Flucht nach vorn: Der Denker und die Katastrophe

Grave of the Fireflies

In den vergangen Tagen hat sich einiges getan. Ich weiß nicht, ob die Welt tatsächlich besser geworden ist, aber zumindest habe ich Hoffnung bekommen, dass eine Besserung überhaupt noch möglich ist. In Wien kommen nun täglich Tausende abgekämpfter Flüchtlinge an, die ebenfalls auf eine bessere Welt hoffen. In Zeiten wie diesen, wo die grausame Realität, in Form von echtem Leid in meine kleine (Lebens-) Welt drängt, beginne ich zu hadern und mir die Sinnfrage zu stellen, warum ich zu Hause vor meinem Laptop sitze und über Filme schreibe, anstatt am Bahnhof die Helfer zu unterstützen. Die Antwort ist nicht einfach. Zum einen könnte man konstatieren, ich sei ein Heuchler, denn diesen Menschen geht es nicht erst seit ein paar Tagen oder Wochen schlecht, und nun gelingt es mir ganz einfach nicht mehr den Status der Welt auszublenden. Ist es scheinheilig, meine Beweggründe gerade jetzt zu hinterfragen?

Andererseits, bringe ich diesen Umstand zwar erst jetzt öffentlich zur Sprache, doch der Konflikt ist für mich kein neuer. In einem harten Kampf mit mir selbst habe ich entschieden zu glauben, dass es Sinn macht, mit kleinen Blogartikeln die Welt mitzuformen. Mit dieser Überzeugung ist es dann vielleicht doch nicht so scheinheilig, einfach weiterzumachen, wenn reales Leid an der Haustüre klopft. Was wäre diese Überzeugung sonst wert, die ich mir in besseren Zeiten so mühselig abgerungen habe?

Proteste vor der Cinémathèque Francaise 1968Es mag ein abstrakter Gedanke sein, dass sich die Welt durch Cinephilie verbessern lässt, aber gerade heute, wo Dinge in erster Linie an ihrem ökonomischen Wert gemessen werden, ist ein Verhandeln des Intangiblen notwendig. Kunst ist als gesellschaftlicher und kultureller Wert unverzichtbar. Das darf man auch in Zeiten angespannter Budgets und vermeintlich größerer Probleme nicht vergessen. Es liegt in der Natur der Kunst, dass sie sich nicht einfach durch Zahlen definieren und deshalb nicht in ein mathematisiertes Weltbild einfügen lässt. Genau das ist ihr Wert! Kunst bietet eine alternative Sicht auf die Welt und fungiert als Prisma, das andere Perspektiven aufscheinen lässt. Die Revolver-Redaktion formulierte einst den Leitspruch „Kino muss gefährlich sein“, und auch wir auf Jugend ohne Film versuchen uns für ein gefährliches Kino einzusetzen. Filme und Filmemacher, die dazu einladen die Welt zu hinterfragen oder die eigene Wahrnehmung anzuzweifeln, die ein Nicht-Verstehen provozieren und dadurch eine andere Sicht auf die Welt nahelegen. Diese Art von Kunst ist gefährlich, aber nicht für den Kunstschaffenden oder den aktiven Rezipienten, sondern für jene, die mit allen Mitteln vermeiden wollen, dass alternative Weltbilder verbreitet werden. Jene, die von Gleichschaltung profitieren. Nicht ohne Grund wird die künstlerische Avantgarde von totalitären Regimen zuerst unterdrückt, und das obwohl sie ohnehin oft ein Dasein unter der öffentlichen Wahrnehmungsgrenze fristet. Im Umkehrschluss könnte man also folgern, dass es diese Kunst und diese Kunstschaffenden adelt, wenn jene, die auf Gleichschaltung und totale Kontrolle der Gedankenwelt der Bevölkerung aus sind, am vehementesten gegen sie vorgehen. Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, dass es diese Kunstschaffenden sind, die sich rege an der Kritik am politischen Establishment beteiligen. Entzieht man ihnen die Lebensgrundlage, zwingt man sie ins Prekariat, das womöglich verhindert, dass sie ihre progressive, kreative Energie für aktiven politischen Protest einsetzen. Deshalb macht es selbst in Zeiten, in denen tausende Menschen als Flüchtlinge in mein Land strömen für mich Sinn, weiter über Film, Kunst und Kultur zu schreiben, um zu gewährleisten, dass der Wert der Kunst und der Wert der Kunstschaffenden für die Gesellschaft selbst in diesen turbulenten Stunden nicht vergessen wird.

