Three Men of Wisconsin: Johnny Guitar von Nicholas Ray

Just als man vergessen hat, wie gut ein Film wirklich ist, drängt er sich mit den drehenden Rädern einer stetigen Erinnerung zurück oder besser von Neuem in das Bewusstsein. Ein solcher Film muss nicht davon leben, dass man ihn sofort nachdem man ihn gesehen hat, wieder sehen will (er könnte trotzdem), ein solcher Film ist wie ein Duft, den man nie vergisst und immer bei sich trägt, auch wenn man ihn gar nicht riechen kann, so ein Film muss prinzipiell gar nichts, er ist ein stetiger Rhythmus, indem sich alles dreht, immerzu alles dreht: Das Spielrad, das leere Whiskeyglas, Joan Crawford mit einem Revolver in unsere Richtung. Sie dreht sich so, dass man kurzerhand einen menschlichen Körper mit einer Elegie verwechseln könnte. Ein Film, der einem scheinbar den kalten Rücken zeigt und dann voll ins Herz trifft: Dieser Film ist Johnny Guitar. (play again)

Alles dreht sich in diesem Licht des vor Farben pulsierenden Ozeans von Nicholas Ray. Ein Chip zwischen den Fingern von Scott Brady als Dancin‘ Kid, ein auf dem Boden liegender Revolver, auf den geschossen wird oder Joan Crawford (again) als Vienna (was für ein Name!). Immer steht sie mit ihrer Schulter und ihrem Rücken gegen die Musik von Johnny (Sterling Hayden), der eines Tages mit einem Sturm in ihrer Bar eintrifft, unbewaffnet und mit jenen Sprüchen und jenen Gesten (man achte darauf wie er sich vor einer Schlägerei entkleidet) ausgestattet, die ein ganzes amerikanisches Genre im Bruchteil einer Sekunde zum Kern führen. Vienna hat alles richtig gemacht und genau daraus entsteht eine Bedrohung. Sie ist Besitzerin eine Saloons im staubigen Nirgendwo, aber genau durch dieses staubige Nirgendwo wird die Eisenbahn fahren. Und plötzlich wird ihr Besitz zur Bedrohung. Der nahende Reichtum wird ihr streitig gemacht von einer Horde gieriger Männer und einer Furie. Ihr Name ist Emma und sie ist eifersüchtig, weil Dancin‘ Kid auf Vienna steht und nicht auf sie. In Johnny Guitar existiert ein Verlangen, das nie einfach nur materiell oder einfach nur sexuell ist. Es ist immer beides zugleich, verwinkelt, verschränkt und ja, sich drehend. Wie wir bald erfahren werden nachdem der Film seine kompletten Konflikte in einem Gefühl von Echtzeit im Saloon offenlegt, kennen sich Johnny Guitar, der eigentlich Johnny Logan heißt und Vienna von früher. Zwischen ihnen gibt es ein Geheimnis, ein Verlangen, eine Geschichte, doch zugleich auch einen klar formulierten Auftrag. Vienna hat den guten Mann (he wasn’t good, he wasn’t bad) zum Schutz anreiten lassen, er ist „gun crazy“, ein verrückter, aber brillanter Schütze, einer der nicht so aussieht, als ob, so wie vieles im Film, denn immer wieder drehen sich die Vorzeichen im Film. Das gilt zum Beispiel für die Wahrnehmung von Männlichkeit und Weiblichkeit, die immer dort zum Vorschein kommen, wo man sie nicht erwartet hat (zum Beispiel in den angeschnittenen Schultern einer Over-Shoulder Einstellung). Johnny Guitar ist ein Film, in dem sich Menschen umdrehen, um nicht ihre Liebe verraten zu müssen, zugleich ein Film über die Verdrängung der Zufriedenheit, die in uns allen schlummert, um Liebe in Hass zu verwandeln. Ein Hass, der aus einer Sehnsucht entsteht, die nicht mehr erreichbar scheint.

Sterling Hayden Joan Crawford

Viel frischer ist diese Sehnsucht noch in der Bande um Dancin‘ Kid. Dort wird nach einem Ritt durch einen Wasserfall (so ist das bei Ray, das ist ein Establisher, Cowboys reiten, aber sie reiten eben nicht einfach so vor einem schönen Hintergrund, sie reiten durch einen Wasserfall und man darf bestaunen wie sie sich Regenmäntel über ihren Kopf halten und darauf warten, dass dieser Wasserfall eine Bedeutung bekommt) eine Flucht geplant. Einer der Vier ist Lungenkrank, man will nach Kalifornien. Die Frage ist nur wie man an das notwendige Gold kommt. Doch die eigentliche Sehnsucht von Dancin‘ Kid ist Vienna, die nicht genug bekommen kann vom Geräusch des „spinning wheel“, das wie das Kino selbst läuft und klingt und in sich Träume und Geschichten vereint. Darin liegen die Narben einer verloren geglaubten Beziehung zu Johnny. Doch dieser ist zurück (what took you so long?) und er will diese Leere zwischen damals und heute als bösen Traum vergessen. Johnny und Vienna küssen sich unter Tränen. Es ist der Flug eines Melodrams, der meist endet wie Ikarus.

Haben wir schon die Farben erwähnt? Gelbe Kutschenräder, rote Halstücher, roter Lippenstift, gelbe Hemden, ein grünes Kleid bei Mercedes McCambridge, ein grüner Türrahmen, es ist so als würde jeder Farbspritzer für eine Erschütterung des Kinos stehen bei Ray. Das ist fast in all seinen Farbfilmen der Fall, aber in dieser kargen Wüste der Hoffnungslosigkeit wirken die Farben tatsächlich wie der Traum nach der Freiheit des Kinos selbst. Sie sind dieses Begehren nach etwas anderem, das nicht zuletzt auch im Filmemacher schlug. Hollywood, so hörte man später, war nicht die Welt von Nicholas Ray. Aber es sind auch Farben, die nach Blut verlangen.

Dann ein Samstagmorgen in einer Bank. Vienna und Johnny heben Geld ab, es ist die trügerische Stille der Romantik danach und die Brutalität dieser Welt stellt sich schon bald von Neuem gegen diese Liebe als die Gang um Dancin‘ Kid ausgerechnet in diesem Moment die Bank überfällt. Ausgerechnet der junge Turkey (Ben Cooper) bewacht den scheinbar unbewaffneten Johnny vor dem Eingang. Er weiß um die Fähigkeiten des Mannes mit dem Revolver, er hat Angst. Doch nichts passiert, Dancin‘ Kid verschwindet mit dem Geld und in einer letzten verzweifelten Geste küsst er Vienna, die ihn hindern wollte und wieder einmal gefangen ist zwischen ihrer Stärke und Schwäche, zwischen dem was sie will und mit welchen Waffen sie es bekommen kann. Nun gibt es ein Problem. Die Horde um McIvers und Emma will Vienna und ihre frühere Liebe Dancin‘ Kid schon lange in einen Topf stecken. Für Emma ist das eine Chance zur Rache, für McIvers eine Chance den Saloon zu bekommen. Nun waren Vienna und Dancin‘ Kid gleichzeitig in der Bank. Im Gesicht von Johnny regt sich zugleich Eifersucht und Sorge.

Johnny Guitar4

Nun wird der Staub der Gewalt endgültig entfesselt, Trauerschleier fliegen durch den Dreck und Emma und Konsorten beginnen ihre Jagd auf Dancin‘ Kid und schließlich auch Vienna. In einem flüchtigen Moment schreit ein Mann in den Bergen. Wir hören sein Echo. Die Gewalt hallt jetzt über die Zeit hinweg, die zuvor noch von Gefühlen einer verlorenen und wiedergefundenen Liebe beschallt wurde. Wir hören nur noch Wut und einen Sturm. Im Dämmerlicht erwartet Vienna mit Lederhandschuhen ihr Schicksal. Explosionen sind zu hören, der Weg über den Pass wurde gesprengt, es ist das Donnern nahender Gewalt. Langsam bewegt sich die Kamera auf die Überzeugung von Vienna zu und lässt dadurch ihre Fragilität darunter aufblitzen. Diese Blitze und Donner müssen natürlich in einem Gewitter enden. Pferde trampeln auf der Kamera herum, während wir, wie in Zabriskie Point dem Rhythmus von Explosionen lauschen und die durch die Luft wirbelnde, rote Erde wie Sternschnuppen am Himmel bestaunen, die von einer unmenschlichen Kraft erzählen. Es ist die Kraft der Vernichtung, die von der ersten Sekunde über diesem Film hing. Für Johnny ist der Weg aus dieser Vernichtung eine andere Vernichtung, nur Vienna will etwas anderes, ihre Tränen sprechen von der Unmöglichkeit dieses Andere zu erreichen. Jetzt verschließen sich die aufgeplatzten Narben ihrer Liebe wieder wie von selbst. Kühl zahlt sie Johnny aus. Keine Spur mehr aus der vergangenen Nacht wäre da nicht diese Titelmelodie, dieses Motiv einer anderen Zeit und Sehnsucht. Und wären da nicht die Schultern von Vienna, die sich immerzu umdrehen wollen, es aber nicht tun.

