der gefundene Notizen und Zettel sammelt: Ironisch kommentierter Sperrmüll ist dabei ein ebenso gern gesehenes Motiv wie süffisant zur Schau gestellte öffentliche Aushänge mit Rechtschreibfehlern / Quelle: Notes of Berlin
Darüber hinaus hat allerdings keines der beiden Viertel eine urbane oder infrastrukturelle Leere wie den Osten Berlins ausgezeichnet. Vielmehr handelt es sich bei beiden um traditionelle, oft migrantisch geprägte Arbeiterviertel, wodurch die „Glamourisierung“ von „grit“ um einen bedeutenden Aspekt erweitert wird. Der städtische Raum hat deutlich weniger Leerstand und industrielle Brachflächen als im Berliner Osten der 90er-Jahre und ist stark von seinen Bewohner*innen geprägt. Dadurch betrifft die „Glamourisierung“ nicht mehr nur materielle Aspekte, sondern die gesamte soziale Realität solcher Bezirke. Sei es London-Dalston, das Pariser Arrondissement de l’Entrepôt oder eben Berlin-Neukölln oder Wedding, es sind nun Stadtviertel, die auch aufgrund ihrer marginalisierten Bewohner*innen als hip gelten. Dabei sind es die häufig auf gesellschaftlicher Ausgrenzung beruhenden Lebensbedingungen und das damit verbundene Alltagshandeln, welches prekäre und (post-)migrantische Bewohner*innen miteinander verbindet.
Was heißt das genau? Bezog sich das „arm“ aus „arm aber sexy“ in erster Linie auf die Wirtschaftskraft Berlins im Vergleich zu Restdeutschland und „grit“ zunächst vor allem auf räumliche Aspekte, reicht die Wertschöpfungskette mittlerweile tief in die soziale Realität hinein: Angeeignet werden sich nicht mehr nur verwahrloste leerstehende Räume, sondern auch bewohnter Raum und die Bewohner*innen eben dieser Räume: Die Alkoholiker*innen in den für günstig und authentisch befundenen Eckkneipen. Die häufig als ebenso beängstigend wie spannend empfundenen (post)migrantischen Jugendlichen in Tracksuits. Oder auch die als stylisch wahrgenommene „Abgefucktheit“ von Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit, die erst jüngst in einer skandalträchtigen Reihe von Werbefotos des Schauspielers Lars Eidinger vor einem Obdachlosenlager deutlich wurde. Menschen, die sonst für ihren sozioökonomischen Status belächelt werden und ihr materiell-physischer Raum – arabische Hochzeitsgeschäfte und Reklame für die Falafel für einen Euro, mit Graffiti besprühte Backsteinwände, ein Bürgersteig mit benutztem Spritzbesteck oder Eckkneipen mit Holzvertäfelung und Fliesentischen – gelten als abwechslungsreich, authentisch, vital und interessant. Dabei überschneiden sich die Aneignung von Klasse und migrantischer Kultur: Hier wie dort wird der soziale Rand bzw. das kulturelle Unten charismatisiert.
Die Faszination der Mittel- und Oberschicht für prekäre Stadtviertel ist dabei keineswegs neu, sondern vielmehr Teil einer (europäischen) Kulturgeschichte: Man denke nur an den französischen Schriftsteller Charles Baudelaire, für dessen Lyrik die Schattenseiten der modernen Großstadt Inspiration und Sujet zugleich sind. Oder an die Pariser Stadtteile Quartier Latin und Montparnasse, seinerzeit verrufen und im radikalen Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft und heute quasi synonym für künstlerische und literarische Boheme. In der neoliberalen Gegenwart, in der Kreativität und Kultur zur Währung geworden sind, scheint die Kreativindustrie genau diesen Gegensatz produktiv für sich nutzen zu können, indem Defizite oder auch Kritik am Status Quo schlicht zu neuen Akkumulationsmöglichkeiten umgedeutet werden.
Anschaulich wird diese Dynamik durch eine von Nike inszenierte Kampagne im Wedding: Unter dem Titel Gewachsen auf Beton wurde 2013 gemeinsam mit den dort aufgewachsenen Boateng-Brüdern ein überlebensgroßes Mural eingeweiht und eine Fußballschuh-Kollektion vorgestellt. Dazu gab es kurze Auftritte der Deutschrapper Alpha Gun und Kool Savas, die Veröffentlichung einer Rap-Single von George Boateng, sowie ein Fußballturnier, bei dem die Fussballstars ebenso teilnahmen wie zahllose Jugendliche aus deren ehemaligen Heimatbezirk.
Ein von Nike gesponsertes Mural mit den Konterfeis der im Wedding aufgewachsenen Boateng-Brüdern an der U Pankstraße / Quelle: wikimedia, Foto/User: Fridolin freudenfett, licensed under creative commons
Harter Straßenrap, Betonplatz statt Rasenfläche, Ghetto-Kids, der graue ungeschönte Wedding, coole Streetart über einem Matratzen-Outlet – die Kampagne von Nike zeigt, wie gut es lifestyleorientierte Großkonzerne mittlerweile verstehen, sich subkulturelle Praktiken und damit gleichzeitig ein Arbeiter- und Migrant*innenbezirk anzueignen. Die sozialräumliche Lebensrealität des Wedding wird dabei unter dem Schlagwort „Beton“ verkürzt zusammengefasst und mit einem neoliberalen Aufstiegsnarrativ versponnen – Stichwort „Wachstum“ – um den Nike-Markenmythos um Coolness, Stärke, Straßennähe und sozialer Mobilität zu kreieren.
Mit der Adidas Football Base in den Weddinger Uferhallen hat bereits kurze Zeit später auch Nikes Hauptkonkurrent das Potential des Weddings für sich entdeckt. Auch sonst scheint die Nike-Kampagne einen Zeitgeist zu illustrieren, in welchem Diversität von Klasse und Ethnizität innerhalb eines begrenzten städtischen Raums zu stilprägenden Kulturformen fetischisiert und in ein Wertschöpfungssystem rund um Konsum und Unterhaltung eingepasst werden. Gerade die Mode ist dahingehend besonders anschaulich, wie der sorgfältig auf Street-Style-Blogs kuratierte „grit“ hochpreisiger Fashionlabels wie Vetements oder die eng mit den Charterfolgen von Trap und Straßenrap verbundene Logo-Mania unter Jugendlichen zeigen. Auch an deutschen Serien wie 4 Blocks oder Dogs of Berlin zeigt sich die neue Coolness urbaner Räume: die in 4 Blocks gezeichnete stereotype migrantische Kriminalität und Männlichkeit gehört zu den erfolgreichsten deutschen Serienproduktionen überhaupt. Dogs of Berlin ist zwar etwas weniger erfolgreich, doch an den beiden Hauptprotagonisten zeigt sich die Verschränkung von Ethnizität und Klasse umso deutlicher: Zwei Polizisten mit zwielichtiger Vergangenheit, einer als migrantischer Neuköllner, der andere als Ostdeutscher aus Hellersdorf.
„Wir tragen diesen Look mit Stolz, aber auch mit Stigma. Für euch ist es ein Trend, den ihr bald wieder ablegen könnt“
Hinter „grit as glamour“ steckt subtile soziale Gewalt, insbesondere im Hinblick auf die Verschränkung von „grit“ mit Klasse, Ethnizität oder dem hier nicht weiter ausgeführten Gender. Um diese zu begreifen erscheint es hilfreich, den Blick jenseits abstrakter Kulturbegriffe und kapitalistischer Großunternehmen auf das Individuum zu richten. In der Soziologie wird unsere spätmoderne, von einer Kreativitätsmaxime getriebene Kultur als eine Kultur der Mittelschicht beschrieben. Es sind Menschen aus der Mittelschicht, die auf der Suche nach der Verwirklichung ihrer postmaterialistischen Werte in die Städte strömen. Es ist die Mittelschicht, die ihr Leben der kreativen Arbeit verschreibt und es sich leisten kann, bestimmte Stadtteile als als „hip“ oder eben nicht zu erklären. Alteingesessene Weddinger oder Neuköllner, fernab der Mittelschicht und aufgrund ihrer Ethnizität oder Klassenzugehörigkeit stigmatisiert, können dies meist nicht. Sie können auch nicht in den Prenzlauer Berg, einen vergleichbaren Bezirk oder gar aus der Stadt ziehen, falls ihnen ihre Umgebung zu stressig, zu schmutzig oder nicht mehr hip genug erscheint. Urbane Mobilität ist gewissermaßen eine Einbahnstraße, zugänglich für die Mittel- und Oberschicht. Gerade von Armut geprägte Umgebungen dienen momentan allerdings in einem bemerkenswerten Ausmaß als visuell-ästhetische Ressource für Codes zur urbanen Aufwertung, zur Kulturalisierung von urbanen Räumen und für die Identitätskonstruktionen junger, hipper Menschen. Die Marginalität, Armut und soziale Instabilität wird dadurch auf ein Oberflächenphänomen reduziert und essentialisiert‚ so dass „grit as glamour“ auch eine Form des Voyeurismus darstellt, die sich auch durch Reflexivität und Ironie kaum beschönigen lässt.
Violett, rosa, türkis, gelb leuchten die Häuser. Sie sind mitten in das saftige Grün der Gräser, Palmen und Büsche gepflanzt. Die blauen Pools liegen wie Wachhunde vor den Gebäuden. Ein Gesteck aus Straßen und Wegen verbindet sie, dazwischen ein Asphalt- und Schleichpfad-Mikado, durch das die sechsjährige Moonee und ihre Freund*innen in The Florida Project streunen. Der Film zeigt Moonee (Brooklynn Prince) und ihre Mutter Halley (Bria Vinaite), die in einem Billig-Motel in der Nähe von Disney World leben, immer kurz davor, das Zimmer wegen Geldmangel zu verlieren (eine Wohnsituation, die in den USA offiziell als Obdachlosigkeit anerkannt wird). Trotz der klar strukturierten, auf die bunten Fassaden zentrierten Einstellungen, die sich an den menschenleeren Landschaftsfotografien der „New Topographics“ orientieren, sprüht The Florida Project vor Leben und zeigt Alltag in kleinen Details und Zufällen.
Dieses Zusammenspiel gelingt vor allem Dank der Haltung gegenüber den gefilmten Menschen: Der Film bleibt offen für spontane und alltägliche Entscheidungen seiner Figuren. Der Regisseur Sean Baker lässt die Kinder Furzgeräusche imitieren und dann zufällig eine Spinne am Boden entdecken, im Büro des Motels verstecken spielen oder aus der Ferne startende Helikopter anpöbeln. Die Handlung wird als eine Ansammlung von Nebensächlichem gezeigt, in der sich die ökonomischen Zwänge immer auswegloser auftürmen. Abgesehen von Willem Dafoe, der den herzerwärmend steif-schlaksigen Hauswart des Motels spielt, hatten nur wenige Darsteller*innen schauspielerische Erfahrung. Was die Kamera zeigt, ist den Figuren und ihren zufälligen Handlungen eigen. Sie werden nicht zweckmäßig in eine Narration oder eine abstrakte sozialkritische Aussage eingespannt, sondern behaupten ihre Eigenwirklichkeit. Wenn die Kamera nicht in weiten Einstellungen die bebaute Landschaft auffächert, heftet sie sich mit einer Steadycam an die Figuren und folgt ihren Wegen.