Das ganze Jahr in einem Film: The Salt of the Earth von Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado

Wenders und Salgado

Was eigentlich ein Jahresrückblick unbestimmter Form hätte werden sollen, wird nun doch eine Besprechung eines einzelnen Films. Ausschlaggebend dafür war ein ordinärer Kinobesuch, eine Kurzschlussentscheidung, Zufall. Man verabredet sich für einen Film, über den man nicht allzu viel weiß, außer dass er in Cannes gelaufen ist und von einem Regisseur stammt, dem man vertraut. Dieser Regisseur ist Wim Wenders und beim angesprochenen Film handelt es sich um die Dokumentation The Salt of the Earth, den Wenders gemeinsam mit dem Brasilianer Juliano Ribeiro Salgado realisiert hat. Der Zufall wollte es also, dass im Monat Dezember auf Jugend ohne Film Wim-Wenders-Wahn ausbricht – und das zurecht, denn The Salt of the Earth ist ein monumentales Werk mit persönlicher Note und so vielen Facetten, dass mir eine Besprechung des Films zugleich ermöglicht ein ganzes Jahr Revue passieren zu lassen – und das nicht nur in filmischer Hinsicht. Es ist kein Zufall, dass sich Wenders für diesen Film Unterstützung bei einem Brasilianer mittleren Alters gesucht hat. Juliano Ribeiro Salgado ist der älteste Sohn des Fotografen Sebastião Salgado, der seit den 80er Jahren vor allem durch seine sozialdokumentarischen Reportagen für Furore gesorgt hat. Wenders ist ein jahrelanger Bewunderer von Salgado senior und macht sich mit seinem Film auf Entdeckungsreise. Die Destination dieser Reise ist nicht bloß das Oeuvre des mittlerweile 70-jährigen, immer noch rüstigen Brasilianers, sondern das Weltbild eines Mannes, der Licht und Schatten gesehen und festgehalten hat wie kaum ein anderer. In den 80er Jahren berichtete Salgado vor allem aus Krisengebieten rund um den Globus, unter anderem aus der Sahelzone und später auch vom Jugoslawienkrieg und dem Genozid in Rwanda. Seine Bilder gingen um die Welt – in Ausstellungen und in Buchform – aber angesichts seiner Erfahrungen fühlte er sich schließlich nicht mehr im Stande weiterzumachen mit seinen Sozialreportragen.

Erschüttert von der Katastrophe Mensch, von der Bestie Mensch, zog sich Salgado zurück in die Ödnis, die elterliche Ranch, die ihm sein Vater vermacht hat, um sich dort einen neuen Garten Eden zu schaffen. Er gründete das Instituto Terra und forstete den niedergeholzten Waldbestand des väterlichen Anwesens wieder auf. In den Szenen des Films, die diese Entwicklung thematisieren, wandert Wenders auf einem schmalen Grat, denn ein minderer Filmemacher hätte den Film womöglich in Heiler-Welt-Manier und mit ordentlich Pathos  ausklingen lassen. Wenders jedoch, lässt Salgados Werk zu Wort kommen und präsentiert auch noch seine späteren Arbeiten, die weniger einem sozialdokumentarischen Impetus folgen, aber dafür die Pracht der Natur in ihrer Ursprünglichkeit darstellen und so erstmals die Erde selbst, als Lebensraum für das Raubtier Mensch, thematisieren.