Am Wasserfall (den wir schon kennen) fällt Dancin‘ Kid und seinen Begleitern auf, dass Turkey fehlt. Wir haben ihn bereits gesehen, sein Hals ist voller roter Farbe. Sie müssen weiter, es geht durch den Wasserfall hindurch hinein in ein Finale, das uns schon früher durch ein musikalisches Signal angedeutet wurde: Die Silbermine. Es ist auffällig, dass alle verfeindeten Gruppierungen untereinander Konflikte austragen. Es geht um jedes Individuum, jedes Überleben, jeder für sich und die Liebe und Geld gegen alle. Die Haltung von Emma, der rachedurstigen Furie, leicht gebückt als wäre sie Richard III., eine Rage, die zur Hysterie der Verfolgung passt. Der Film wurde von der Leine gelassen an einem bestimmten Punkt und all die Nostalgie und Melancholie schlägt um in blanke Panik. Die komplett in schwarz gekleidete Trauergesellschaft verwandelt sich spätestens mit Emmas Monolog des Hasses gegen Vienna in eine Jagdgesellschaft. Boys who play with guns have to be ready to die like men…

Als die nächtlichen Jäger an Viennas Saloon ankommen, vermischt sich das Blut ihres Lippenstifts mit dem Make-Up der Wunde von Turkey. Es ist nicht einfach nur Nacht geworden bei Nicholas Ray. Es ist eine emotionale Finsternis und eine Erwartung in der Dunkelheit. Und dann passiert es. Emma stürmt als erste den Saloon (vielleicht tut sie es gar nicht, aber in meinem Kopf muss sie es tun) und in einem weißen Kleid sitzt Vienna am Piano und spielt jene Melodie des Herzens, würdevoll und stolz ihr weiß gegen das schwarz von Emma. Welcher Wind weht durch diesen Augenblick! Und dann brechen aus Vienna alle Ungerechtigkeiten, die ihr in diesem Amerika widerfahren, einer Welt – nicht so fremd von unserer – in der Besitz und Nationalität komische Gemeinsamkeiten bekommen haben im Denken der Menschen. Doch Ray muss den Schock des Verrats inszenieren, er verrät seine Figur, um sie zu stürzen. Turkey fällt und macht sich bemerkbar. Er lügt, um seine Haut zu retten und verrät damit Vienna als mitschuldig am Bankraub. Ray zeichnet hier gnadenlos die Methoden einer Verfolgung, die in jener Zeit in den Vereinigten Staaten an der Tagesordnung waren. Es sind diese Szenen, in denen das pure Kino von Ray in den ideologischen Bewachern der repräsentativen Möglichkeiten des Kinos seine Befürworter findet. Dabei greifen diese Szenen weit über ihr politisches Gehalt hinaus, denn wenn man auf die Gesichter der Kläger blickt, dann spielen sich hier weit mehr Emotionen ab, als dass man diese alleine im Politischen greifen könnte. Alleine die Haltung von Turkey deutet auf eine religiöse Konnotation hin, seine Arme weit ausgestreckt, er wird gekreuzigt, trotz oder gerade wegen seiner Verleumdung. Die Unschuld selbst sitzt im Hintergrund in Weiß und erträgt das Geschehen, ängstlicher Schweiß steht im Gesicht von McIvers. Es ist eine allgemeine Orientierungslosigkeit, die sich letztlich nur in jener Sinnlichkeit entfalten kann, die Ray in jeder dieser Sekunden entfesselt. Was wir sehen, ist nicht eine politische Parabel sondern die pure Präsenz ihrer Bedeutung.

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Es kommt zu einer Schießerei. Tom, der Vienna retten will, stirbt. Er sagt, dass alle ihn ansehen würden. Es wäre zum ersten Mal, dass er sich wichtig fühle. Jetzt ist er völlig da im Kino von Ray, weil er in ebendiesem verschwindet. So ist es bei diesem Filmemacher. Und weil es so ist, muss der Saloon auch brennen. Emma entflammt ihn. Die Furie, ihr Schatten in den Flammen, das Gewitter, die Explosion, die Musik ist auch entfacht, ein Rausch der emotionalen Gewalt. Es ist klar, dass sie sich dreht im Moment ihrer größten Bösartigkeit, als ein Lachen der Zerstörung über ihr Gesicht fällt. Alles dreht sich. Turkey wird gehängt. Erstaunlich die Verzögerung in der Reaktion von Vienna und auch bemerkenswert das Entsetzen auf den Gesichtern der Täter. In der Folge soll Emma auch gehängt werden. Emma besteht darauf. Aber niemand will es tun. Sie schreit, dass sie 100 Dollar bezahlen würde, wenn es jemand erledigen würde. Ihre Stimme bekommt ein Echo aus den abgekühlten Felswänden der Nacht. Es ist ein einsamer Schrei, ein verzweifelter Schrei und es ist die Täterin, die hier nach Hilfe schreit. Emma muss es selbst erledigen, aber Johnny (my Johnny) hat die Schnur durchtrennt. Gemeinsam reiten Johnny und Vienna durch die Nebelschwaden der Kinonacht. Sie verstecken sich. Why did you come back?-First chance I ever could have been a hero.

Jetzt zeigt Ray wie man einen Raum filmisch dynamisiert. Zuerst glauben wir, dass sich Vienna und Johnny in einem kleinen, engen Versteck befinden. Eine nahe Kameraposition, links und rechts ist geschlossen, keine Bildtiefe. Dann plötzlich ein Schnitt, ein Schwenk, wir befinden uns in einem ganzen unterirdischen System, Gänge verlaufen dort und dort hängt auch Wäsche. Vienna rennt zur Wäsche und von oben bricht plötzlich ein brennendes Stück in das Versteck. Viennas Kleid fängt Feuer und während am unteren Bildrand die Flammen tanzen, löscht Johnny die Flammen in einer Hysterie, die jetzt keine Sicherheit mehr zulässt. In ihr besteht die unter all der Gewalt treibende Eifersucht und während sich Vienna endlich in ihr Rot kleidet (ihr Rot, weil ihre Lippen danach lechzen seit sie zum ersten Mal auf der Leinwand erscheint), gesteht sie Johnny in ihrer typischen Art ihre Liebe. Ray trennt die beiden Protagonisten räumlich in diesem Dialog, aber als sie in das Bild kommt, gibt es diese Sekunde einer Sicherheit, die Johnny und die Liebe leben lässt. Am Ende der Nacht fliehen die zwei Liebenden durch die Müdigkeit des Tageslichts. Sie schwimmen (lächeln) und rennen durch den Wasserfall. Es ist erstaunlich wie schnell und explosiv Ray seinen Rhythmus variieren kann, ohne dabei die Seele seines Films zu verletzen. Das liegt unter anderem daran, dass die Seele von Johnny Guitar in der puren Bewegung liegt. Johnny und Vienna kommen an der Silbermine an. „All dressed up and looking mighty dangerous“, ein Dialogfetzen aus dem Film, der auch als Beschreibung desselben herhalten würde. Nochmal ein eifersüchtiges Abtasten zwischen Dancin‘ Kid und Johnny Logan, Logan ist der Name, wie auch der schluckende Tänzer feststellen muss. Es ist beachtlich, dass wir hier einen Westernhelden haben, der tatsächlich mehr mit Gene Kelly als mit John Wayne zu tun hat. Vielleicht kann er deshalb auch nicht der wirkliche Held sein, aber manches an ihm könnte. Er dreht sich, ein Kampf mit Johnny, sie umkreisen sich. Die unbeholfene Rauheit eines herzensguten Mannes gegen die elegante Angst eines undurchschaubaren Mannes. In der Zwischenzeit finden die Verfolger mit Hilfe des Pferdes von Turkey das Versteck. Sie schreien durch das Echo der Bergwand, sie würden nur reden wollen.