„Es ist die erstaunliche ästhetische Paradoxie dieses Films, dass er die Strenge einer Tragödie besitzt und alles doch nur zufällig passiert.“ Was der Filmkritiker und -theoretiker André Bazin in diesem Satz und an anderen Stellen über Vittorio de Sica’s Ladri di Biciclette schreibt, funktioniert auch als Beschreibung von The Florida Project. Auch hier verflechtet sich eine klare „ästhetische Ordnung [mit der] amorphen Unordnung der Wirklichkeit.“ Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen beiden Filmen: Ladri di Bicciclette spielt in der historischen Innenstadt Roms, The Florida Project hingegen zeigt uns einen Ort, der durchdrungen ist von Disney. Die Architektur ist wie in den nahe liegenden Themenparks in popkulturelle und lokale Ikonografien verpackt. Die bunten Gebäude sind dekoriert als Magic Castle oder verkleidet als Orange, Zauberer und Eisbecher. Die Architekturtheoretiker*innen Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour würden sie als „dekorierte Schuppen“ und „Enten “ bezeichnen.
The Florida Project nimmt eine zutiefst künstliche Architektur zur Ausgangslage, um die Alltäglichkeit des Lebens in dieser Architektur zu zeigen. Dass die Einstellungen den Spagat zwischen Architekturfotografie und einem alltäglichen Realismus schaffen, ohne sich je von den Handlungen der Figuren zu entfernen, liegt am Verhältnis zwischen der stellenweise stoischen Kadrierung und den anarchischen Wegen der Figuren. Welches Gebäude die nächste Einstellung zeigt, hängt davon ab, wohin es die Kinder treibt. Eine Szene zeigt das besonders deutlich: Moonee klingelt zusammen mit einem Freund ein Mädchen aus dem benachbarten Motel zum Spielen raus. Statt wie geplant zurück zum eigenen Motel – dem Magic Castle Inn – zu gehen, nehmen die Kinder eine Abzweigung über eine Wiese und führen die Kamera in eine Reihe frontaler Gebäudeeinstellungen.
Sie hüpfen und rennen am unteren Bildrand vor der überdimensionierten Orange und dem starr grinsenden Zauberer durch oder bleiben kurz zögerlich stehen. Dabei debattieren sie über Orangen (“ I don’t love oranges, I love orange soda“), wie man deren Schale nennt („but the only thing I don’t like about oranges is the lid“ – „you mean the peel?“ – „the lid“ – „yeah, that’s called the peel“) und wie weit sie sich vom eigenen Motel entfernen dürfen („don’t you think we’re going too far?“ – „nooo, just come on! Don’t be a… don’t be a loser!“ – „don’t call me that but, okaay!“). Schliesslich landen sie beim Eisbecher-Häuschen, wo sie sich Geld für Eis schnorren („and this is where we get free ice cream“): Der Film gibt seinen Figuren die Macht darüber, welche fotografischen Ansichten zu sehen sind.
Im Kontrast zur geometrischen Inszenierung des Raumes wird die Freiheit der darin stattfindenden Handlungen deutlich, ohne dabei die Wirkung der sozioökonomisch geplanten Topografie zu unterschlagen. Die Realität der sozialen Umstände wird ernst genommen und als ein Leben in, mit, parallel und quer zu dieser Architektur gezeigt. Die ästhetische Repräsentation des Drehorts und der Alltag der darin lebenden Menschen sind ineinander integriert (was nicht heißt, dass Auseinandersetzungen ausbleiben würden). „Realität ist nicht Kunst, aber eine realistische Kunst ist diejenige, welche eine integrierende Ästhetik der Realität schaffen kann“, schreibt Bazin an anderer Stelle. Er meint damit eine Kunst, die sich mit einer materiellen und sozialen Realität auseinandersetzt, indem sie das Sichtbare und Hörbare dieser Realität in sich aufnimmt und ästhetisch transformiert. Aus Ästhetik wird Ethik und umgekehrt. The Florida Project scheint ein bazin’scher Film zu sein. Doch was heißt das?
Die realistische Filmtheorie tritt in erster Linie gegen Filme an, denen das Theater einen Anstrich von Legitimität zu geben versucht und in denen das Studiodekor alles Lebendige erstickt. Filme, denen die Bilder und Töne egal scheinen und in denen nur zählt, was nacherzählbar und verwertbar ist. Filme, die so beginnen könnten: „Graf und Gräfin sitzen beim Frühstück. In der Tür erscheint der Diener und überreicht seiner gnädigen Herrschaft einen anscheinend gewichtigen Brief, den der Graf erbricht und liest“; um dann so zu enden: „Es rollen noch weitere Bilder auf. Zuletzt endet alles gut. Der Diener wird von Detektivfäusten gepackt und der Graf kehrt mit seinen zweimalhundert-tausend Mark glücklich, obgleich unwahrscheinlich, wieder nach Hause. Nun folgt ein Klavierstück mit erneuertem ‚Bier gefällig meine Herrschaften’.“
In Robert Walsers Beschreibung dieser Kinointrige um den „höchst unwahrscheinlichen Grafen“ schieben sich die Staffage des Kostümfilms und die Anpreisungen des Pausenkellners immer mehr ineinander, bis sich der fiktive Diener und der Kinokellner kaum mehr auseinanderhalten lassen. Gleichzeitig aber bleibt eine große Lücke klaffen zwischen dem Adel auf der Leinwand und dem Vorortkino, in dem der Film gesehen wird. Da die ferne Fiktion der Wirklichkeit eines Grafen, hier die unmittelbare Realität des windschiefen Kinos: Beide sind ökonomisch auf einander angewiesen und trotzdem meilenweit voneinander entfernt. Hier das Licht auf der Leinwand, mit Grafen und allem, was an Luxus dazugehört, da „das Ungeheuer von Kellner“ und der konstante Konsum von „Bier, Brause, Nussstangen, Schokolade [und] belegten Brötchen“ – beides ist nicht voneinander zu trennen. Die Realität des Vorortkinos wäre undenkbar ohne Fiktionen wie die von fast vergifteten Adligen, und auch fiktive Adlige müssen von echten Menschen gespielt werden, die auf Einnahmen der Vorortkinos angewiesen sind. Die Fiktion ist immer auch real, da sie auf materieller Herstellung beruht, und die (filmische) Realität ist immer schon fiktiv, da sie ästhetisch hergestellt werden muss. Ersteres wird oft als die Grundthese realistischer Filmtheorien verstanden, während letzteres vor allem in den Texten von André Bazin gerne überlesen wird.
So beschreibt Bazin William Wylers stoffgetreue Theaterverfilmung The Little Foxes gerade deshalb als „realistisch“, weil die Kamera das Studiodekor und die Schauspieler*innen als eigenmächtige Realität begreift, aus der durch formal strenge, unbewegte Einstellungen eine Auswahl getroffen werden muss, die sich dann wiederum zu dieser Realität verhält. Film fesselt sich trotz seinem engen Realitätsbezug nicht sklavisch an die Dinge ‚wie sie halt eben sind’, sondern eröffnet der Realität mittels Fiktion neue Möglichkeiten. Die Dinge erhalten Potential für Veränderung. Was Jean-Louis Comolli über den Dokumentarismus des Direct Cinema schreibt, scheint auch die kritische Agenda Bazins zu sein: Es geht „eben nicht um die Unterwerfung des Films unter die Dinge oder die Suche nach der größtmöglichen Transparenz gegenüber der Welt, sondern das genaue Gegenteil: die gegenseitige Veränderung von Welt und Film“ und damit auch um die Gleichzeitigkeit von Realität und Fiktion. Dass beide das Potential haben, sich gegenseitig zu verändern, scheint den utopischen Charakter auszumachen, der in Bazins empathischer Begeisterung für das Kino aufscheint.
Wie steht es aber um den Realismus in einer Gegenwart, deren Wirklichkeit durchdrungen ist von den Alltagsmythen Hollywoods? Die Bedeutung dieser Frage zeigt sich zum Beispiel in der Einkaufsmeile an der Schloßstraße im Südwesten Berlins: An manchen Tagen begrüßen Butler in Frack und Zylinder die Kund*innen der Shoppingmall Das Schloss und erinnern dabei an den Diener aus Robert Walsers Prosastück. Das Innere des Einkaufszentrums ist geschmückt mit pseudo-antiken Säulen, die nach schlechtem Filmdekor aussehen. In den falschen Lampenschirmen, die an den Säulen befestigt sind, befinden sich „insgesamt 78 Spezialprojektoren mit unglaublichen 62.000.000 Pixeln“ die einen bewegten Panoramahimmel an die Decke werfen. Verlässt man Das Schloss in Richtung Titania Palast (dem Vorortkino) werden die Straßen bevölkert von George Clooney auf Werbeplakaten. Screens und Kameras heften sich an historische Architekturen und an einer Ecke freut sich ein Kind über ein Spiderman-Kostüm. Wie verhält sich ein realistischer Film also zu den unterschiedlichsten popkulturellen Fiktionen, die die Realität maßgeblich mitformen? Zugespitzt: Wie würde Vittorio de Sicas Ladri di Biciclette aussehen wenn er statt in Rom in Las Vegas oder zwischen den falschen römischen Säulen von Das Schloss spielen würde?
The Florida Project gibt vielleicht eine Ahnung davon, wie ein solcher Film aussehen könnte. Die bunten Gebäude der Agglomeration um Orlando FL sind für die Tourist*innen an Disney World angeglichen – dem größten Wirtschaftsfaktor in der Gegend. Die Disney Corporation bleibt jedoch für den größten Teil des Films nur in ihren Auswirkungen sichtbar. Baker konzentriert sich auf den Alltag in einer Gegend, die ein Stadtmagazin in Orlando „Cinderella’s Slums“ nennt und spart die Themenparks vorerst aus. Während Disney World als städtisch organisierte Traumfabrik bzw. (Disney-)Filmerfahrung konzipiert wurde (der Stadtplaner James Rouse bezeichnete das Vorbild Disneyland 1963 als „the greatest piece of urban design in the United States“), ist die Gegend ringsherum von den ideologischen und ästhetischen Impulsen der Disney Corporation geprägt. The Florida Project ist nicht umsonst nach Walt Disneys gleichnamigem Experiment in Raumplanung und ‚Private Government’ benannt.