Foto von Salgado

Salgados Lebenslauf und Oeuvre allein machen natürlich noch keinen F(rühling)ilm und obwohl die Fotografien Salgados, einen prominenten Platz im Film einnehmen, ist The Salt of the Earth sehr viel mehr als eine Fotocollage. Teils in Voice-over, teils in Interviewsituationen erzählt Salgado von seinen Erlebnissen und kontextualisiert das Bildmaterial. Ergänzt wird der Film durch Bildmaterial seines Sohnes, das dieser auf den letzten großen Reisen des Vaters nach Indonesien und Sibirien aufgenommen hat. Diese Aufnahmen sind die einzigen farbigen Bilder des Films, denn passend zu Salgados Schwarzweißaufnahmen sind auch die von Wenders‘ Team gefilmten Passagen in ähnlich kontrastreichem Schwarzweiß gehalten. Ähnlich wie in den großen „Künstlerfilmen“, wie sie André Bazin in Malerei und Film beschreibt, gelingt es Wenders die Kunstwerke Salgados in Dialog treten zu lassen, so entwickelt sich ein Diskurs zwischen den Fotografien untereinander, dem Fotografen, dem Film(emacher) und der Außenwelt. Vieles hat der Film der Macht der Fotos zu verdanken, die ihm als Korsett dienen, denn selbst ohne Salgados erklärende Worte erzählen diese teils grauenvollen, aber immer imposanten, Bilder ihre Geschichten und zeugen von der Brutalität der Bestie Mensch. Zugleich zeigt sich in dieser animalischen Natur des Menschen, und Salgado bezeichnet den Menschen an mehreren Stellen als Tier, die Schönheit der Welt genauso wie in seinen späteren Natur- und Tieraufnahmen. Als Salgado Ureinwohnerstämme im indonesischen und brasilianischen Dschungel besucht lichtet er diese Menschen genauso ab wie die Walrossherden in Sibirien und im Prinzip auch genauso wie die Flüchtlingsmassen im Sudan und in Rwanda. Erst der Blick auf die Natur, beziehungsweise auf Salgados Naturaufnahmen macht deutlich, dass er seine Arbeits- und Fotografierweise eigentlich kaum an die neuen Motive anpassen musste – das Raue und Unbeugsame der Natur ist in einem Felsvorsprung eines Bergmassivs genauso gewahr, wie in der Falte im Gesicht eines hungernden Kindes.

Vor allem Salgados Reportagen aus Afrika zeugen von einer ungemeinen Kompromisslosigkeit und Mut zur Dunkelheit, einer Dunkelheit, die ihn schließlich beinahe zerbrechen ließ. Kompromisslosigkeit scheint mir in meiner Auseinandersetzung mit Kunst in den letzten Wochen und Monaten zu einem immer wichtigeren Schlagwort zu werden. Nicht, dass das eine sonderliche bahnbrechende Feststellung wäre, aber die letzten Tage des Jahres 2014 sind für mich untrennbar mit diesem Begriff verbunden. Ich denke diese Kompromisslosigkeit unterscheidet nicht nur die besten Filmkünstler von der Masse der Filmemacher am Festivalzirkus, sondern lässt auch in kleinerem Rahmen Filme, die in einem Studiokontext entstehen aus der Masse hervorstechen. Nirgends wird das deutlicher als im Oeuvre John Fords, über das ich mir bei der Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums ein Bild machen konnte, und dem sein Platz im Filmpantheon ohne Zweifel gebührt. Ein Film von John Ford ist immer in erster Linie ein Ford-Film und kein MGM-, Republic- oder was-auch-immer-Film. Aber auch die Gegenwartsfilmproduktion hatte dieses Jahr zumindest zwei „Studiofilme“ zu bieten, die ich an dieser Stelle erwähnen möchte (natürlich nur um unsere Klickzahlen in die Höhe zu bekommen und Patrick zu ärgern): Zum einen ist das Marvels Guardians of the Galaxy, eine sehr schöne und stimmige Einführung in eine Welt von Star-Wars-Dimensionen, in der die Kunst des Geschichtenerzählens mit Fanboyservice und Adrenalinrausch Hand in Hand geht, was womöglich, für einen Film dieser Machart unüblich, aufs Konto des Regisseurs und Drehbuchautors James Gunn geht. Zum anderen ist das The Lego Movie, das einen knalligen Farbrausch mit Meta-Parodien paart und als postmoderne Animationsoper im besten Sinne beschrieben werden könnte. In beiden Fällen, so kommt mir vor, sind sich die Macher sehr darüber im Klaren, welch limitiertes schöpferisches Potenzial sie innerhalb der starren Formeln des Studiodrehplans in der Hand haben, weshalb sie umso mehr versuchen diese Fesseln selbst zu thematisieren; subversive Hollywood-Guerilla.