Schließlich entfesselt sich die Hässlichkeit eines morallosen Überlebenskampfes im durstigen Staub über den charakteristischen Hügeln des Genres. Emma entlädt ihre Frustration auf das Glas hinter Vienna. Sie darf noch nicht treffen, denn die Angst muss jederzeit greifbar sein hier. Emma wird treffen, sie wird getroffen, sie fällt. Wheter you go, wheter you stay, I love you. Am Ende sehen Johnny und Vienna so aus als würden sie am liebsten diese Welt verlassen: There was never a man like my Johnny, like the one they call Johnny Guitar.

Bei einem solchen Film stellt sich durchaus die Frage, ob man mehr den Mythos darum liebt als den Film selbst. Es ist Johnny Guitar, das bedeutet auch die Liebe von Jean-Luc Godard, João Bénard da Costa oder Jeanne Balibar. Lange Zeit hatte ich den Film nicht gesehen und war mit den Worten und der Musik dieser Vermittler und Künstler alleine geblieben, in ihrer euphorischen Zuneigung hat sich auch bei mir das Bewusstsein jenes Films weiterentwickelt. Jedoch konnte mich tatsächlich nichts auf die tatsächliche Begegnung mit jener Bewegung vorbereiten. Johnny Guitar ist ein Film über den man gerade deshalb ins Schwärmen gerät, weil man immer wieder von seiner Präsenz überrannt wird, eine Präsenz, die in einer Liebe aufgeht, für die es keine Worte gibt. Vielleicht ist es die Titelmelodie, die wie ein Echo die Bilder jagt und von jener Ebene erzählt, die nicht nur zwischen den Figuren stattfindet sondern schließlich auch zwischen dem Film und dem Zuseher und dadurch am ehesten jenem Gefühl Ausdruck verleihen kann, das so viel Schönheit in sich trägt. Ein Film, in dem sich alles dreht.

Three Men from Wisconsin: Wind Across the Everglades von Nicholas Ray

Nicholas Ray Wind Across the Everglades

Ein Vogelschwarm hinter dem Logo der Warner Brothers, willkommen im „Wonderland of Wild Life“, Wind Across the Everglades. Dann: Krachende Schüsse zerfetzen den Frieden im Kinosaal. Nicholas Ray meldet sich zurück mit einem Film, der durchdrungen ist von einem sumpfigen Dampf am Ende der Zivilisation und von einem Wettstreit zwischen einem Öko-Bewusstsein und der Grausamkeit einer „Friss oder Stirb“ Logik. In früheren Besprechungen des Films taucht der Name Nicholas Ray gar nicht als Hauptverantwortlicher auf, denn der Filmemacher wurde gegen Ende der Dreharbeiten gefeuert von Budd Schulberg, der das Drehbuch schrieb und damit, die ihn sonst umwehende Stadtluft hinter sich ließ. Von Anfang an wird hier die Gewalt von Fortschritt gegen die Schönheit und Funktionalität einer unberührten Natur gestellt. In dieser Hinsicht kann man zumindest von einer entfernten Verwandtschaft des Films mit On Dangerous Ground sprechen.

Der engagierte Walt (gespielt von Christopher Plummer) kommt nach Florida, um dort Gesetze durchzusetzen, die Vogeljagd einschränken sollen. Er trifft schnell auf das Unverständnis einer kapitalistisch-dekadenten Gesellschaft, die Ray mit ausufernden Federn auf Hüten zeigt und die Gesetzlosen selbst, einer verrückten, gewalttätigen Bande rund um Cottonmouth (Burl Ives in mächtiger Präsenz mit noch mächtigerem rotem Bart). Die Dramaturgie folgt also einem Western-Prinzip. Inmitten dieses Konflikts platzt eine der unmotiviertesten Liebesgeschichten, die ich mir vorstellen kann. Man vergisst sie schon während man sie sieht. Was man nicht vergisst, das sind die Bilder der Natur, die hier fast im Stil einer Tierdokumentation präsentiert werden. Krokodile, Schlangen, Eulen, Pelikane, allerhand Vögel, sie werden in einem Kreislauf gezeigt, der gestört wird. Sicherlich nichts neues, aber Ray schleudert seine erbarmungslose Kraft in diese Landschaft und verwandelt sie in ein sinnliches Reich der flüchtigen Eindrücke, Ausdrücke und eines beständigen Drucks, der sich nur in zwei Varianten entladen kann: Dem Alkohol und dem Blues. Der Alkohol wird hier in Massen konsumiert, er schlägt eine Nähe zum Wahnsinn und zur Gewalt vor. Das Vulgäre und Barbarische tropft durch die triefenden Gesichter einer Männlichkeit um Cottonmouth, die sich weniger als Teil der Natur, denn als ihre notwendige Fortsetzung versteht, sie ertragen alles und ersparen sich und ihren Feinden nichts. In gewisser Weise erinnert der Film an Deliverance von John Borrman (auch sonst ein Mann der Sümpfe). Es geht zurück in einen Überlebenskampf ohne die Regeln der Zivilisation, in der sich Männlichkeit, Natur und Freundschaft neu definieren.

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Der zweite Ausweg, der Blues, das ist auch der Rhythmus des Films, der sich immer wieder in ein Tempo davontragen lässt, das nicht ganz passen will und dann doch wieder in seine Stimmung fällt, als würde das beständige Klingen des verrauchten Klaviers in der Spelunke, von einem labilen oder nervösen Mann stammen, der zum Beispiel darum weiß, dass es im Blues eine Frau geben muss, der aber eigentlich an ganz andere Dinge denkt, an die Schönheit von Flügelschlägen in der Sonne zum Beispiel oder an einen Hut, der zufällig auf dem Wasser landet. Wie viel Kino in einem Hut liegt, der von einem Kopf zu Boden fällt, hat wohl außer John Ford nur Nicholas Ray wirklich verstanden. Beständig scheint er auf der Suche nach dem Kino in einer Bewegung, der Bewegung des Kinos.

Überlebenskampf bei Ray beginnt immer wie ein Spiel, wird zu einer Unsicherheit und endet schließlich in der beständigen Bedrohung des Todes. Es ist ein wenig wie der Gang des Lebens selbst, nur dass in seinen Filmen immer wieder die Chronologie des Älterwerdens hinterfragt wird, da wir uns ständig am Ende einer Unschuld bewegen, egal wie alt die Figuren letztlich sind, eine Unschuld, die das Fatale sucht, das Ideale will und dadurch schon in der Ausholbewegung eines Messerstichs über das eigene Scheitern unterrichtet wird von einer Erbarmungslosigkeit, die sich nie wirklich so anfühlt, aber doch immer über allem schwebt. Diese Unschuld in Wind Across the Everglades verläuft zwischen der Natur und ihrer Beherrschung, der Beherrschung der Natur und der beherrschenden Natur.

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Three Men of Wisconsin: The Lusty Men von Nicholas Ray

About the Fiction of Manhood

The sound of names/the place you were born/the legend that comes with your name/the pain of ambition/an American nightmare/a woman’s film

(Every time you hear that loudspeaker announcing they’re coming out, you know he’s going to be there drunk and scared. Your heart will stop inside you.)

Jeff McCloud, Bandera, Texas. Jeff’s coming out on a bull called razor, cause he’s given a lot of cowboys a close shave. Shorty West from Blackton, Idaho, on a bull called Round Trip. Slim Avery, who hails from Reno, Nevada. Wes Merritt of Big Springs, Texas, is coming out on High Voltage. We move along now to Pete Mendoza from Santa Fe, New Mexico, who’s riding a horse called April Fool. Wes Merritt of Big Springs, Texas. Craig Dunlap of Logan, Utah.

Mitchum Lusty Men

Last time Booker broke it, doctors wanted to cut it off. It was up in Denver. He got some crutches and headed for New Mexico. A big blizzard came up. had to pull into a motel. had no sooner got in bed. Than my leg started hurting pretty bad. Finally, I pushed my bed over to the window and stuck my leg out. Soon the leg froze up, and the pain went away. Next morning, I thawed it out and drove on to Santa Fe. I won four firsts that day.