Das Projekt wurde erstmals 1967 in einem Kinoscreening öffentlich vorgestellt. In einem 25-minütigen Werbefilm, der als Pitch für die lokale Verwaltung und Presse diente, stellte Walt Disney die utopische Stadt EPCOT (Experimental Prototype Community of Tomorrow) vor – komplett mit Glas-Dome und Monorail (aber kaum existentem Wahlrecht für die Einwohner*innen). „The most exciting and by far the most important part of our Florida Project – in fact, the heart of everything we’ll be doing in Disney World “ will be our Experimental Prototype Community of Tomorrow. (…) EPCOT will always be a showcase to the world for the ingenuity and imagination of American free enterprise.“ EPCOT wurde nie gebaut.
Trotzdem erhielt die Disney Corporation im neu angelegten Reedy Creek Improvement District die Befugnis, die Landnutzung zu reglementieren, eine eigene Polizei und Feuerwehr zu unterhalten, Straßen und eine Kanalisation zu bauen, die Produktion und den Verkauf von Alkohol zu lizensieren, und einen Flughafen oder ein Atomkraftwerk (!) zu bauen. Gleichzeitig erhielt der Konzern Immunität gegenüber der staatlichen Zonenplanung und den Bau- und Landnutzungsvorschriften, wie der Politologe Richard E. Foglesong schreibt. Die Webseite des Districts hebt den wirtschaftlichen und infrastrukturellen Erfolg der Zusammenarbeit mit der Disney Corporation hervor: „The result is an example of how a working partnership between business and government can be prosperous for both sides. (…) Through the creation and effective operation of the District, Walt Disney was able to turn 38.5 square miles of remote and largely uninhabited pasture and swamp land into a world-class tourist destination that welcomes millions of visitors every year. “ Der District wird von einem fünfköpfigen Board of Supervisors verwaltet, das von den Landbesitzer*innen gewählt wird, wobei die Disney Corporation rund 69 Prozent des Landes besitzt. Dem District selber gehören 29 Prozent, den Rest teilen sich der Staat Florida und kleinere Eigentümer.
Obwohl Walt Disneys städteplanerische Utopie sehr konkret eine gegenseitige Veränderung von Realität und filmischer Fiktion anstrebte – Disney World nahm Ikonografien aus Disneyfilmen auf und beeinflusste die Motivwelt zukünftiger Filme, während EPCOT Ideen aus der Science Fiction übernahm und später Filme wie Disneys Tomorrowland inspirierte – unterscheidet sie sich stark von der Utopie Bazins und Commollis: Es geht Disney in erster Linie nicht um eine (ästhetische) Befreiung der Dinge, sondern um eine freie Ökonomie. Statt um die gegenseitige Veränderung von Film und Realität geht es um die Beeinflussung der Realität durch die Filmindustrie. Bakers The Florida Project versucht ersteres und zeigt dadurch die architektonischen und raumplanerischen Auswirkungen von letzterem.
Der Freizeitpark selbst bleibt dabei bis auf das Ende, das mit der Inszenierung des restlichen Films bricht, abwesend. Erst als Moonee’s Alltag definitiv auseinanderfällt, flüchtet sie zusammen mit ihrer besten Freundin nach Disney World: Der plötzlich hereinstürzende orchestrale Soundtrack nimmt das musikalische Thema von Kool & The Gang’s Celebration – Baker verweist mit dem Song auf die gleichnamige, 1994 von der Disney Corporation realisierte Planstadt in der Nähe des Drehorts – aus den Opening Credits wieder auf. Der Zeitraffer bricht mit den ruhig gefilmten topografischen Architekturaufnahmen, während die wacklige Kamera an die Handkamera anschließt, die vorher schon in Konfliktsituationen etabliert wurde – um schließlich doch auf dem Disney-Schloss zu enden, während die beiden Mädchen im Menschengewimmel verschwinden. Die warenförmige Märchenwelt wird erst am Ende des Films als Schockkur gezeigt, metonymisch auf den Punkt gebracht durch das ikonische Cinderella Castle am Ende der Main Street, U.S.A. Die Narration öffnet sich in die Fantasie, an den Anfang eines neuen, anderen Films (eines Märchenfilms): „The Main Street train station is the curtain, behind which are posters of coming attractions. The windows along Main Street are the opening credits, and Cinderella Castle represents the start of the movie“ steht im fast 500 Seiten dicken Disney World-Reiseführer Mousejunkies!
Obwohl der in The Florida Project gezeigte Alltag damit in sich zusammenfällt, wird man dem Ende nicht gerecht, wenn man es – wie viele Kritiker*innen – nur als Kapitulation vor den erdrückenden ökonomischen Verhältnissen deutet. Die Flucht in die Märchen-Fiktion hat trotz der zutiefst traurigen Verzweiflung etwas hoffnungsvoll Tröstendes. Disney World nimmt Moonee ihre Last ab und deutet einen Neuanfang an. Das Ende von des Films schließt an die tröstende Ekstase an, die der sowjetische Regisseur und Filmtheoretiker Sergej Eisenstein den Disneyfilmen der Vorkriegszeit attestierte. Disneys Filme bis Snow White and the Seven Dwarfs seien „wie ein Tropfen der Freude, wie ein Augenblick der Erleichterung, eine flüchtige Lippenberührung in jener Hölle der sozialen Last, Ungerechtigkeit und Qual (…), in den der Kreis seiner amerikanischen Zuschauer so auswegslos eingeschlossen ist.“ Eisenstein sah in der zwanglosen Metamorphose der Disney-Figuren ein tiefsitzender Wunsch nach körperlicher Selbstbestimmung und eine notwendige Atempause für die Psyche der ausgebeuteten Massen – ohne sich jedoch von den Filmen eine Veränderung der Situation zu erhoffen: „Das ist eine fiktive Freiheit. Für den Augenblick. Eine kurzzeitige, fiktive, komische Befreiung vom Uhrwerk des amerikanischen Lebens. Fünf Minuten Pause für die Psyche, während der Zuschauer selbst an das Maschinenrad gefesselt bleibt.“
Die Zeichentrickfilme von Disney geben die Dinghaftigkeit und die daran geknüpften materiellen Zwänge vollständig auf: „Disney – und nicht zufällig ist seine Welt gezeichnet – bedeutet eine vollständige Rückkehr in das Reich uneingeschränkter Freiheit – einer nicht zufällig fiktiven Freiheit, die an ihrem anderen, ursprünglichen Ende frei von jeder Notwendigkeit ist.“ Diese Freiheit mag eine zeitlich begrenzte, fiktive Befreiung von ökonomischen Zwängen sein. Sie lässt sich aber genauso gut als eine Ästhetisierung des falschen Versprechens des American Dream deuten: „Everybody can make it!“, also ist man selber Schuld, wenn man arm bleibt. Die Schlussszene von The Florida Project lässt beide Möglichkeiten zwiespältig mit- und ineinander existieren. Damit gelingt, was nur wenige Filme versuchen: Der Film zeigt die verheerenden sozialen Auswirkungen einer umfassenden Kommerzialisierung, ohne den Eskapismus in die kommerzialisierte Fantasiewelt von oben herab zu verurteilen. Und das mit einem der traurigsten und gleichzeitig jubilatorischsten Filmenden die man sich vorstellen kann.
Die beiden Texte stammen aus Gerhard Friedl – Ein Arbeitsbuch, erschienen 2019 bei Österreichisches Filmmuseum / Synema.
Weitere Informationen hier.
Wie danken der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums, Synema, dem Herausgeber Volker Pantenburg, sowie Laura Horelli und Benedikte Damköhler für die freundliche Erlaubnis, die Texte hier zu veröffentlichen.
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CU Local 226
Dokumentarfilm
75 Minuten – HD
Buch, Regie: Laura Horelli, Gerhard Friedl
Kamera, Montage: Gerhard Friedl
Produktion: Mischief Films Wien
CU Local 226 ist ein Dokumentarfilm über Las Vegas. Der Film stellt Leute vor, die hier arbeiten und leben.
Las Vegas ist die schnellstwachsende Stadt der USA. Die Einwohnerzahl hat sich in den letzten 12 Jahren auf 2 Millionen verdoppelt. Seit 1989, dem Jahr der Eröffnung des ersten „Megaresorthotels“, des Mirage, werden jährlich mehrere tausend Hotelzimmer neu auf den Markt gebracht. Die Hotels sind architektonisch überaus komplexe Gebilde mit Schlaftürmen, Spielhallen, Restaurant- und Shoppinglabyrinthen, historischen Themenparks, fließenden und brüchigen Übergängen, Schocks und Sensationen, Spiegeln, Displays, Lichtspielen. Einen Ort, von dem aus Distanz und Überblick möglich wäre, gibt es nicht. Architektonisch hat der Las Vegas Boulevard, die Straße, an der die Hotels stehen, ein exzessives Erscheinen.
Las Vegas ist eine extreme Stadt, und aus europäischer Perspektive stellt sich die Frage, ob Las Vegas eine Stadt ist. Dem Las Vegas Boulevard (und der Fremont Street, der älteren Casinostraße) stehen endlose Einfamilienhäusersiedlungen gegenüber. Der Übergang vom einen Bereich zum anderen ist unvermittelt. „Masterplanned communities“ werden Jahr für Jahr neu in die Wüste hinaus errichtet und verkauft.
In den populären Darstellungen von Las Vegas, etwa in Scorseses Casino, wird die Stadt nostalgisch verklärt. In anderen Filmen ist Las Vegas ein „non site“ außerhalb der eigentlichen Welt, Simulakrum, schieres Kulturkuriosum. Die Durchschnittsaufenthaltsdauer eines Besuchers ist 3 Tage, auf diese Zeit hin ist das gebaute und gespielte Spektakel ausgerichtet. Wer hier arbeitet, sieht diese Stadt als Arbeitsstadt.
Der „Las Vegas Dream“, so der Titel eines Gewerkschaftsagitationsfilms, besteht darin, dass in dieser Wachstumsstadt neu geschaffener Reichtum relativ fair verteilt wird und Hotel- und Casinoarbeiter gute Aussichten haben, sich nach wenigen Jahren ein Haus zu kaufen. Ebenso wichtig sind von der Gewerkschaft ausgehandelte Pensionsversicherung, Krankenversicherung, das seniority-Prinzip (also Lohnhochstufung und Urlaubsausweitung bei mehrjähriger Betriebszugehörigkeit). All das ist nicht selbstverständlich in den USA.
Dass dieser Erfolg möglich ist, liegt an der Arbeit der einflussreichen örtlichen Hotel- und Casinoarbeitergewerkschaft, der CU Local 226. Diese Gewerkschaft hat etwa 60 000 Mitglieder, und ihr Hauptaugenmerk gilt nicht sosehr der Aushandlung besserer Löhne, sondern vor allem der weiteren Organisierung der noch nicht organisierten und der neu zugezogenen Arbeiter.
Die Gewerkschaft hat einen relativ kleinen Überbau von Organisatoren, die alle aus der Arbeiterschaft selbst kommen, und sich durch Charisma, Einsatz, strategisches Geschick als führende Gewerkschafter empfohlen haben. Im Fall einer Kampfsituation kann mit den Mitteln gewerkschaftlicher Arbeit und Streiks schnell reagiert werden.