Foto von Salgado

Doch zurück in der Gegenwart sehen wir uns nicht nur mit postmodernen Hollywoodspielereien konfrontiert, sondern auch mit dem Ernst des Lebens. Die menschliche Bestie enthauptet im Namen der Religion „Ungläubige“; ein Regime kämpft gegen eine Rebellenarmee kämpft gegen einen Islamischen Staat und der westliche Beobachter sieht sich gänzlich überfordert mit den Partikularinteressen der verschiedenen Parteien. Fakt ist, was Salgado vor zwanzig Jahren an die Grenzen seines menschlichen Einfühlungsvermögens brachte passiert noch immer, und immer weiter. Salgado spricht in seinem Off-Kommentar im Film immer wieder von Katastrophen, wenn sich die Vertriebenen in schier aussichtslosen Lagen befinden und immer weiter fliehen müssen, vor Hunger oder bewaffneten Kämpfern. Im syrisch-irakischen Grenzgebiet spielt sich eine ebensolche Katastrophe ab und sie wird uns per Fernsehen und Internet sogar frei ins Haus geliefert. Einen Salgado braucht es gar nicht mehr um uns darauf aufmerksam zu machen und trotzdem bleiben wir indifferent. Ein Spendenaufruf für hungernde afrikanische Kinder ist leichter zu beantworten als ein Hilferuf syrischer Flüchtlinge, die in Internierungslagern an der türkischen Grenze vor sich hinvegetieren. Und nicht bloß, dass nicht auf diese Katastrophe und diese Hilferufe reagiert wird, in einem zu meinen Lebzeiten ungekannten Maß von Fremdenhass und Egozentrismus, werden diese Rufe mit einer Kakophonie von idiotischer Polemik bekämpft und zu übertönen versucht.

In diesen Momenten wünscht man sich dann doch wieder, dass nicht The Lego Movie und Guardians of the Galaxy an der Spitze der Kinocharts stehen, sondern The Salt of the Earth, der mit einem Blick in die (nahe) Vergangenheit, die Katastrophen der Gegenwart in den Fokus rückt. Die Vertriebenen der Sahelzone, die flüchtenden Hutus und Tutsis, stehen mahnend für die Myriaden Syrer und Kurden, die im Moment aus ihrer Heimat fliehen. In diesen Momenten muss man machtlos mitansehen, wie Kunst wichtige Bildungsaufgaben übernehmen könnte, wenn man sie nur zugänglich machen würde. In diesen Momenten wünscht man sich eine engere Verknüpfung von Kunst-, Bildungs- und Flüchtlingspolitik.

Sebastião Salgado

Zuletzt gibt mir der Film Gelegenheit assoziativ ein paar Filme hervorzuheben, die mir während des Sehens des Films und dem anschließenden Schreiben über den Film in den Sinn gekommen sind. So schließt das Kinojahr 2014 mit einem nebelverhangenen Amazonasregenwald und ruft die mythische Schönheit von Larry Gottheims Fog Line in Erinnerung, der für mich zu den schönsten Entdeckungen der diesjährigen Viennale gezählt hat. Die Thematisierung des unendlichen Konflikts zwischen Hutu und Tutsi in Rwanda lässt nicht nur einen Konnex zum Konflikt im Syrisch-Irakischen Grenzgebiet zu, wie ich ihn oben beschrieben habe, sondern auch zum Konflikt in Palästina, den Clara Trischler in Das erste Meer so treffend, multiperspektivisch und ehrlich beleuchtet hat. The Salt of the Earth ist aber auch eine Variation der paradiesischen Motivik, die mir in Alice Rohrwachers Le Meraviglie und vor allem in Naomi Kawases Still the Water sehr nahe gingen und zugleich ein Blick zurück in eine schattenverhangene Vergangenheit die vielleicht, oder vielleicht auch nicht, eine bessere, womöglich auch grausamere war, ein Blick, wie ihn auch Lav Diaz in Mula sa kung ano ang noon und Pedro Costa in Cavalo Dinheiro wagten.

Der Gelegenheitskinobesuch von The Salt of the Earth entpuppte sich als Glücksfall und erlaubte mir ein letztes Mal im Jahr 2014 meine Gedanken zu ordnen und eine Summe zu ziehen. Ein Jahr endet, und ein neues beginnt. Deshalb ist dieser Text kein Abschluss-, sondern ein Zwischenbericht. Prosit!