Mickey Clayborne from Peekskill, New York, is getting ready to come out on double-cross. Dawson keeps him in the string. Having trouble with Sky High. Wes Merritt of Big Springs, Texas, riding Devil Dancer. Buster Burgess of Butte, Montana. Wes Merritt of Big Springs, Texas. Hazing for Wes Merritt is a familiar name and face to rodeo fans, Jeff McCloud.

Cowboys ain’t tough like they used to be. Two years ago in Phoenix, a steer kicked me in the eye. I covered my face with my hands. Old John Anderson says, „Are you hurt, Book?“ I says, „I believe so.“ Took my hands off my face. Old john fainted plumb away. Another cowboy come running up to me. I said, „Something’s dangling. I believe it’s my eye.“ He said, „Well, it sure is.“ So he got me a doctor. Took 17 stitches around my eye. Next day I won first prize in the saddle bronc riding.

Mitchum Lusty Men

Brahma bulls have been known to jump an 8-foot fence from a standing start. Red, tell him what Yo-Yo done to Stubby Johnson. He threw Stubby halfway across New Mexico. then he run him down and near gored and stomped him to death. He’s kind of mean.

Arnold Barry on Spitfire. Chuck Peterson from Calgary, Canada, riding a bull called Night Life. Buster Burgess of Butte, Montana on a bull named Time Bomb. Cliff Roberts of Alexander, Louisiana will ride Spring Fever. Wes Merritt’s riding the first bull of his career.

Once, my ma was loping across the Great Plains on a paint horse. Kiowas was after her. She was about ready to foal. Suddenly, she got a pain in her stomach. She got off the horse, and I was born. While I was being born, the paint horse had a colt. The Kiowas was closing in. She jumped on the horse, I jumped on the colt, and I’ve been riding horses ever since.

Starting off with Red Clauson from Kearney, Nebraska, on a horse called Politician. They’ve got this one named right. He don’t seem able to figure where he’s going. Wes Merritt, from Big Springs, Texas on a horse called Acey-Deucy. Walt Matthews coming out on ride away.

The Lusty Men Robert Mitchum

I’m so thirsty, I could drink water.

Jeff McCloud of Bandera, Texas. Wes Merritt of Big Springs, Texas. Bob Elliott of Newhall, California. next out, Wes Merritt. Wes will try his hand on one of Al Dawson’s top broncs…Black Widow. Pete Fox from Rapid City, South Dakota, is coming out on War paint. Looks like war paint is really on the warpath today. Jeff McCloud of Bandera, Texas, the former saddle bronc champion of the world, will come out on a horse called Lightning Rod.

He’s much of a man.

Craig Bentley of Salinas, California, is coming out on the Drifter. Wes Merritt, Big Springs, Texas. Wes Merritt of Big Springs, Texas on a horse called Meditation. Rocky Davis from Austin, Nevada, coming out on quicksand.

(broken bones, broken bottles, broken everything.)

Three Men of Wisconsin: We Can’t Go Home Again von Nicholas Ray

Eine regelrechte Bilderflut als avantgardistischer Ausraster, den Nicholas Ray hier nicht immer großartig, aber doch ehrlich in seiner Hilflosigkeit auf die Leinwand wirft, ist We Can’t Go Home Again definitiv eine der bizarrsten Erfahrungen, die man mit einem Filmemacher je gemacht hat. Im Österreichischen Filmmuseum habe ich selten so viele Walkouts erlebt. Ein Mann, der aus Hollywoodkino Explosionen hervorgezaubert hat, gibt seine Karriere praktisch völlig auf, um einen äußerst konsequenten und nicht immer angenehmen Avantgarde-Film zu machen. Der Film hat – wie man ihm ansieht – eine schwierige und erstaunliche Produktionsgeschichte, die man unter anderem bei Gabe Klinger besser nachvollziehen kann. Einfach und unschuldig formuliert, ist We Can’t Go Home Again ein Projekt, das Nicholas Ray zusammen mit einer Gruppe von Studenten realisiert hat.

Zunächst sollte man vielleicht das Bild beschreiben, das sich da vor einem in der Zeit ausbreitet. Es ist selten ein Bild, es sind meist mehrere Bilder, die sich aus völlig unterschiedlichen Formaten zusammensetzen. Im Hintergrund ist ein Standbild beziehungsweise eine Fotografie erkennbar, deren farbliche Intensität ungefähr zur Zeit der Filmproduktion in den 1970er Jahren passt. Darüber findet sich ein kleineres, schwarzes Quadrat, indem verschiedene kleine Bildausschnitte nebeneinander und übereinander ablaufen. An einigen Stellen verschwindet dieses Quadrat und die Größe der Bildausschnitte verändert sich. Meist sind es Fetzen, die einem hingeworfen werden, wilde Vermischungen aus politisch aufgeladenen Bildern, dem Studentenalltag (Ray hatte sich mit einer kleinen Gruppe von Verschworenen in eine abgelegene Hütte verzogen), gestellten Szenen und abstraktem Film- und Videorauschen. Visuelle Finten werden mit dem ständigen Eindruck von fragmentarischen Sprachfetzen (die Soundkulisse erinnert an Warhol-Filme), real wirkenden Erzählungen, Sexualität und einer Bewegung durch so etwas wie eine amerikanische Seele kombiniert. Es ist ein rebellischer Akt und vielleicht eines der größten Fuck-Its der Filmgeschichte. Ray, den wir bislang auch bei der Wisconsin Schau als einen zugegeben eigenwilligen Filmemacher kennengelernt haben, aber als einen systemtreuen Künstler, verabschiedet sich hier völlig aus seinem gewohnten Habitat. Darauf vorbereiten konnte einen nur Wim Wenders Lightning Over Water, der leider – so muss ich nun sagen – bereits einige Zeit vor We Can’t Go Home Again gezeigt wurde. Die Seele von Ray wurde uns schon durch seine Augen präsentiert und so konnte ich den Schock dieser Offenbarung des Filmemachers kaum mehr folgen.

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Es bilden sich narrative Linien in diesem Chaos, das eigentlich keinen Platz für sie hat. Aber die wilden Zwischenschnitte auf Zuhörer, die offenbar gar nicht im gleichen Raum sind, die Manipulationen des Materials, das Figuren immer wieder in Flammen (es handelt sich dabei um einen Video Synthesizer) aufgehen lassen oder die Spuren von Sprache und Persönlichkeit, von Humor und Drama, vereinigen sich zu einem nicht immer sinnlichen, aber doch faszinierenden Mosaik von Erfahrungen, die es gegen Ende des Films tatsächlich vermögen zu einem scheinbaren Kernproblem des Filmemachers zu kommen: Wie gebe ich Erfahrung weiter? Was kann ich euch beibringen? Gleichzeitig betrachtet man hier die Lebenslinien der Studenten, die sich immer zwischen einer Fiktionalität und einer Dringlichkeit bewegt, die mit den tatsächlichen Lebensläufen der Figuren harmoniert. Dabei geht es dann tatsächlich, wie so oft bei Ray, um einen Generationenkonflikt und die Verunsicherung gegenüber einem nächsten Schritt, wohin dieser auch immer führen soll. Einer der einnehmendsten Figuren ist dabei Tom Farrell, der auch in Lightning Over Water eine wichtige Rolle spielt und später in einigen Filmen von Wim Wenders mitwirken sollte. Nicht nur seine Blindheit auf einem Auge, die ihn zu einem merkwürdigen Spiegel für den älteren Ray macht, sondern auch seine inneren Konflikte, die in der vielleicht stärksten Szene des Films kulminieren, einer Rasur, die sich zwischen fast friedlichen Bildern einer gewaltvollen politischen/sozialen Umgebung vollzieht und damit von einer inneren Flucht erzählt, die Narben hinterlässt, lassen ihn zu dieser zentralen Figur im Film werden.