Der Erfolg bei den Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Hotelunternehmern ist aber instabil, Errungenschaften können in wenigen Jahren wieder verloren werden. Die Verhandlungen werden in einer eigens eingerichteten strategischen Recherchestelle vorbereitet. Hier arbeiten vier Leute daran, über Pläne und Veränderungen auf Seiten der Hotelbetreiber frühzeitig informiert zu sein, um bei Verhandlungen entsprechende Forderungen stellen zu können. Sie analysieren Wirtschaftsnachrichten wie Reuters, Bloomberg, Financial Times, Fachzeitschriften usw. Täglich werden neue Informationen verarbeitet. Damit wissen die Leute von CU Local 226 über die möglichen Hintergründe und Motive ihrer Verhandlungspartner Bescheid.
Dee Taylor, Stratege der CU Local 226, weiß um den Erfolg und um den nötigen Einsatz zu diesem Erfolg. Auf die Frage, ob die CU Local 226 ein Beispiel für Dienstleistungsgewerkschaften in den USA sein könnte, sagt er, so vermessen würde er nicht sein wollen. Und er meint damit auch, dass in den USA, anders als in Europa, Gewerkschaftsarbeit, vor allem Organisierung, vor Ort wachsen muss und eine langfristige geduldige Aufbauarbeit, angepasst an die örtlichen Bedingungen, nötig ist.
Einige Themen, die mich auch für Panik von 94 interessiert haben, finden sich in diesem Projekt wieder. Gewerkschaftsarbeit in den USA ist lokal und konjunkturabhängig. Nur bei Industrien, die sich langfristig stabil halten können, konnten sich auch dauerhafte gewerkschaftliche Strukturen herausbilden.
Es wird in diesem Film darum gehen, aus der Perspektive der Hotel- und Casinoangestellten Las Vegas nachzuvollziehen. Wir werden nicht die Stadt und ihre Architektur filmen, sondern einige Protagonisten über ihr Leben, ihre Wünsche, ihre Art, diese Stadt zu erfahren, befragen. Sie werden ihre Arbeit und ihre Arbeitsplätze beschreiben. Ihre Wünsche, ihre Schwierigkeiten, ihre Einsamkeit, ihre Freuden, ihre Gemeinschaften.
Slavica arbeitet in den Hoteltürmen des Caesars Palace. Sie hat pro Schicht wahlweise 18 Zimmer oder 12 Suiten zu richten. Ihre Arbeit ist zeitlich gemessen. Es gibt eine Frau, die ihre und die Arbeit ihrer Kollegen überprüft. Und eine, die diese Frau und ihre Kolleginnen überprüft usw. Der gesamte Arbeitsablauf ist zeitlich genau geregelt. Die Zeit, in der sie das Hotel nach der Arbeit zu betreten und zu verlassen hat, ist auf 5 Minuten genau festgelegt. Wenn sie die Regelungen nicht einhält, kommt es zu einer Beschwerde. Wiederholt sich eine Unregelmäßigkeit, wird man entlassen. Da Slavica gewerkschaftlich organisiert ist, könnte sie sich über den Beschwerdeweg und Rechtshilfe durch die Gewerkschaft Recht verschaffen.
Dimi kommt aus Sofia, Bulgarien und arbeitet im Bankettservice. Sie hat sehr unregelmäßige Arbeitszeiten, manchmal 16 Stunden am Stück. Obwohl es hier eine große bulgarische Gemeinschaft gibt, hat sie, wie sie sagt, selten Zeit, sich mit Leuten aus ihrer Heimat zu treffen. Sie sieht ihre Zeit hier als Arbeitszeit.
Paul ist Bellboy im Bellagio und hat früher in Tampa, Florida als Kameramann gearbeitet. Er empfängt anreisende Hotelgäste und hilft ihnen, ihr Gepäck ins Hotelzimmer zu bringen. Er verdient nun, auch wegen des Trinkgeldes, wesentlich mehr als in seinem früheren Beruf. Und er zieht diese Arbeit der alten vor.
Dieses Projekt ist eine Gemeinschaftsproduktion von Laura Horelli und mir. Der Stand dieses Projektes ist: Während einer Recherchereise haben wir 20 Interviews mit verschiedenen Leuten aus Las Vegas gemacht, Kontakte zur Gewerkschaft, sowie zum Management der Hotels hergestellt. Wir werden versuchen, das Projekt bis zum September 2008 produktionsreif zu machen.
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Caesars Flamingo Sahara
Förderantrag Projektentwicklung für einen Dokumentarfilm
90 Minuten Farbe
Kurzinhalt
Im Jahr 2007 hat die Zahl der Einwohner von Las Vegas die 2-Millionenmarke erreicht. Damit ist die Stadt nun 20 Jahre in Folge die schnellstwachsende Stadt der USA. Diese Stadt ist das, was man früher eine corporate city nannte.
Eine Stadt, die von einer Branche, in diesem Fall der Hotelbranche, bestimmt wird: die Hotels sind hier um Glücksspiel gewachsen. In Las Vegas gibt es bei weitem die größte Dichte an Hotelzimmern weltweit.
Nirgends in den USA gibt es eine stärkere lokale Gewerkschaft für Dienstleistende als hier.
Dieser Dokumentarfilm ist nicht nur an den spektakulären Perspektiven am Las Vegas Boulevard interessiert – er legt die sozialen und politischen Schichten diese Stadt der Extreme frei, er fragt, was wir hier über globale Entwicklungen lernen können.
Zur Formulierung unseres Drehbuchs ist ein gut vorbereiteter dreiwöchiger Rechercheaufenthalt nötig. Das bisherige Material haben wir im Dezember 2007 während eines von der Villa Aurora Los Angeles finanzierten Aufenthalts in Las Vegas zusammengestellt und nachbearbeitet.
Dies ist der erste Langfilm von Laura Horelli und der erste Film nach dem Studium von Gerhard Friedl.
Thema
Caesars Flamingo Sahara ist ein Dokumentarfilm über Las Vegas, Arbeit und Glückspiel. Tourismus ist die größte Industrie der Welt geworden. Es geht darum zu sehen, was uns das Beispiel Las Vegas sagt. Beim Glückspiel gibt es mit Hinblick auf Globalisierung zwei Aspekte.
Erstens findet Glückspiel weltweit zunehmend Akzeptanz, in Macao und in Spanien sind jeweils große Spielerstädte gebaut, beziehungsweise geplant. In den USA versucht man mit Glückspiel, benachteiligte Wirtschaftsräume (Detroit) aufzuwerten. Viele Städte in Europa werden mittelfristig nachziehen. Glückspiel ist zunehmend sozial anerkannt. Aus der Perspektive der Hotelbesitzer heißt das: Neue Casinos an neuen Orten gelten nicht als Konkurrenz, sondern helfen, den Markt zu erweitern.
Zweitens: Noch immer wächst Las Vegas, die Wachstumsprognosen wurden seit 20 Jahren wiederholt nach oben korrigiert. Das heißt: Menschen ziehen nach Las Vegas, pro Monat durchschnittlich 6 000. Die Leute, die hier Arbeit suchen, kommen aus dem früheren Jugoslawien ebenso wie aus Kolumbien, von den Philippinen ebenso wie aus dem Iran.
Die Gewerkschaften sind in Las Vegas stark und handeln einen Arbeitnehmeranteil am Wachstum aus. Sie setzen sich ein für gerechte Löhne und Sozialleistungen und übernehmen vor Ort sehr wichtige Aufgaben: Sie propagieren eine kulturell pluralistische Form von Bürgerschaft. Und sie versuchen, in ihrer Politik keinen Unterschied zu machen zwischen regulären und undokumentierten Arbeitern.
Diese beiden völlig heterogenen Räume, der der Verausgabung und der der Arbeit, werden in diesem Film gegeneinander untersucht. In Las Vegas zeigt sich diese Gegenüberstellung im Extrem. Insofern hier ein globales Phänomen sichtbar wird, hat dieser Film aus deutscher Sicht eine Relevanz.
Form
Grundlage der Erzählungen in diesem Film sind genaue Analysen von Las Vegas und Interviews mit den Protagonisten. Die Form aber ist sehr einfach:
Man sieht in diesem Film in ruhigen, präzisen Bildern die Stadt. Die Erzählungen werden mit voice over vorgetragen. Beides verschränkt sich zu einem komplexen filmischen Gefüge.
Wie filmt man Las Vegas? Es ist unumgänglich, mit filmischen Mitteln auf das extreme Stadtbild von Las Vegas einzugehen. Einerseits sind die auf dem Strip auf etwa 5 Kilometern aneinander gereihten Hoteltürme monströs.
Bei Tageslicht und bei Nacht erscheinen sie völlig unterschiedlich. Die Front der Hotels zum Las Vegas Boulevard hin ist komplex. Die Hinterseiten sind rein funktional, mit Hochgaragen und Entlastungsstraßen.
Wir wollen in genauen bildlichen Untersuchungen die räumlichen Eigentümlichkeiten und Schwellen, Zonen und Funktionen, etwa die Angestelltentrakte im Hintergrund, herausarbeiten. Die Hotels wirken wie riesige Krankenhäuser. Wir werden die Arbeiter bei ihrer Arbeit begleiten.
Der architektonischen Extremform des Las Vegas Boulevard und seiner Megaresorts stehen endlose Einfamiliensiedlungen gegenüber. Sie stellen ein vollkommen anderes Raumkonzept dar. Las Vegas ist eine horizontal in die Wüste ausgestreckte Millionenstadt. Manches ist typisch auch für andere Städte des Sunbelt – der Süd- und Südweststaaten der USA. Wir werden die Einwohner bei ihren Bewegungen durch die Stadt begleiten.
Diese Form haben Laura Horelli und Gerhard Friedl in ihren je eigenen bisherigen filmischen Arbeiten erprobt. Für beide war unabhängig voneinander die Aneignung und implizite Kritik herkömmlicher Formen des Dokumentarischen wichtig. Es geht um das Verhältnis von Sprache und Bild.
Treatment
Mit Mitteln der Villa Aurora Los Angeles haben die dortigen Stipendiaten Laura Horelli und Gerhard Friedl im Dezember 2007 in Las Vegas eine Reihe von Interviews mit verschiedenen Leuten geführt. Sie sind mit für dieses Projekt interessanten Persönlichkeiten in Kontakt gekommen.
Dabei sind die Grundlagen für einen Dokumentarfilm entwickelt worden.
Diese Begegnungen sind Ausgangspunkt für das Drehbuch und weitere Drehvorbereitungen. Anstelle eines Treatments finden sich hier inhaltliche Fragestellungen. Es werden konkrete Erzählungen von Einwohnern in Las Vegas sein, mit denen auf diese Fragen geantwortet werden wird.