this human world 2014: Gedanken über ein Festival vor der Haustüre

this human world Sujet 2014

Filmfestivals ähneln in gewisser Weise intensiven Fortbildungsseminaren. Anstatt jedoch irgendwohin in die Pampa zu fahren (von A wie Altlengbach bis Z wie Zirl), um sich dort in einem dieser austauschbaren Seminarhotels einzukasernieren, und den ganzen Tag in einem stickigen Raum langweiligen Vortragenden zu lauschen, sucht man sich ein Hotelzimmer oder eine Couch eines Bekannten und verbringt seine Tage in einem (zumeist) übermäßig klimatisierten Kinosaal. Man mag geneigt sein zu glauben, ein Filmfestival in der Heimatstadt erspart Anfahrtswege und Kosten, die so ein Aufenthalt in der Fremde halt so mit sich bringt – das Filmfestival in der Heimatstadt als gelobtes Land, wo Milch und Honig fließen. Interessanterweise habe ich bis jetzt eher die umgekehrte Erfahrung gemacht. Das Zuhause bietet nämlich Ablenkungen, die einem in der Fremde erspart bleiben: banale Haushaltstätigkeiten, Vorlesungen, Freunde. Kurzum, verschlägt es einen eigens für ein Filmfestival in eine andere Stadt, ist man zwangsläufig fokussierter, mehr bei der Sache und versucht, „wenn man schon mal da ist“, so viel wie möglich davon mitzunehmen. Festivals in der Heimatstadt hingegen nimmt man eher „so nebenbei“ wahr, während sie mit anderen (kulturellen) Aktivitäten konkurrieren; man richtet seinen Tagesplan nicht nach dem Festival aus (es sei denn es handelt sich um die Viennale), sondern geht halt hin, wenn sich die Gelegenheit bietet. Für das this human world hatte ich mir eigentlich vorgenommen eine Art hybriden Mittelweg gefunden, was mir aber leider nicht ganz gelungen ist und ich schlussendlich doch nicht so oft gehen konnte/wollte, wie ich ursprünglich vorhatte. Das Resultat dieses zerstückelten, von Lust, Laune und verfügbarer Zeit abhängigen Festivalbesuchs schlägt sich hier in diesem Text nieder, der gleichsam zerstückelt, anekdotisch und keinesfalls ganzheitlich eine spannende Woche Revue passieren lässt.

Derby Crazy Love von Maya Gallus und Justine Pimlott

Derby Crazy Love von Maya Gallus und Justine Pimlott

Ein verspäteter Festivalauftakt, ein Matineebesuch: Derby Crazy Love vom Regieduo Maya Gallus und Justine Pimlott stand am Programm – das heißt siebzig Minuten tätowierten Frauen beim martialischen Roller Derby zuzusehen. Diplomatisch ausgedrückt lässt sich über den Film konstatieren, dass er Spaß macht, weil er eine Subkultur, ja Parallelwelt, ans Tageslicht bringt, die man anderweitig nicht zu Gesicht bekommt. Weniger diplomatisch könnte man über die vergleichsmäßig uninspirierte Inszenierung dieses Lesbenkults ätzen – aber das würde gegen jede Form von political correctness verstoßen und ist demnach wohl fehl am Platz wenn man über das this human world schreibt. Denn passend zu den Hauptspielorten, den Hipstermekkas Schikaneder und Top Kino, wird hier Diversität, Toleranz und Integration großgeschrieben. Ja, für eine Woche beginnt man fast zu glauben, dass wir in einer politisch und sozial aufgeschlossenen Welt leben, in der Menschen sich reflektiert und erwachsen mit ihren Problemen auseinandersetzen. Da wird die politische Lage in Syrien filmisch aufgearbeitet, mit Einführungen noch eingehender beleuchtet und auf die Flüchtlingsproblematik aufmerksam gemacht und da darf auch Sergei Loznitsas Maidan noch einmal die Leinwände Wiens betören (Loznitsas Parforceritt war der wohl beste Film des Festivals). Zwar konnte keiner der Filme in Sachen Agitationspotenzial mit dem an Einseitigkeit nicht zu überbietenden Manipulationsmeisterstück Everyday Rebellion der Riahi-Brüder mithalten, der seit einigen Wochen regulär an den Festivalspielstätten zu sehen ist, aber Filme wie Syria Inside wussten ebenfalls gekonnt Bilder verletzter Kinder und zerbombter Häuserruinen aneinanderzureihen und mit pathetischer Musik zu unterlegen; hätte man den Besuchern bei Verlassen des Kinosaals statt eines Stimmzettels ein Transparent ausgehändigt wäre wohl eine nette Demo zustande gekommen. Schade eigentlich, denn zumindest die ersten dreißig Minuten von Syria Inside, also bevor das Bearbeiten der Tränendüsen losging, waren sehr spannend. Der Film bemühte sich historische, kulturelle und politische Hintergründe zu erklären und diese Erklärungen verspielt und humorvoll aufzubereiten. Handyvideos, staatlicher Rundfunk und kleine Sketches alternieren mit der Moderation durch ein syrisches Komikerduo, das in einer Studiosituation durch den Film leitet. Mit Fortdauer des Films geht der Humor aber zusehends verloren und der Film erschöpft sich in einer uninspirierten Aufzählung von Assads Gräueltaten und Beschreibungen des heroischen Kampfs der Free Syrian Army.