Fast alle Erzählungen, denen man im Film folgen kann, handeln von einer Flucht vor der eigenen Identität. Ray selbst macht diesen Film mit Studenten, wirft alles über den Haufen und flirtet im Film gleichzeitig heftig mit Selbstmordgedanken, ein anderer Student erzählt von einer extremem Diät, eine Studentin prostituiert sich. Film entsteht hier vor unseren Augen als Manifestation einer Flüchtigkeit. Es geht um eine Unsicherheit gegenüber dem Selbst. Eine Sexszene, in der die die Frau Panik bekommt, weil ihr Partner eine Maske trägt, ist Sinnbild für diese Ängste. We Can’t Go Home Again ist ein Film, der bereits im Titel von den Konsequenzen dieser Flucht vor dem Ich und Flüchtigkeit der Identitäten erzählt, es ist ein Projekt, das in der inneren Hölle ein Paradies sucht statt – wie so oft im kommerziellen Kino – eine Hölle im Paradies zu finden. Das bedeutet, dass Ray hier wagt, in sich selbst zu blicken, um sein Leben metaphorisch zu beenden. So ganz fängt Ray das Gefühl dieser Flucht aber nicht ein, denn zu stark ist der Impetus des „Wir“ als abgegrenzte Gruppe einiger Freaks. Es ist kein Film der Identifikation und kein Film der puren Atmosphären, dennoch gelingt es ihm Bilder einer Studienerfahrung zu zeichnen, also ein Bild dessen, was sich dort zugetragen hat. Es ist nur so, dass auch diese Bilder flüchtig sind und man sie deshalb weder aufsaugen kann noch darin schwelgen will (obwohl dies bei mancher musikalischer Einlage gelingen mag), sondern sie anschauen muss.

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Trotz all dieser Qualitäten wirkt der Film manchmal wie ein nerviges Kunststudentenprojekt voller Ideen, die ihre eigene Existenz mehr lieben, als so etwas wie den Film. Ohne Ray würde dieser Film gar nicht funktionieren, man würde ihn wahrscheinlich nicht anschauen. Als wildere Version von Andy Warhols Chelsea Girls oder Jean-Luc Godards Numéro deux fehlt hier – außer in den letzten Bildern des Films – jene Kapazität eines dritten Bilds, das zwischen den Splitscreen-Meditationen der beiden genannten Filmemacher zum Vorschein kommt. Es wirkt oftmals sehr willkürlich und so bleibt letztlich die Rotzigkeit des Unterfangens deutlich präsenter, als die Poesie oder das Handwerk. Doch einer Sache kann sich der Filmemacher Nicholas Ray bezüglich der Poesie dann doch nicht entziehen. Es ist die Farbe Rot, die er selbst so oft trägt, dieses pulsierende Rot, auf das er scheinbar ein Patent hat. Es tropft durch den Film, lässt manche Bilder erscheinen wie das Cover eine White Stripes-Albums und frisst sich schließlich in eine Erinnerung, die jener Flüchtigkeit entgegenwirkt, die der Film so sehr in einem hervorruft.

The poet of nightfall lives in Vienna (Three „Boys“ of Wisconsin)

„Without any doubt, the most constant privilege of the masters is that of seeing everything, including the most simple mistakes, turn out to their advantage rather than diminishing their stature. If you are now surprised to see me give the benefit of this law to Nicholas Ray’s latest film it means you are ill-prepared to appreciate a work which is disconcerting and asks for, not indulgence, but a little love.“ (Jacques Rivette, Cahiers No.27)

Party Girl

1. Went to the Cinema

2. (I never forget myself )

3. Watched and forgot myself

4. Dreamed with new eyes (someone invented the color red again)

5. Can’t go home again

6. I live by night(fall)

7. Walked through a city that seemed like a cinema

8. Images are still exploding in my eyes

9. If fading youth feels like that – I want it to fade forever

10. Went back to the Cinema

(I know there have been many love letters to Mr. Ray before and I am asking myself why. Many of his films seem to invite even the most critical viewers to forget their intellectual or basic pain. I think that you can find out if someone loves cinema with Nicholas Ray. If one is excited with a film like Party Girl, one is in love because one can’t tell why. There is really no reason. He is not the type you were looking for. If one has doubt about one’s love to cinema, one can find a new light there, a new pleasure because some of those films are like an island that tells us: It is not that complicated. But maybe he is just a lover for a few nights. Truffaut has called him the poet of nightfall and he was right about it. The only place where the night always falls is cinema. Maybe in a world outside of cinema, maybe even in your own world Nicholas Ray is of no significant importance…but as soon as you enter any cinema, as soon as you try to look with the eyes of cinema, Nicholas Ray is a defining poet. Don’t forget (maybe the reason for all those love letters) even if there is no cinema near you.)

Three Men of Wisconsin: The Criminal von Joseph Losey

Zwei Welten treffen beständig aufeinander in Joseph Loseys bisweilen irrsinnigen und jederzeit faszinierenden The Criminal. Einmal jene Welt der Kriminellen, der Untergrund, der vor allem durch die beengenden Einstellungen (eine großartige Kameraarbeit von The Third Man DOP Robert Krasker) im Gefängnis charakterisiert wird und zum anderen Swinging London, eine Gesellschaft der Moderne, Jazzklänge und ein verspielter Umgang mit dem Leben und Film. Schon gleich in der ersten Szene zeigt sich, wie avanciert Losey mit solchen Gegensätzen umzugehen weiß. Eine Gruppe merkwürdiger Gesellen mit schiefen Gesichtern sitzt dort in faszinierenden, fast bressonianischen Naheinstellungen beisammen, sie spielen Karten und man wähnt sich im Hinterzimmer einer Spelunke, so oder so, in der absoluten Freiheit. Doch irgendwann fährt die Kamera zurück und offenbart die Enge des Zimmers und gleich bemerkt man, dass man sich in einem Gefängnis befindet. Diese Sprengungen unserer räumlichen Wahrnehmung finden sich immer wieder im Film. So hört man in einer Szene im Haus des Protagonisten Johnny Bannion (Stanley Baker, in Rauheit verletzlich) etwas irritierende Klaviertöne, die auch wunderbar in den grandiosen Jazz-Score von John Dankworth passen würden. Jedoch offenbart sich mit fortlaufender Dauer der Szene, dass ein Mann im Haus das Klavier stimmt. Wir sehen ihn erst nach einiger Zeit. Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten mit Raum und Interaktionen im Raum zu spielen, ganz so, als wäre Losey selbst ein Jazzmusiker, bei dem jeder Ton in eine neue Richtung zeigen könnte. Die anhaltende Ambivalenz seiner Figuren, zu denen man selbst am Ende des Films kaum eindeutig Stellung beziehen kann, ist Teil dieser gewollt-widersprüchlichen Inszenierung. Hervorstechend dabei ist ein stolzer, verletzter, bösartiger, ängstlicher, steifer, widerwärtiger, komischer, ruhiger, penetranter, ungeschickter, präziser, egoistischer Auftritt von Patrick Magee als Gefängniswärter. Figuren, die so spannend sind, das man seine Augen nicht von ihnen nehmen kann.

Offensichtlich ist der amerikanische Filmemacher, der sich hier unmittelbar vor seinem totalen Durchbruch als großer Name des europäischen Kunstkinos befand, inspiriert von Trends, die sich Ende der 1950er und Anfang der 1960er in Europa durchsetzen. So erinnert seine Verspieltheit mit Form und Inhalt (zum Beispiel eine plötzliche direkte Adressierung der Kamera oder der Blick auf eine Frau durch ein Kaleidoskop) an die Nouvelle Vague. Damit ähnelt der Film Vittorio De Sicas Un mondo nuovo, der zeigt zu welchen Höhen Opportunismus anspornen kann. Losey jedoch zieht auch von weitaus komplexeren Größen wie Antonioni oder Bresson, bei ihm ist alle Form immer eine Möglichkeit, in die offenen Stellen eines Genres (Gangsterfilm, Heist-Movie) und einer Gesellschaft zu treten. Und vergessen wir nicht, dass die Nouvelle Vague nicht alleine stand und diese Aufbruchsstimmung sich praktisch früher oder später durch ganz Europa zog. Das New British Cinema beispielsweise erreichte fast zeitlich mit der Veröffentlichung des Films seine Blüte.