Wer sind die Protagonisten des Films? Wir suchen etwa 10 Personen in Las Vegas. Das sind Angestellte mit verschiedenen Berufen in den Megaresorts, Leute, die teils in Las Vegas aufgewachsen sind oder hierhergekommen sind, um hier zu arbeiten. Welchen Begriff von Bürgerschaft haben sie? Wie wichtig ist ihnen, ihrer politischen Stimme Nachdruck zu verleihen? Wie stehen sie zur gewerkschaftlichen Arbeiterorganisation? Wie erinnern sie die durchaus diskontinuierliche Geschichte von Las Vegas?
Wie kann man die exzessiven architektonischen Formen beschreiben? Immerhin stehen in Las Vegas die größten Hotels der Welt. Die Architektur von Las Vegas soll faszinieren. Das heißt auch: sie soll zwar sichtbar sein, aber nicht eigentlich zu sehen. Diese Architektur macht ratlos. Dem Design der Hotels liegt jeweils ein Thema zugrunde. Ägypten, Venedig, Sahara. In Form von Architainment, unterhaltender Architektur, nicht ganz ernst gemeint, und mit einem Plot, einer Story oder einem Thema versehen. Dem Design des Bellagio liegt die Legende eines italienischen Grafen zugrunde, der vor 80 Jahren in die Mojave Wüste gekommen sein soll, um im Wüstenklima seine Gesundheit zu schonen. Das Bellagio wäre sein Palast.
Die Gesetze, Hausordnungen und die Definition der Räume sind an der Architektur ablesbar. Der Gestaltungsprozess basiert auf der analytischen Untersuchung der Besucherströme. Architektur wird aber auch nach dem Prinzip von trial and error gebaut. Las Vegas ist Architektur im permanenten Wandel. So wurde vor dem Luxor-Hotel ein „Nil“ eingerichtet, und die Hotelgäste mussten zunächst mit einer Barke zur Reception übersetzen. Das war zu kompliziert, der Nil ist weg. Rem Koolhaas hat im Venetian einen Museumsraum für das Guggenheim Las Vegas eingerichtet. Noch während der ersten Ausstellung wurde das Museum geschlossen. Die Faszination der Hotels ist berechnet, die Gebäude sind in ihren Dimensionen faktisch; es ist nachgerade unmöglich, gegen diese Faktizität eine kritische Position anzubringen.
Wie stehen Poparchitektur und die in den Megaresorts erbrachten Dienstleistungen im Verhältnis? In Las Vegas stehen mehr als in der Hotellerie üblich und mit enormem Aufwand hergestellt zwei vollkommen heterogene soziale Räume einander gegenüber. Der Raum der Gäste/Spieler und jener der Dienstleister, Portiers etwa, Zimmermädchen, Köche usw. Im Glitzern und Blinken der Gebäude wird vergessen gemacht, dass hier Arbeit verrichtet wird. Gast/Spieler und Dienstleister stehen dem gemäß in einer Nichtbeziehung zu einander.
Als das MGM Grand (größtes Hotel der Welt) eröffnete, haben sich für die achttausend angebotenen Stellen einhunderttausend Personen beworben. Während dem Gast ein first class service zu einem mittleren Preis geboten wird, verdienen die teils ungelernten Arbeiter, ob Parkservice, Zimmermädchen, Croupier, ein Mittelklasseeinkommen. Angestellte können schon nach zwei bis drei Jahren ein Eigenheim erwerben.
Zugespitzt formuliert könnte man also sagen: Es begegnet sich da eine soziale Klasse – Gast und Dienstleister – selbst. Die Hotelangestellten werden im Lohn aufgewertet, ihre Tätigkeiten selbst verlangen keine besonderen Fertigkeiten. All das finanziert sich über die im Glückspiel erzielten Profite. Anders gesprochen: damit dieser Transformationsprozess von Geld – Geld ‚ in seiner Direktheit (der Gast gibt Bargeld ohne eigentliche Gegenleistung ab) dem Geschröpften nicht augenfällig wird, sind verschiedenste, überflüssige Dienstleistungen vorgeschaltet. So gesehen werden die Dienstleister, voneinander durch verschiedene Uniformen zu unterscheiden, eigentlich Teil der Verblendung. Aus Sicht der Gewerkschaften sieht das freilich anders aus.
Was besagt der Erfolg der Gewerkschaften in Las Vegas? In den USA hat sich die Anzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Angestellten seit den 1950er Jahren halbiert, heute ist der Grad an Organisiertheit in den USA niedriger als in irgendeinem anderen vergleichbaren Wirtschaftsraum (etwa 17%). Anders in Las Vegas: Die Gewerkschaften, insbesondere die Culinary Union Local 226 (mit 60 000 Mitgliedern), haben erfolgreich für die Arbeiter einen entsprechenden Anteil an den Profiten der Casinos als Lohn ausgehandelt.
Ihr Wachstum steht in direktem Zusammenhang mit dem Wachstum der hospitality industry. Dabei hat sich die sehr offensive Politik der Gewerkschaften seit 20 Jahren vor allem auf eines ausgerichtet: neue Mitglieder anzuwerben.
Andere Vorhaben, wie Lohnaushandlungen und soziale Begünstigungen, waren dem nachgeordnet. Auffällig ist die Fokussiertheit und Diszipliniertheit der Gewerkschaften und die Aufmerksamkeit gegenüber neuen Mitgliedern mit Führungsqualitäten. Die Gewerkschaften sind in den Resorthotels überaus präsent. Ein Grund des Erfolgs ist das Prinzip der shop stewards: das sind regulär Beschäftigte, die zwischen Angestellten und niederem Management bei Beschwerden oder Problemen vermitteln. Von hier aufwärts hält die Gewerkschaft einen komplexen Apparat zur Aushandlung mit dem Management bereit.
Zugleich bemühen sich die Organisatoren um eine gute Beziehung zu den Managern der Hotels, intern ist aber auch die Rede vom „Feind“. D. Taylor, Schatzmeister und Stratege der Culinary Union meint: „Die Unternehmen denken in Weltmärkten, Gewerkschaften denken lokal“. Die Culinary Union verfügt über eine eigene Research-Abteilung, die Veränderungen auf der Arbeitgeberseite (etwa Änderung der Eigentümerverhältnisse) genau beobachtet und daher sehr früh politische Maßnahmen zur Durchsetzung von eigenen Interessen platzieren können.
Welche Funktionen haben die Gewerkschaften in Las Vegas? Aus Sicht des Urbanen ist Las Vegas ein Problemfall. Es gibt kaum öffentliche Orte, wo auf breiter Basis Einwohner der Stadt zusammenkommen würden. Die Culinary Union erfüllt hier eine Rolle, die für Gewerkschaften in den USA geschichtlich immer wieder charakteristisch war, auch vor dem Hintergrund eines traditionell immer großen Zuzugs von Arbeitern etwa aus Europa, Mittel- und Südamerika und aus Asien: Die Culinary Union propagiert eine kulturell pluralistische Form von Bürgerschaft. Damit hat sie eine auf machtvolle Weise eine kollektive Stimme ins Gemeinwesen eingebracht. Dies ist eine gesellschaftlich integrierende Neudefinition dessen, was Bürgerschaft sein kann. Das bezieht sich auch auf die Haltung der Culinary Union gegenüber den nicht dokumentierten Arbeitern in Las Vegas, deren politische Position sie abzusichern suchen.
Wem gehört Las Vegas? Interessant hier ist die Frage, wie sich die Eigentümerverhältnisse in den letzten 50 Jahren entwickelt haben. Es war ursprünglich Geld aus illegalen Geschäften, mit dem Benjamin Siegel hierhergekommen ist, um einen neuen Typus von Casino zu entwickeln, der für die nächsten 35 Jahre typisch war. Die vielen kleinen und mittelgroßen Hotel-Casinos waren in den Händen einiger Familien. Später war es Risikokapital (Junk Bonds), mit dem in völlig neuen Größenordnungen geplant und gebaut werden konnte. Wall Street hat das Glückspiel als reguläres Geschäft erkannt. Ein ungleich größerer Typ von Architektur hat sich entwickeln können. Heute sind die wichtigsten Megaresorts im Eigentum von folgenden Konzernen: Harrah’s Entertainment, MGM Mirage, Las Vegas Sand, Boyd Gaming und Wynn. Traditionell haben neben der Erlaubnis zum Glückspiel auch die niederen Steuern und die geringen Investitionen in Infrastruktur aus Las Vegas einen besonderen Ort gemacht. Politik und Hotelindustrie haben dabei immer sehr eng miteinander zusammengearbeitet.
Woher kommt diese zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz von Glückspiel? In Nevada war Glückspiel seit den 1930er Jahren gesetzlich erlaubt – heute ist es dies in einer Mehrzahl von Ländern der USA. Niedergegangene Wirtschaftsräume wie Detroit sollen so aufgewertet werden, es werden Hotel-Casinos in Boston, Connecticut und New Orleans geplant. Macao wird zur größten Spielerstadt Asiens aufgebaut. Glückspiel ist global geworden und ein seriöses Geschäft. Was sagt diese neue Akzeptanz aus zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüchen? Welche Vorstellungen waren davor maßgeblich? Es gibt historisch mehrere Stufen. Der Erfolg der Casinos in den 50er Jahren hat wesentlich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den USA nach der großen Krise anfangs der 30er Jahre und mit dem zusätzlich verfügbaren Einkommensüberschuss zu tun. Damals galt Glückspiel mehr noch als heute auch als Verausgabung. Die große Wende zur politischen Akzeptanz von Glückspiel ist mit dem Bau des Mirage 1989 zu datieren, und mit einer strategischen Ausweitung des Zielpublikums, nun werden alle gesellschaftlichen Schichten angesprochen.
Von der Perspektive des Gesetzes aus: wie hängen Gesetz und Geschäft zusammen? Gesetz ist, wie man an Las Vegas erkennen kann, ortsbildend. Diese Produktion von (sozialem) Raum werden wir am konkreten Beispiel der Hotels-Casinos untersuchen. Dabei wollen wir Gesetz nicht nur als staatlich-soziale Grundlegung untersuchen, sondern auch im Sinne von Private Property, Hausordnung, Verhaltensmaßregeln, komplexen Kommunikationsprozessen und Vorgaben innerhalb der Casinos und unter den Angestellten an den verschiedenen Orten der Gebäude. Glückspiel hatte etwas Exterritoriales. Interessant nebenbei: Las Vegas ist im Kern auch außerhalb der Zeit. In Casinos gibt es weder Fenster noch gibt es Uhren. Alles ist darauf ausgerichtet, dass man sich vergisst. Im Durchschnitt spielen Menschen in Las Vegas 6 Stunden am Tag, sie bleiben 3 Tage. Las Vegas war die erste Stadt, in der Geschäfte, Supermärkte, Einzelhandel und dergleichen für 24 Stunden verfügbar waren.