Syria Inside von Tamer al-Awam und Jan Heilig

Syria Inside von Tamer al-Awam und Jan Heilig

Mein Plan zu Beginn des Festivals war es alle vier Filmprogramme des Syrien-Specials anzusehen. Nach Syria Inside und Syria: Snapshots of History in the Making hatte ich darauf allerdings keine Lust mehr. Nicht nur, dass ich das Gefühl hatte bereits alles zu wissen, was mir diese Filme zu sagen haben, und vor allem wie sie es mir zu sagen haben, sondern auch, weil sich eine gewisse Abstumpfung einstellte, die die Redundanz der Inszenierungsstrategien mit sich bringt und zu enervierender Frustration, statt zu einer Schockreaktion führt.

Da gab ich schließlich dem zweiten Festivalschwerpunkt „Everytime We Fuck We Win“ den Vorzug. In dieser Programmschiene stand feministische Pornographie am Plan und abgesehen davon, dass ich mir als Mann unter Frauen etwas fehl am Platz vorgekommen bin, musste ich feststellen, dass circa ein paar hundert Filmemacher von Goodyn Green lernen könnten, wie man einen Sexualakt wirkungsvoll in Szene setzt. Damit meine ich gar nicht zwangsläufig, dass die Menschen vor der Kamera nicht schön sein dürfen (ganz im Gegenteil – ich mag schöne Menschen), aber die Alternative dazu ist keineswegs so abstoßend, wie große Filmproduzenten das befürchten. Wie kritisch ich auch dem Begriff eines „female gaze“ gegenüberstehe, in diesen Filmen wird sehr radikal deutlich, wie sehr sich dieser Blick von den eintönigen und eindimensionalen Praktiken der konventionellen Pornographie unterscheidet. Ironisch, dass gerade diese Filme aber den heiligen Gral der Pornoindustrie – Authentizität – vermitteln, der den aalglatten, perfekten Industriefilmen fehlt.

Maidan von Sergei Loznitsa

Maidan von Sergei Loznitsa

Als letzten Gedanken noch eine kurze Notiz zum vielleicht „größten“ (im Sinne von glamourösesten) Film, der am Festival gezeigt wurde – Fatih Akins The Cut. Akin ist es tatsächlich gelungen einen europäischen Film zu machen, der aussieht wie ein amerikanischer und sich dem amerikanischen Markt offenkundig anbiedert, ohne jemals eine reelle Chance zu haben auf diesem Markt tatsächlich zu reüssieren. Die lächerliche Entscheidung seinen Protagonisten englisch sprechen zu lassen und den Film in den Vereinigten Staaten enden zu lassen, ändert nämlich nichts daran, dass The Cut zu lang, zu schwerfällig, zu deprimierend und zu austauschbar ist um jemals gutes Geld zu machen. Das Ergebnis ist ein Hybrid, über den sich Kritiker auf Festivals lustig machen und den Zuschauer mit einem leicht verstörten Achselzucken schnell wieder vergessen werden. Was ein gewichtiges Statement zum türkischen Völkermord an der armenischen Minderheit hätte werden können, verkommt zu einem von Zufall und Willkür geprägten Roadmovie, das nicht einmal als Rachedrama taugt, sondern nur merklich bemüht daran ist die Fördertöpfe möglichst vieler unterschiedlicher Länder anzuzapfen.

Das this human world gibt einen Ausblick auf eine Welt, in der niemand wegen seiner Sexualität, seiner Ethnizität oder ähnlichem ausgeschlossen und unterdrückt wird. Die Auswahl der gezeigten Filme macht diese Weltsicht mehr als deutlich, was einerseits, von einem politischen Standpunkt aus, zu begrüßen ist, andererseits zu einer Flut an mittelmäßigen Filmen führt, die zu sehr damit beschäftigt sind ihre Meinung möglichst eindeutig hinauszuposaunen, als die vermittelte Weltsicht in der Form zu spiegeln. Denn die beste politische Kunst ist jene, in der Inhalt und Form untrennbar und ununterscheidbar sind, wo Weltsicht und künstlerische Vision sich gegenseitig bedingen.