Concrete Jungle

Im Zentrum des Films steht der bereits erwähnte Johnny Bannion, einer dieser Namen, die es heute im Kino kaum mehr gibt, er ist ein König der Unterwelt und Herrscher im Gefängnis, aber auch ein stimmungsabhängiger Einzelgänger und einer vom alten Schlag. Status und Respekt sind dort noch Werte. Damit passt der Film inhaltlich natürlich sehr gut zum vorher gezeigten The True Story of Jesse James von Nicholas Ray. Dort wo Prinzipien und Egomanie Antrieb für Kriminalität sind, scheitert sie oft umso heftiger. Nur werden die Kriminellen dann Helden, wenn die Gegenspieler wie in The Criminal Teil eines kalten und bösartigen Netzwerks sind oder ruhm- und geldgeile Neider wie bei Nicholas Ray? „The dirty little coward, that shot Mr Howard…“ Natürlich lässt sich hier auch die Gesellschaftskritik des Films finden. Bannion kommt aus dem Gefängnis, um seinen nächsten Coup zu landen. Doch dieser geht schief und er landet wieder im Gefängnis. Allerdings sitzt er auf seinem Geld und mit Hilfe eines Kollegen gelingt ihm die Flucht aus dem Gefängnis. Draußen wartet aber Verrat statt Freiheit auf ihn. Der Wechsel vom Gefängnis in die freie Welt ist hier ein besonderes Spektakel. Zwar atmet man die Freiheit nicht so spürbar wie etwa in Jacques Audiards Un prophète, aber die wilden Wechsel von den engen Mauern auf eine hippe Jazz-Party mit Selbstbräunungsapparaturen bis hin zu Verfolgungsjagden über schneebedeckte Felder samt Vogelperspektiven ermöglichen eine Plötzlichkeit, die Ästhetik und Inhalt wunderbar verschmelzen lässt.

Denn eigentlich ist The Criminal ein Musikfilm. Er folgt nicht nur einem ganz musikalischen Rhythmus, sondern arbeitet auch mit dem Widerspruch einer jazzigen Weltsicht und der Realität der Kriminellen, die Traurigkeit, die durch Cleo Laines Thieving Boy die beiden Welten des Films verbindet, die Musik im Gefängnis, sei es Knick Knack Paddywhack oder die sanften Fluten einer karibischen Stimme, die das Geschehen kommentieren. In diesem Sinn ist die Musikalität im Gefängnis doch gar nicht so der Welt entrückt, einer Welt, die sich vielleicht nur ertragen kann, wenn sie sich durch Gesang erhöht, verfremdet und romantisiert. Swinging Criminals stehlen dann zum Klang eines Saxophons, betonte Lässigkeit, sie dürfen keinen falschen Ton spielen, aber es darf im Kino und auf der Bühne auch nicht so aussehen, als würde es sie anstrengen. Darunter jedoch ist eine Welt des Abgrunds, den man erst spürt, wenn die Musik endet, der aber nur durch die Musik aufgerissen wurde. Losey, könnte man sagen, ist ein Krimineller und ein Musiker.

Three Men of Wisconsin: On Dangerous Ground und The Prowler

In diesen Tagen ist im Österreichischen Filmmuseum, eine umfassende Schau zu den parallel laufenden Werken von Joseph Losey, Nicholas Ray und Orson Welles zu sehen. Die Verbindungen zwischen den drei Filmemachern sind zahlreich, hervorstechend ist jedoch ihre gemeinsame Herkunft aus dem Dachsstaat Wisconsin. Zwar war ich noch nie in diesem Staat, aber die filmischen Bilder, die mich von dort etwa durch Werner Herzogs Stroszek, Craig Gillespies Lars and the Real Girl oder Michael Manns Public Enemies erreicht haben, deuteten nicht gerade auf eine kulturelle Hochburg hin, in der die Kreativität aus jedem Grashalm sprießt. In den kommenden Tagen und Wochen will ich mich also in das Werk der drei Männer aus Wisconsin stürzen, die ich bis heute völlig unterschiedlich wahrgenommen habe, um die Magie dieser Grashalme in Wisconsin, besser zu verstehen. So schwankt Welles in meiner Wahrnehmung zwischen völliger Ablehnung und manch magischem Moment, den ich nie vergessen werde, Nicholas Ray war für mich immer mystisch erhöht durch das Werk von Jean-Luc Godard oder Wim Wenders und ich habe bis heute tatsächlich Berührungsängste, weil ich dieses mystische Gefühl nicht ruinieren möchte, während Losey für mich ein Versprechen ist, das sich durch seinen famosen Mr. Klein vermittelt hat.

Die Programmierung von On Dangerous Ground von Nicholas Ray mit The Prowler von Joseph Losey könnte auch unter der Überschrift: Officers in Love laufen. Es ist dieses merkwürdige Gefühl eines Ausgeliefertseins der Frau im Angesicht des Polizisten, der sie in ihrem Heim beschützt, obwohl er sie und ihre Familie auch bedrohen könnte. Und die Sehnsucht des Polizisten, der ständig mit einem anderen Leben konfrontiert wird, der in seinem Beruf immerzu das sieht, was er selbst nicht hat, nicht wahrhaben will. Bis er es nicht mehr aushält. Ohne hier in die unnötige Praxis einer Handlungsbeschreibung verfallen zu wollen, sei also bemerkt: In beiden Fällen lernen Polizisten Frauen kennen. In On Dangerous Ground leidet die Form mit dem Protagonisten Jim (gespielt von einem sehr ernsten Robert Ryan), einem Polizisten, der seinen Glauben an die Menschheit und sich selbst schon lange begraben hat und der plötzlich mit einer Wärme konfrontiert wird, die ihn noch mehr zerreißt. Zerrissen ist auch Webb (ein faszinierender Van Heflin), aber bei ihm führt diese Zerrissenheit in eine lange Zeit ambivalente Haltung zu Liebe, Besitz und einer Identitätskrise, die ihn schließlich in fatale und brutale Handlungen führt. Es sind Filme über den Schmerz des Polizistendaseins und die gesunden oder krankhaften Wünsche, die man sich aufbaut, um seiner Welt zu entfliehen.

The Prowler

The Prowler

Nicholas Ray Robert Ryan

On Dangerous Ground

Ray treibt einen wilden Gegensatz zwischen Stadt und Land in seinen Film, als aus dem vor bitteren Tränen seufzenden Asphalt der Großstadt ein stiller Schneefall in einem Phantom Ride alles verändert. Dieses Paradies jenseits der Stadt ist allerdings von einer genauso erbarmungslosen Brutalität beseelt. Jedoch kann der „City Cop“ Jim in dieser Welt anders sehen, genau wie die Kamera, die aus ihren unübersichtlichen Winkeln kriecht, um plötzlich in feierlichen Totalen, eine Menschenjagd durch die Natur einzufangen, eine Natur, die letztlich zum Verhängnis wird genau wie die Stadt vor ihr. Das mit dem „anders sehen“ wird auch durch die Blindheit der weiblichen Hauptfigur verstärkt, Mary (Ida Lupino), die ihren Bruder vor den Blicken versteckt, die von Ray bei ihrem Auftritt lange versteckt wird, als dürften wir nicht sehen, was nicht sehen kann. Die Darstellung der Blindheit selbst ist eine mittlere Katastrophe, aber in den Augenhighlights des amerikanischen Kinos kann man nicht wirklich nicht sehen. In dieser Hilflosigkeit entdeckt Jim dann seine eigene Hilflosigkeit und die des Films, der von einem grandiosen bisweilen gar poetischen Moment in eine Ermüdung erschlafft, um wieder zu erwachen beim Aufleuchten eines Lichts, um sich wieder zu verstecken, kein Rhythmus, keine Chance auf Rhythmus, sondern eine nicht-kanalisierte Wildheit, die Ray nahe an seine großen Kinoexplosionen bringt.