Mandalay Bay Hotel
Harmon Avenue, Las Vegas
Employment Office, Las Vegas
Baustelle Downtown Las Vegas, ehemaliges Ambassador East Motel
Culinary Union Gewerkschaftsgebäude, Mittagspause während der Organisation von Vorwahlen im Dezember 2007
„Paris is instantly recognisable“ wirbt der Backpacker-Reiseführer Lonely Planet auf seiner Webseite. Dazu ein Luftbild von Paris in den rot und grün getünchten Sepiafarben, die spätestens seit Le fabuleux destin d’Amélie Poulain unmissverständlich für die Stadt stehen. Damit wird die Nostalgie nach einem romantischen Paris bedient, in dem man noch verzauberte, von Warenförmigkeit und Globalisierung verschonte Winkel finden kann: eine Vermarktung der Marktlosigkeit. Die Kuppel des Invalidendoms leuchtet im gedämpften Licht der Abendsonne, links steht der Eiffelturm und dahinter erhebt sich, nahtlos integriert in die Innenstadt aus dem 19. Jahrhundert, die Skyline mit Glasfassaden. Unter dem Foto folgt eine Liste der Gebäude, die wie ein Beweis für den Werbeslogan wirken: Eiffelturm, Arc de Triomphe, Louvre, Centre Pompidou, Sacré-Coeur – jeweils mit einem Bild versehen, auf dem man das Gebäude auf den ersten Blick erkennt. „Brand awareness refers to the extent to which customers are able to recall or recognise a brand“, fasst Wikipedia trocken zusammen. Paris ist eine Top-Marke. Bis zu dem Punkt, an dem die Markenstärke zum Hauptargument für eine Reise in die Stadt wird.
Im Anholt-GfK City Brands Index℠ (CBI℠), einem vom amerikanischen Ableger des weltweit fünftgrößten Marktforschungskonzerns Gesellschaft für Konsumforschung erstellten Ranking, belegt Paris für sein positives Markenimage den ersten Platz. Vor allem in den Kategorien „Place“ („its physical outdoors aspect and transport“) und „Pulse“ („interesting things to do“) könne die Stadt überzeugen.
Das Institut schreibt in der Pressemitteilung: „Our survey was conducted before the November attacks in Paris – but, if past experience is anything to go by, such attacks do not change people’s perceptions of the city in any significant or long-lasting way. There may be a temporary change in people’s behavior towards Paris – but the attacks do not affect the reasons why people might admire the city’s beauty, cultural life, opportunities, etc. and this is what CBI measures.“ Tropfen auf den heißen Stein also. Die Marke ist stärker.
Nocturama von Betrand Bonello beginnt mit einer Luftaufnahme von Paris in der Dämmerung. Die Kamera filmt aus dem Seitenfenster eines Helikopters, der in einer fast unmerklichen Kurve über die Stadt fliegt. Kein Horizont ist zu sehen, nur die ikonische Pariser Innenstadt: Ein dichtes Gewebe aus Stein, Häusern und Straßen, dazwischen die Seine mit ihren Brücken. Man kann die Pont Neuf und den Notre Dame ausmachen, irgendwann schieben sich auch das Louvre mit dem Jardin de Tuileries und das Centre Pompidou ins Bild. Doch die Bildkomposition schichtet die einzelnen Gebäude zu einem komprimierten Muster. Die Stadt wirkt nicht luftig, wie in der Aufnahme von Lonely Planet, sondern verdichtet. Und obwohl der Film zuerst die sofort erkennbaren, konsumierbaren Sehenswürdigkeiten zeigt, sieht man sie nicht als klar trennbare Einzelstücke. Paris ist ein komplexes Gemenge aus Schichten, Straßen, Steinen, Schmuck.
Im Bild auf der Webseite von Lonely Planet erstreckt sich die Stadt zu einem hoffnungsvollen Horizont hin. Im Gegensatz dazu bedeutet „Paris“ in Nocturama kein Fernweh-Abenteuer – dafür das Abenteuer sich auszukennen und dieses Ortswissen taktisch nutzen zu können.
Acht Personen – alle irgendwo auf der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsensein – bewegen sich auf zielgerichteten Pfaden durch die verschlungenen Straßen der Stadt. Still und sicher nutzen sie das Metrosystem, betreten Hotels und Büros, durchqueren Tiefgaragen und Hochhäuser. Ihre Wege kreuzen sich, verlaufen wieder auseinander, manchmal scheinen sie sich zu kennen, manchmal nicht. Die Kamera begleitet ihre präzisen Bewegungen auf Augenhöhe mit schnellen, kontrollierten Fahrten. Wie eine Komplizin ist sie perfekt auf ihre Aktionen abgestimmt, scheint jeden Schritt bereits im Voraus zu kennen. Fließend geht sie von einer Person zur nächsten über, lässt die streng getaktete Choreografie ihrer individuellen Zeitpläne sichtbar werden. Im Schnitt werden die Handlungen wie ein Staffelstab von Person zu Person weitergereicht: Einer geht über die Straße in einen Metroeingang – der nächste sitzt wartend in der U-Bahn – eine dritte betritt an einem anderen Ort wieder die Straße.
Ein gemeinsamer Bewegungsfluss entsteht über die räumlichen Abstände hinweg, klanglich rhythmisiert durch den ständigen Wechsel zwischen eilenden Schritten und regungslosem Warten. Immer wieder dieselben Gesten bei verschiedenen Personen: paranoide Seitenblicke, verunsichertes Innehalten, ein schneller Blick auf die Armbanduhr. Die Zeit tickt unablässig weiter. Bildfüllend eingeblendete Uhrzeiten: 14H07. 15H30. 16H18. 16H50. Irgendetwas schwebt in der Luft. Alle Handlungen sind ausgerichtet auf eine unmittelbare Zukunft, die unaufhaltsam näher rückt. Um 19H15 explodieren an mehreren Orten zugleich die Bomben.
Die minutiöse Orchestrierung der Bewegungen rückt Nocturama in die Nähe des Heist Films. So wie Einbrecher*innen den Grundriss und die Arbeitsabläufe einer Bank auswendig lernen, um gezielt in sie eindringen zu können, nutzen die Jugendlichen ihre Kenntnis der Infrastruktur der Stadt, um sich Zugang zu den Zielen ihrer Anschläge zu verschaffen. In beiden Fällen verwandeln sich alltägliche Orte und Vorgänge in ein engmaschiges Netz raumzeitlicher Strukturen, durch das die Kriminellen in perfekter Choreografie hindurchgleiten. Ganz Paris erscheint in Nocturama wie ein einziges großes Sicherheitssystem.
Doch trotz der Affinität zu Genre-Bildern behalten die Szenen im ersten Teil des Films immer eine Alltäglichkeit bei. Wenn die Jugendlichen in der Bahn sitzen und mit leerem Blick vor sich hin starren, ungeduldig auf dem Gleis auf und ab gehen oder plötzlich ihren Schritt beschleunigen, um das richtige Abteil zu erwischen, dann könnten sie genauso gut auf dem Weg zur Uni, ins Café oder auf eine Party sein. Ihr Verhalten fällt nicht aus dem Alltag heraus, sondern ist nahtlos in ihn integriert. Sie bewegen sich auf offener Straße unter den restlichen Fußgänger*innen, werden wie alle anderen von Überwachungskameras registriert, passieren im selben Tempo die Fahrkartenkontrollen, nutzen öffentliche Verkehrsmittel. Die Durchführung ihres minutiösen Plans basiert auf dem genau getakteten Fahrplan der Pariser Metro, der eine Perfektionierung des Zeitmanagements nicht nur ermöglicht, sondern alltäglich von uns allen abverlangt.
Was man sieht, betrifft den eigenen Alltag: die Blicke aufs Smartphone, nebenbei, in Bewegung – um Zeit zu sparen. Der eigene Körper ist den abrupten Wechsel zwischen beschleunigtem Gehen und nutzlosem Warten gewohnt. Die Bewegungen sind in die städtische Infrastruktur integriert. Die Metro, selbst eine mythisch aufgeladene Pariser Ikone, verbindet nicht nur touristische Wahrzeichen oder fährt Menschen zur Arbeit, sondern kann auch als Werkzeug für politische Organisation genutzt werden. Sie ist gleichzeitig kommunales Gemeingut und wichtige Grundlage für das Funktionieren einer profitorientierten Wirtschaft.
Tourist*innen gelangen effizient zu Sehenswürdigkeiten und Angestellte zu ihren Arbeitsplätzen. Gleichzeitig koordiniert der Taktfahrplan aber auch die Bewegungen der Jugendlichen und ihre Anschläge. Die öffentliche Metro generiert privaten Profit, ermöglicht aber gleichzeitig den Widerstand dagegen. Die erste Hälfte von Nocturama zeigt städtische Infrastruktur als Politik. Das zeigt sich auch an den Drehbedingungen: „So haben wir die Metroszenen in einem fast schon dokumentarischen Stil gedreht. Wir haben keine Location ‚privatisiert’. Wir waren immer mittendrin“, schreibt Bonello im Presseheft.
Ein dunkler Raum. Es ist Nacht. Die Jugendlichen spielen Games, die man nur in den Spiegelungen der Fenster hinter ihnen sieht. Sie hängen zerstreut durch die Wohnung, sprechen miteinander, wechseln den Ort. Alle mit allen und doch alle scheinbar für sich. Später tanzen sie im Gewimmel durcheinander, gehen kurze Bindungen ein und trennen sich wieder. Solidarisch und trotzdem völlig losgelöst sind sie entkoppelt vor sich hintreibende Einzelne: Auf sich gestellt, zusammen, in ekstatischer Trance, sediert.
Wer sind diese Jugendlichen? Sie gehören keiner bestimmten Klasse an, sind nicht Teil einer Minderheit oder Mehrheit. Manche scheinen aus gutsituierten Elternhäusern zu kommen, andere aus den Banlieues, manche aus postmigrantischen Familien, wieder andere aus dem französischen Etablissement. Sowohl Frauen als auch Männer, und auch da sind die Identitäten brüchig. Das einzige, was sie eint, ist ihr Alter. Sie planen politische Anschläge. Ihre Ziele sind das prunkvolle französische Innenministerium, ein goldenes Jeanne-D’Arc-Denkmal – das unter anderem als Ort einer jährlichen Zeremonie der Front National dient – und Institutionen der globalen Finanzwirtschaft wie beispielsweise die britische Großbank HSBC, die auf einer Liste von „globally systemically important banks“ des Finance Stability Board (dem unter anderem die Weltbank, die EZB, die EU-Kommission und Institutionen der G20 angehören) weit oben auftaucht.