Deutlich kalkulierter geht da Jims Kollege Webb in The Prowler vor, der die einsame Susan (Evelyn Keyes) in den großen Plan seines Lebens einbezieht ohne sie einzuweihen, für den die Liebe nichts anderes ist, als der Kauf eines Motels. Auch Losey geht dabei viel kalkulierter vor in seinen Szenen, die meist in Halbtotalen mit korrigierenden Schwenks dem Geschehen folgen und sich völlig den Bewegungen der Hauptfigur unterwerfen. Dort wo Ray jederzeit alles über den Haufen wirft, folgt Losey einer unbestechlichen Logik, die sich bis weit in den Film hineinzieht. Der Film wurde von Blacklist-Autor Dalton Trumbo geschrieben und dieser spielt virtuos mit Rückbezügen, in denen jedes Detail aus der ersten Hälfte des Films in der zweiten Hälfte seine Bestimmung findet. Avanciert wird da mit Motiven wie dem Geisterhaften (die Stimme von Susans Mann, Sirenen aus der Dunkelheit, eine Geisterstadt) oder den versperrten Wegen (weggesperrte Zigaretten, blockierte Straßen) gespielt. The Prowler ist ein seltener Film, indem die narrative Geschlossenheit perfekt mit dem manischen und klaustrophobischen Inhalt harmoniert. Dabei passieren die interessanten Dinge auf dem Gesicht von Van Heflin zu dem man irgendwie keine Stellung beziehen kann. In seinen Augen spiegelt sich das Verlangen einer sexuellen Unterdrückung, eines falschen Lebens und zugleich die kindliche Sehnsucht nach einer friedlichen Existenz. Die Träume einer Mittelklasse, die ins Nichts führen. Die Nüchternheit mit der Losey seine Verbrechen und seine Schwäche einfängt, vermittelt fast so etwas wie Identifikation. Und auch Losey wechselt von der Stadt in die Natur, bei ihm ist es die staubige Wüste statt des ewigen Schnees. Mit unfassbar einfallslosen Soundeffekten und verstreuten Gimmicks versucht er diese Welt spürbar zu machen, letztlich bleibt The Prowler aber vor allem ein narrativ ansprechender Film, dessen Körperlichkeit nicht wie bei Ray in der Natur liegt, sondern im Gesicht seines Protagonisten.

On Dangerous Ground2

On Dangerous Ground

In beiden Fällen ist es eine Flucht auf einen Berg, die das Ende bringt. Ein gefährlicher Untergrund als ultimatives Bild einer Einsamkeit, die beide Filme durchtränkt. Die völlige Verlorenheit, in der man sich in Rays ersten Sequenzen in der Stadt befindet, spiegelt die innere Nacht von Jim und Webb, deren Träume wohl nur im Kino eine Chance haben, obwohl sie auch dort nicht in Erfüllung gehen müssen. Nur, wenn ein Verlangen so sehr in die Flucht treibt, die Flucht vor sich selbst, die Flucht vor der Stadt, vor dem eigenen Leben und Beruf, dann ist das Kino nicht weit. Beide Filme geben der männlichen Resignation im Noir Film eine hysterische Note, in der die Anti-Helden nicht trinken, um zu vergessen, sondern rennen, um zu fühlen.

Musik schafft Bedeutung: Wagners Walkürenritt im Film

Im klassischen Hollywood-Kino wird Musik meistens eingesetzt, um die emotionale oder narrative Bedeutung einer Szene zu unterstützen. Die Musik verstärkt dadurch den Effekt der Szene auf den Zuschauer und bestätigt ihn in seiner Interpretation des Gesehenen. So wird sichergestellt, dass bestimmte Informationen eindeutig den Rezipienten erreichen. Es handelt sich hierbei natürlich um einen rein theoretischen Idealfall, der selbst in jenen Filmen, die streng den ästhetischen Vorstellungen des klassischen Hollywood-Kinos folgen, niemals eintritt. Musik schafft – wie Worte, Licht, Bildkomposition und Schauspiel – selbst Bedeutung, umso mehr wenn es sich um präexistente, also nicht eigens für den Film komponierte, Musik handelt. Die möglichen Konnotationen, die ein Zuschauer zur Musik haben kann, werden enorm vervielfacht, wenn es sich um ein Musikstück handelt, das dem Zuschauer andernorts bereits untergekommen ist. In vielen Filmen wird bei der Auswahl der Musik ebendiese Tatsache berücksichtigt, sodass bestimmte Musikstücke zu ambivalenten Reaktionen beim Zuschauer führen und als mehrfache Referenz verstanden werden können.

Man könnte diesen Prozess an vielen verschiedenen Beispielen verdeutlichen, aber das wohl bekannteste lässt sich im Präludium zum dritten Akt von Richard Wagners Walküre (komponiert 1852-56) finden, das häufig mit dem Titel Der Ritt der Walküren bezeichnet wird.

Die Walküre ist der zweite Teil des vierteiligen Opernzyklus Der Ring des Nibelungen, in dem die Handlung der Nibelungensaga, vermischt mit verschiedenen Figuren und Geschichten der nordischen Mythologie frei nacherzählt wird. Die Walküre handelt von der Walküre Brünnhilde, die durch Ungehorsam bei den Göttern in Ungnade fällt und daraufhin aus dem Göttersitz Walhall verbannt wird. In der ersten Szene des dritten Aktes treffen sich Brünnhildes acht Schwestern – ebenfalls Walküren – auf einem Felsen, berichten von ihren Erlebnissen und warten auf die säumige Schwester. Der Ritt der Walküren – ein zunächst rein instrumentales Stück – leitet diese Szene ein und illustriert die Ankunft der acht Schwestern auf ihren fliegenden Rössern.

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Ich wage zu behaupten, dass Richard Wagner, wäre er ein Filmregisseur gewesen, wohl nicht den Leitlinien des klassischen Hollywood-Kinos gefolgt wäre. In seinen Opern (oder Musikdramen, wie sie von ihm selbst genannt werden) steht die Musik nämlich ständig in krassem Gegensatz zur Handlung. Man könnte behaupten, dass die Handlung, die auf der Bühne stattfindet, zu jedem Zeitpunkt vom Orchester kritisch und distanziert kommentiert wird. Dadurch entfaltet die Musik aus sich heraus mehr Bedeutung und damit einen größeren Interpretationsspielraum, als es bei vielen anderen Komponisten der Fall ist. Es entstehen zwei Bedeutungsebenen der Musik: eine narrative und eine emotionale.

Auf der narrativen Ebene ist der Ritt der Walküren sehr illustrativ: Zunächst ist in den Streichern das Wiehern von neun Pferden zu vernehmen, in den Bläsern beginnt sich ein galoppierende Rhythmus auszuprägen. Schließlich symbolisieren abfallende, hohe Streicherbewegungen den Landeanflug der Walküren, der in den Beginn des berühmten Bläserthemas mündet, welches als Ausschmückung des galoppierenden Motivs verstanden werden kann. Auf einer emotionalen Ebene vermittelt die Musik eine furchteinflößende Macht, die von den halbgöttlichen Reiterinnen ausgeht. Eine Macht, die zwar zur Zerstörung fähig, aber trotz allem gemäßigt und nicht böse ist. In seiner Wirkung erweist sich das Präludium als sehr stark und direkt und wird deshalb gerne in Filmen verwendet.

Eines der ersten Beispiele für die Verwendung des Ritts der Walküren im Film ist David Wark Griffiths The Birth of Nation aus dem Jahr 1915. Im Finale des Films, der zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs spielt, wird eine Stadt, die von der rebellierenden schwarzen Bevölkerung belagert wird, durch den Ku Klux Klan, begleitet von Wagners Musik, befreit. Griffith nutzt hier die Dynamik des Musikstücks einerseits illustrierend – die Männer des Ku Klux Klans sind beritten – und andererseits zur Emotionalisierung der Szene: Im Kontext des Films wird die Aktion der Reiter als Befreiungsschlag wahrgenommen, die Musik verliert hier ihre – im ursprünglichen Kontext noch vorhandene – Neutralität und wird als Hymne zur Glorifizierung der „Befreier“ benutzt. Die furchteinflößende Macht, welche durch die Musik ausgestrahlt wird, wird kanalisiert und gegen den vermeintlichen Feind gerichtet, sodass sie als durchwegs positiv wahrgenommen wird. Wagners Walküren sind eine göttliche Macht, die sich für und gegen jeden Menschen wenden kann; Griffiths Reiter des Ku Klux Klan benutzen ihre Macht im Kampf gegen das Böse (zumindest nach seinem Verständnis). Die emotionale Bedeutung der Musik wird durch den Kontext des Films verändert.

Wagners Musik fand vor allem im deutschen Raum große Verwendung, er galt schließlich als einer der deutschen Nationalkomponisten. Unter der Herrschaft des NS-Regimes wurde der Ritt der Walküren als musikalische Unterlegung für Wochenschauaufnahmen des Krieges häufig verwendet. Gerade dieser Einsatz dieses Musikstücks brandmarkte es für die Zukunft und so wird Wagners Musik und insbesondere der Ritt der Walküren bis heute häufig mit Krieg und der NS-Zeit asoziiert.

Diese Verschiebung der Bedeutung des Ritts ins Negative machte sich auch Francis Ford Coppola in seinem Antikriegsfilm Apocalypse Now (1979) zunutze. Bei einem Helikopterangriff auf ein Küstenlager der Vietcong lässt der befehlstragende Lieutenant Kilgore aus den Lautsprechern des Helikopters den Ritt der Walküren spielen. Coppola macht sehr klar, dass es sich bei Kilgore offensichtlich um einen verrückten Masochisten handelt, für den Gewalt pure Banalität ist und der Freude an psychologischen Spielen mit seinem Feind empfindet. Den Ritt setzt Kilgore zur Demoralisierung der Vietcong ein; die Musik soll einschüchternd wirken und im Kontext der Gegebenheiten tut sie das auch. Der Einsatz von Wagners Musik als Abschreckungsmethode wäre ohne die historischen Entwicklungen der 30er und 40er Jahre völlig undenkbar und absurd gewesen. Allein das Bewusstsein der Geschichte lässt uns die Musik als potentiell abschreckend wahrnehmen, ob die Einschüchterung durch Wagner bei Vietcong, welche diese historische Verbindung vermutlich nicht ziehen können, tatsächlich funktionieren könnte, ist sehr fragwürdig.

apocalypse now

Der Film und insbesondere diese Szene erlangten einen solch hohen Bekanntheitsgrad, dass der Ritt der Walküren heute (besonders im Bereich des Kinos) primär nicht mehr mit Wagners Oper, sondern mit Coppolas Film in Verbindung gebracht wird. Die Bekanntheit dieser Szene geht so weit, dass heutzutage CD-Covers der Walküre mit Bildern aus Apocalypse Now versehen werden. Der Film trug also nicht nur zu einer emotionalen Bedeutungsverschiebung der Musik (von neutral/positiv hin zu angsteinflößend/negativ) mit bei, sondern verursachte auch eine weitere Umkehrung des Referenzsystems: die Walküre ist in der Auffassung vieler Zuschauer „die Oper, in der das Stück aus Apocalypse Now vorkommt“ und nicht umgekehrt. Nun ist dies keineswegs eine negative Entwicklung, es ist nur ein Aspekt, der bei der Analyse aller später produzierten Filme, die ebenfalls Gebrauch vom Ritt der Walküren machen, in Betracht gezogen werden muss. Es ist aber auch eine Tatsache, die es allen späteren Filmemachern ermöglicht, den Ritt in einem neuen Kontext einzusetzen, nämlich in Bezug auf Coppolas Film.

Der Einsatz des Ritts der Walküren in verschiedenen Filmen wie Blues Brothers (1978), Lord of War (2005), Watchmen (2009), Monsters (2010) kann als direkte Anspielung auf seine Verwendung in der NS-Zeit oder in Apocalypse Now verstanden werden; die verbindenden Motive in den einzelnen Filmen sind Darstellungen von Nationalsozialisten, Deutschland als Kriegsnation, Helikoptern, verrückten Soldaten oder dem (Vietnam)krieg. Fliegende Pferde oder Frauen in Männerrüstung tauchen in dieser Aufzählung nicht auf, obwohl sie der ursprünglichen Bedeutung des Musikstücks entsprechen.

Natürlich gibt es auch Beispiele, in denen der Ritt völlig unabhängig von seiner ursprünglichen Bedeutung und all diesen historisch gewachsenen Konnotationen zum Einsatz kommt. In Nicholas Rays Rebel Without a Cause (1955) – wohl der Film, der von allen hier gennannten, dem zu Beginn beschriebenen Ideal des klassischen Hollywood-Kinos am nächsten steht – summt der Protagonist Jim Stark zu Beginn des Films, als er in einer Polizeistation befragt wird, das Bläserthema des Ritts. Es handelt sich hier um die Szene, in der sein Charakter exponiert wird; alles deutet darauf hin, dass es sich bei seiner Figur um einen Rebellen handelt: er ist betrunken, obwohl viele Stühle im Wartezimmer frei sind, sitzt er erhöht auf einem Schuhputzstuhl; er steht als Außenseiter über der Gesellschaft. Wie passt der Ritt der Walküren in dieses Bild? Zunächst sei erwähnt, dass er mit dem Summen den Fragen des Polizisten ausweicht, also seine Rolle als Rebell bestätigt, doch verweist die Wahl der Melodie auf eine bedeutungsvollere Aussage. Es handelt sich hier um keine Anspielung auf den Ring des Nibelungen, die NS-Zeit, Krieg oder Deutschtum, vielmehr deutet sein Verhalten auf seine Bildung, die er vermutlich in seiner Kindheit und frühen Jugend genossen hat – er stammt schließlich aus wohlhabenden Verhältnissen. Möchte man noch auf weitere Deutungsmöglichkeiten eingehen, kann man zwischen Jim und der Person Richard Wagner eine Verbindung finden: der Komponist wird nämlich oft – stark romantisiert – als Rebell außerhalb der Gesellschaft dargestellt.

james dean

Lässt sich in Rebel Without a Cause noch eine mögliche Verbindung zum Komponisten des Stücks finden, so setzt Federico Fellini den Ritt der Walküren in Otto e Mezzo (1963) völlig frei von jeglicher rationaler Konnotation ein. Eine Szene zu Beginn des Films zeigt den Regisseur Guido Anselmi, wie er sein Badezimmer betritt und sich im Spiegel betrachtet. Das Telefon klingelt, Guido hebt nicht ab, sondern beginnt mit jedem erneuten Klingeln tiefer in die Hocke zu gehen. Schnitt auf den Außenbereichs des Kurbades, in dem sich Guido befindet: Eine Menschenmasse (darunter viele Nonnen und Mönche) stehen in einer Reihe und warten auf ihr Glas Kurwasser. Diese beiden Szenen werden mit Wagners Musik unterlegt, die auf den ersten Blick nicht mit dem Geschehen vereinbar ist. Viele Fragen bei der Interpretation dieser Szene bleiben offen; nicht einmal die Frage nach der Quelle der Musik kann mit Bestimmtheit beantwortet werden. Im Außenbereich ist für einen kurzen Moment ein Dirigent zu sehen, der den Takt des Ritts passend angibt, es bleibt allerdings unklar, ob der Dirigent wirklich vor einem spielenden Orchester steht und welches Stück von dem Orchester gespielt wird – falls es denn überhaupt da ist. Des Weiteren bleibt offen, welche persönlichen Assoziationen Fellini mit dem Ritt und Wagner hat, es besteht im Fall von Otto e Mezzo nämlich die Möglichkeit, dass es sich hierbei um eine persönliche Entscheidung des Regisseurs handelt, dessen Begründung nur ihm bekannt ist. Tatsache ist jedoch, dass die Musik der Szene einen komisch-satirischen Charakter verleiht. Die Diskrepanz zwischen der Schwere der machtvollen Musik und der scheinbar leichten Idylle löst beim Zuschauer einer Irritation aus, die ihm eine kritische Distanz zum Geschehen verschafft (ein satirischer Effekt): Ist diese Idylle wirklich so, wie sie scheint? Nichtsdestotrotz handelt es sich hier um einen bewussten Einsatz der Musik gegen ihren ursprünglichen und historischen Kontext.

Die Bedeutungsverschiebung oder -vervielfachung eines Musikstücks im Film ist eine Tatsache, die oft aus (film-)historischen Umständen erwächst. Sie ermöglicht es, mit präexistenter Musik einen Bezug zur Geschichte oder anderen Filmen aufzubauen und so der Musik mehr Bedeutung als eine bloße Bestätigung des Handlungsgeschehens zukommen zu lassen. Behalten wir, als Zuschauer, also die geschichtlichen Entwicklungen im Hinterkopf, wird die Musik, wie bei Wagner, zum Kommentar und erzeugt Ambivalenzen, wo sonst keine dagewesen wären. Selbst der Einsatz der Musik gegen ihren historischen Kontext ist eine bewusste Entscheidung und schafft Bedeutung in der Nicht-Bedeutung.