Dieses Ideal bleibt offen, ausgestaltet zu werden. Was die Jugendlichen jedoch verbindet, ist eine gemeinsame historische Erfahrung. Sie sind alle in den 90er-Jahren geboren und in den 2000ern groß geworden. Ihre Vorstellungen von Zukunft sind geprägt durch Alternativlosigkeit: Margaret Thatchers Motto „there is no alternative“ hat sich europaweit durchgesetzt und ließ keine Möglichkeiten mehr für ein anderes Zusammenleben. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die mächtigste Gegenspielerin des kapitalistischen Westens definitiv gescheitert. Die sozialdemokratischen Regierungsparteien haben sich von ihrer Nähe zu den Gewerkschaften verabschiedet und die staatlichen Infrastrukturen und Schlüsselindustrien privatisiert, in Frankreich vor allem unter der Regierung von Lionel Jospin (1997–2002). Arbeit wurde zunehmend flexibel, sowohl zeitlich durch befristete Stellen, als auch räumlich durch global agierende Konzerne.
Der Soziologe Pierre Bourdieu schreibt 1997: „Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen lässt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allen Dingen jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.“ Oder anders gesagt: Wenn die Arbeitsstelle immer kurz davor ist auszulaufen, kann man keine langfristige Zukunft planen. Und ohne eine Vorstellung von Zukunft ist es schwierig, gegen eine schlechte Gegenwart und für eine bessere Zukunft zu kämpfen.
Die Folge ist eine Perspektivlosigkeit, die ein Gefühl des dumpfen konsequenzlosen Genusses hervorbringt, das der Kulturtheoretiker Mark Fisher als „depressive Hedonie“ bezeichnet: Privatisierte Emotionen, die wissen, dass die Lage schlecht ist, aber nicht wissen wohin damit und sich ohne Ziel in eine betäubte Party stürzen. „Diese Schwermut des Hedonisten“ findet Fisher in Alben wie Kanye Wests 808s & Heartbreak und „in der tieftraurigen Art, wie Drake in Marvin’s Room die Zeilen ‚We threw a party / Yeah, we threw a party’ singt“ wieder. Der Sound dieser Alben klinge wie die gespenstische Wiederkehr einer Party, die vor sich hintreibend die Leere der Oberfläche auskostet – eine Stimmung, die auch in der oben beschriebenen Partyszene widerhallt. Die Party der Jugendlichen ermöglicht zwar eine gemeinsame Solidarisierung, wirkt aber paradoxerweise gleichzeitig wie eine Verlängerung ihrer prekären Lage.
Die Partyszene steht komplementär zur Jobsuche der Jugendlichen: Eine Rückblende zeigt drei Mitglieder der Gruppe im Wartesaal eines Bürogebäudes sitzen. Zwei warten auf ein Bewerbungsgespräch, der Dritte arbeitet bereits in einem Café. Es geht um einen Job als Wachpersonal in einem Parkhaus – eine Branche, die in flexiblen Zeitplänen und oft über befristete Arbeitsverträge organisiert ist.
„Wie viele nehmen die?“ – „Keine Ahnung.“
„Suchst du schon lange?“ – „Fast ein Jahr. – „Ein Jahr? Krass… Suchst du richtig?“ – „Jeden Tag, aber nichts zu machen. Und du? Schon lange?“ – „Noch nicht so lange.“
„Stellen die einen sofort ein?“ – „Glaub ich nicht. Aber sie rufen sicher bald an. Hast du so was schon mal gemacht?“ – „Nein, ist mein erstes Mal. Und du?“ – „Nein.“
Ob einer der beiden den Job kriegen wird, ist ungewiss. Und auch wenn jemand die Stelle erhält, bietet sie keine Absicherung: Die meisten Stellen sind auf Zeit und können flexibel gestrichen werden. Jede*r könnte jederzeit den Job verlieren. Die Konkurrenz um die Stelle wird damit in die Arbeit selber hineinverlegt: Durch die „permanente Drohung des Arbeitsplatzverlusts“ werde die Konkurrenz um die Arbeit ausgeweitet zu „einer Konkurrenz bei der Arbeit, die jedoch im Grunde auch nur eine andere Form der Konkurrenz um die Arbeit ist“ schreibt Bourdieu. Und niemand will der oder die sein, deren Stelle gekürzt wird. Alle anderen werden zu Feinden, mit denen man um Ressourcen kämpft. Wer sich widersetzt kann schnell ausgetauscht werden. Wie will man sich da gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren?
Bourdieu schlägt vor, dass die Betroffenen trotz der Vereinzelung gemeinsam gegen die Prekarität kämpfen, um so die Konkurrenz untereinander „zu neutralisieren“. In Nocturama verwirklicht sich diese Forderung in der Aktion der Jugendlichen. Ihre zunächst scheinbar individuellen und voneinander getrennten Tagesabläufe verbinden sich in der Montage des Films zu einem koordinierten und kooperativen Handeln, das ein gemeinsames Ziel verfolgt. Von den beiden Bewerbern arbeitet einer später tatsächlich als Wachmann, aber anstatt seinen Konkurrenten bloß einen Arbeitsplatz wegzunehmen, ermöglicht er den Mitgliedern der Gruppe Zutritt zu versperrten Liefereingängen. Ein anderer nutzt das Privileg eines offiziellen Termins beim Innenministerium, um den Weg ins Gebäude durch die Hintertür zu öffnen. Die Zusammenarbeit über alle Unterschiede in sozialer Herkunft und gesellschaftlicher Stellung hinweg erscheint wie ein radikaler Gegenentwurf zu den Konkurrenzbeziehungen in prekären Arbeitsverhältnissen. Unabhängig von den konkreten Zielen ihres Handelns setzen sie allein durch ihre Kooperation ein politisches Ideal in die Tat um.
Auch die heterogene Zusammensetzung und spezialisierte Arbeitsteilung der Gruppe erinnert an Einbruchsteams aus Heist Filmen. In seiner Studie zum Genre weist Daryl Lee darauf hin, dass in der detaillierten Darstellung der Arbeitsvorgänge beim Heist immer auch eine Kritik an den herrschenden Arbeitsbedingungen formuliert wird, der die Kriminellen eine andere Form der Zusammenarbeit entgegensetzen: „Doomed or not, embedded in the desire to form a new social reality is a critique of society and its system of values, be they political, economic, aesthetic or other. At its most abstract, this represents a utopian impulse […] to form an unconventional collective on the margins of society.“ Nocturama greift das politische Potenzial des Genres in der Inszenierung der Anschläge auf. Am deutlichsten wird der Bezug zum Heist Film, wenn man zum ersten Mal alle Mitglieder der Gruppe zusammen in einem Bild sieht.
Sie sitzen an einem Tisch und besprechen, welchen Sprengstoff sie für die Anschläge verwenden werden. Dieser Moment entspricht der im Heist Film archetypischen Planungsszene. Als Wortführer erweist sich Greg, einer der Bewerber aus dem Wartesaal. Er ist als einziger deutlich älter als die Jugendlichen und übernimmt die genretypische Rolle des Mentors: Die Gruppe trifft sich in seiner Wohnung, er hat den Sprengstoff organisiert, besitzt offenbar kriminelle Erfahrung und gibt sein Wissen an die anderen weiter. Doch während der Anschläge fällt seine Aktion völlig aus dem choreografierten Plan heraus. Anstatt wie die anderen Bomben zu legen, erschießt er einen unbekannten Mann in dessen Wohnung. Auch Gregs Schicksal nach dem Mord bleibt ungewiss, er verschwindet einfach am helllichten Tag in einer Straße und damit aus dem Film.
Unter den Mitgliedern der Gruppe behält niemand als Mastermind den Überblick über das gesamte Geschehen. Niemand entwickelt aus der geteilten Unzufriedenheit ein gemeinsames politisches Programm. Alle bleiben verstrickt, niemand kennt den einen Ausweg. Aber die Jugendlichen sind keine Nihilist*innen. Die utopische Dimension ihrer Aktion erklärt sich nicht dadurch, wofür sie handeln, sondern zeigt sich darin, dass sie es tun. In der Weigerung, einfach immer so weiterzumachen wie bisher – egal wie flüchtig und instabil ihre Allianz ist und selbst wenn sie mit der Zündung der Bomben genauso schnell wieder zersplittert.
Es ist 19H15. Zum ersten Mal ist die Zeiteinblendung im Bild nicht an eine Handlung gekoppelt. Alles steht still. Nach den Bewegungen durch das Gewirr des Verkehrsnetzes zeigt Nocturama erneut ein Panorama über die Stadt und hält inne. Einzelne Häuser sind im Dunkel der Dämmerung kaum noch zu erkennen, aber die Silhouette des Eiffelturms markiert wie ein Markenlogo die Stadt. Wie für das Foto auf der Webseite von Lonely Planet stand die Kamera auf der Aussichtsplattform des Tour Montparnasse, gebaut im Rahmen der umstrittenen Stadterneuerungsmaßnahme Maine-Montparnasse, für die ab 1957 große Teile des von Armut geprägten Montparnasse-Viertels abgerissen wurden; heute ist das Bürohochhaus vor allem für seine Aussichtsplattform mit „Blick über Paris, auf den Eiffelturm und alle historischen Sehenswürdigkeiten der Stadt“ bekannt.
Als würde man den Blick schweifen lassen, nimmt die Kamera nun einzelne Sehenswürdigkeiten in den Blick: Auf das Panorama folgt ein Blick vom Tour Montparnasse über den Jardin du Luxembourg auf den Notre Dame, danach ein Riesenrad, das Centre Pompidou, und schließlich das französische Innenministerium, nun wieder von der Straße aus aufgenommen. Eine Bewegung runter vom Tour Montparnasse zurück in die Stadt. Einen kurzen Moment hält die Kamera vor dem Innenministerium inne, dann explodiert die erste Bombe. Die zweite lässt auf sich warten: Eine der Jugendlichen steht im Niemandsland zwischen Bürogebäuden und blickt auf einen Glasbaukomplex. Die Zeit verrinnt; die Kamera nimmt ihre aneinanderreihende Aufzählung wieder auf und schneidet kurz zur Statue von Jeanne D’Arc und vor den Palace Brongniart (der von Napoléon Bonaparte als Sitz der Pariser Börse in Auftrag gegeben wurde und heute den französischen Sitz der internationalen Börse Euronext beherbergt). An beiden Orten brennt es jetzt.
19H16: Die junge Frau blickt ungeduldig auf die Uhr. Wie im Showdown eines Westerns steht sie dem Glas-Tower gegenüber. Die drei Türme stehen stoisch da und erwidern ihren Blick, dann explodieren sie.
Mit der zweiten Explosion beginnt die Zeit zu zersplittern. Unterbrochen durch die Evakuierung des Luxuskaufhauses, in dem sich die Jugendlichen verstecken werden, wiederholt sich die Aufzählung in veränderter Reihenfolge erneut: Der Blick auf die Uhr, gefolgt vom Panorama über Paris, dem Riesenrad und dem Centre Pompidou. Zum Schluss mündet die zersplitterte Aufzählung in einen Splitscreen, der alle vier Explosionen gleichzeitig im räumlichen Nebeneinander auf der Bildfläche zeigt und sich in den viergeteilten Überwachungsaufnahmen aus dem Luxuskaufhaus fortsetzt. Ereignisse werden wiederholt gezeigt, Reihenfolgen verkehren sich oder breiten sich über die Bildfläche aus, als wäre eine Flüssigkeit ausgekippt. Die Zeit ist aus den Fugen. Sie zersplittert in kleine Stücke, in kleine Handlungen, in hedonistisches Feiern, eingekesselt in einem Luxuskaufhaus, in dem Ungewissheit und Angst steckt. Sprünge und Wiederholungen, vor und zurück, wie eine verbogene Schallplatte oder eine leicht zerkratzte CD.
Nach den Anschlägen treffen die Jugendlichen im Kaufhaus zusammen. Mit der Evakuation des Gebäudes verstummt das rege Durcheinander, der Ort bleibt wie ausgestorben zurück; die Rolltreppen halten an, das Licht geht aus. In der Dunkelheit findet die Kamera die Jugendlichen in ihren Verstecken wieder. Regungslos warten sie, bis eine Stimme die Stille durchbricht und Entwarnung gibt. Ein Mitglied der Gruppe hat das Sicherheitssystem unter seine Kontrolle gebracht. Für diese Nacht gehört das Luxuskaufhaus den Jugendlichen.
Der Plan scheint sich nahtlos fortzusetzen – erst der Heist, dann die Flucht ins Versteck. Trotzdem kommt es mit dem Wechsel in das Kaufhaus in der zweiten Hälfte des Films zu einem Bruch der Inszenierung. Während die Jugendlichen auf den Straßen von Paris trotz getrennter Wege durch eine gemeinsame Bewegung verbunden waren, verlieren sie sich nun in den weitläufigen Gängen des Kaufhauses. Bereits während der ersten Lagebesprechung sind alle Mitglieder in Großaufnahmen vereinzelt und auch danach finden sie nie wieder in einer gemeinsamen Einstellung zusammen. Auf die Zersplitterung der Zeit folgt eine zersplitterte Räumlichkeit.
Die räumliche Struktur des Kaufhauses erinnert an Fredric Jamesons Analyse postmoderner Architektur, die er 1984 exemplarisch anhand des Bonaventure Hotels in Los Angeles entwickelt hat. Wie dieses Gebäude zeichnet sich auch das Luxuskaufhaus durch eine rigorose Hermetik aus. Es hat keine Fenster und ist schalldicht gegen die Außenwelt abgesichert. Ein perfektes Versteck und eine sichere Falle. Schnell verbreitet sich ein Gefühl des Gefangenseins unter den Jugendlichen, treibt sie auseinander, auf Ausflüge durch die verworrenen Etagen. In seiner Abgeschlossenheit ist das Gebäude „darauf angelegt, als totaler Raum zu gelten, als eine in sich vollständige Welt, eine Art Miniaturstadt“.
Hier gibt es tatsächlich alles: einen Supermarkt mit Kaffee, Toastbrot, Wein oder Butterkeksen, eine voll ausgestattete Küche, Mode von Badeanzügen bis Hochzeitskleider, Armbanduhren, Ketten, Eyeliner, Lippenstift, Badewannen, Bademäntel, Betten, Fernseher, Soundanlagen, Spielkonsolen, Barbiepuppen, Strom und fließendes Wasser, Spielzeugwaffen, Feuerlöscher, ein Go-Kart. Alles wird ausprobiert, konsumiert, umfunktioniert. Doch bereits eine der ersten Erkundungstouren endet abrupt in einer Sackgasse, wenn einer der Jugendlichen, Yacine, nach wenigen Metern einer identisch gekleideten Schaufensterpuppe gegenübersteht. Die Verheißungen der grenzenlosen Einkaufswelten kollabieren schlagartig in endlose Wiederholungen. Selbst die Konfrontation mit dem künstlichen Doppelgänger wiederholt sich später im Film.
Für Jameson ist die vermeintliche Selbstgenügsamkeit dieser Architektur in zweifacher Hinsicht trügerisch. Erstens verdoppelt sie in ihren Innenräumen einfach die Strukturen der Außenwelt, anstatt eine echte Alternative zu entwerfen. Zweitens kappt sie alle Verbindungen zu ihrer Umgebung und lässt keine Aussicht auf Veränderung mehr zu. Die Jugendlichen befinden sich „Im Herzen von Paris“, wie es in den späteren Fernsehberichten heißen wird, und haben dennoch jeglichen Bezug zur Stadt und sogar ihren eigenen Taten verloren. Wie hypnotisiert starren sie auf die Videoübertragung der brennenden Anschlagsorte, ohne erkennbare Reaktionen.
Der totale Raum verhindert, sich in ihm zu verorten zu können. Die Kamera springt zwischen den Etagen von Person zu Person oder verliert sich mit ihnen in labyrinthisch verzweigten Gängen. Abteilungen scheinen zusammenhangslos aneinandergereiht. Produkte sind säuberlich sortiert, Farben und Formen heben sich klar voneinander ab und doch sieht im sterilen Licht der LED-Lampen alles gleich aus. Bis zum Schluss bleiben die räumlichen Verhältnisse im Ungewissen.
Die Unmöglichkeit, einen klaren Standpunkt einzunehmen, wird von Jameson auf „ein noch größeres Dilemma“ übertragen: „die Unfähigkeit unseres Bewußtseins (zur Zeit jedenfalls), das große, globale, multinationale und dezentrierte Kommunikationsgeflecht zu begreifen, in dem wir als individuelle Subjekte gefangen sind.“ Mehr als dreißig Jahre später scheint sich daran kaum etwas geändert zu haben. Die Gruppe in Nocturama zerfällt im zweiten Teil so schnell, wie sie sich im ersten formiert hatte. Die taktische Aneignung des Stadtraums schlägt um in orientierungsloses Herumirren, aus Anschlagszielen werden Zufluchtsorte, politische Aktion verkehrt sich in hedonistischen Konsum.
Und doch entzieht sich der Film dieser schematischen Gegenüberstellung. Denn die zersplitterten Räume eröffnen gerade in ihrer Zusammenhangslosigkeit unzählige Möglichkeiten, miteinander kombiniert zu werden. Im losen Nebeneinander abstrakter Formen, einfarbiger Wände und Spiegelflächen werden die Bilder selbst zu Splitscreens, kollagenartigen Oberflächen, auf denen sich immer neue Beziehungen herstellen lassen.
So beschreibt Bonello im Presseheft das Kaufhaus in ähnlichen Worten wie Jameson das Bonaventure Hotel, gelangt jedoch zu einer ambivalenteren Einschätzung des Ortes: „Ein Kaufhaus ist eine eigene Welt in der Welt. Eine Welt des Konsums, sicherlich, aber eine komplett autonome. Eine Welt der unendlichen Möglichkeiten, der Grenzüberschreitung und sei es nur für ein paar Stunden.“ Die Waren des Kaufhauses lösen sich für die Nacht aus ihrer materiellen Verwertungslogik, erlauben Spielräume für kreative Imagination. Wenn die Jugendlichen versuchen diese Freiheiten ausnutzen, dann schwanken ihre Handlungen zwischen banal und subversiv, erscheinen mal idealistisch, hedonistisch, verspielt oder ernsthaft.
Eine romantische Hochzeit wird genauso inszeniert wie Sexfantasien mit einer Schaufensterpuppe. Individueller Genuss trifft auf Solidarität, wenn ein Mitglied der Gruppe ein obdachloses Ehepaar in das Gebäude einlädt. In jedem Fall zeigt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Begehren, Wünsche, Ängste und Fantasien, die nicht einfach auf einen gemeinsamen Begriff gebracht werden können. Seinen Höhepunkt erreicht das Verkleidungsspiel in einer Karaoke-Performance von My Way: Frank Sinatras Hymne auf männliche Selbstbehauptung wird in der Version von Shirley Bassey gespielt, die von einer Frau statt einem Mann singt, und szenisch interpretiert von Yacine, mit Lippenstift und einer Perücke, die er sich im finalen Aufschwung der Musik mit großer Geste vom Kopf reißt. Abblende.
3H30. Die letzte Zeiteinblendung des Films. Es ist tiefste Nacht. Eine Katze schleicht in der Stille durch einen leeren Gang des Kaufhauses. Wenige Minuten später wird ein Sondereinsatzkommando auf demselben Weg lautlos in das Gebäude eindringen. Noch schlafen die Jugendlichen, oder streifen vereinzelt durch die Einkaufsläden. Nur Sabrina scheint den nahenden Tod zu ahnen. Ihr leerer Blick wird plötzlich vom brennenden Antlitz der Jeanne d’Arc-Statue erwidert. „On va tous mourir“ – „Wir werden alle sterben“ sagt sie wieder und wieder, das Gesicht in Schrecken erstarrt.
Ihre Erinnerung an die berühmte Märtyrerin erweist sich als Vision, wenn die nächste Einstellung das genauso fassungslose Gesicht eines anderen Jugendlichen zeigt. Er steht vor einer Wand aus Monitoren, deren Bilder alle die Außenseite des Kaufhauses zeigen. Noch beobachten die Fernsehkameras das Versteck aus sicherer Distanz, aber eine Folge langsamer Zooms auf die Jugendlichen nimmt den bevorstehenden Angriff bereits vorweg.
In der Außenperspektive erscheint das Kaufhaus nur als dunkle Fassade, eine Black Box, die von Medien und Regierung zum absoluten Feind erklärt wird. Anzahl und Identität der Terroristen seien unbekannt, heißt es in den Nachrichten, aber es handle sich um Staatsfeinde, daher sei eine Verhandlung nicht mehr notwendig. Die Vereinheitlichung der Gruppe ist hier sprichwörtlich Gewaltakt, sie legitimiert die unterschiedslose Tötung aller Personen im Gebäude. Sogar die beiden Obdachlosen werden später auf dieselbe kontrollierte Art mit einzelnen Schüssen exekutiert. Als sich die Neuigkeit allmählich unter den Jugendlichen verbreitet, zeigt eine Parallelmontage noch einmal ihre Heterogenität. David sucht mit Sarah nach einem Fluchtweg, André legt Sprengstoff in den Zugängen, Mika hat einen Alptraum, Omar tanzt zur apokalyptischen Ghetto-Paranoia von Chief Keef’s I Don’t Like und Yacine lässt sich ein Bad ein. Für die eindringende Spezialeinheit spielen diese Differenzen und Widersprüche keine Rolle mehr.
Als letztes Lied vor dem Angriff spielen die Jugendlichen Call Me von Blondie und Giorgio Moroder. Es ist der Titelsong von Paul Schraders American Gigolo, der wie kein anderer Film die Oberflächenästhetik der 80er-Jahre einleitete, in denen sich auch in den USA und Europa eine neoliberale Politik durchzusetzen begann. Unterbrochen von Aufnahmen der herannahenden Spezialeinheit drücken die Jugendlichen über die Dauer des Liedes das ambivalente Erbe dieser Zeit aus. In einem finalen Totentanz taumeln sie zwischen lustvollem Rollenspiel und Ekstase, Erschöpfung und Verzweiflung ihrem eigenen Untergang entgegen.