Die Haut und der Andere: Under the Skin von Jonathan Glazer

Der Filmtitel Under the Skin ist ein Versprechen. Denn, was uns unter die Haut geht, dass berührt uns im besonderen Maße. Der Titel verspricht ein körperliches Erleben: Angst, Erotik oder Mitgefühl. Aber was unter der Haut ist, das ist auch unbekannt, fremd, manchmal ekelerregend. Die Haut ist eine Grenze und ein Kontakt. Sie ist immer zugleich die Flucht des Menschen aus seiner Einsamkeit und der Schutz dieser Einsamkeit. Wenn nichts mehr funktioniert, dann zieht man sich in sich selbst zurück. Damit legt Regisseur Jonathan Glazer bereits in seinen Titel das ganze Drama, das sich für seine Protagonistin, den Alien Laura vollzieht. Was bedeutet es Mensch zu sein? Was bedeutet es fremd zu sein? Ist das genuin Menschliche gar unsichtbar, unter der Haut, ist es vielleicht nicht so schön wie die gestylten und geglätteten Oberflächen des Alltags es vermuten lassen?  In tranceartigen Bewegungen durchlöchert der Film die Grenzen zwischen Versuchung und Abneigung, Geborgenheit und Angst, Gewalt und Sex, Schönheit und Hässlichkeit. Irgendwann ist es nicht mehr der Alien, der fremd ist, sondern der Film selbst. Under the Skin lässt einen sein eigenes entfremdetes Dasein empfinden und führt die unbeirrbare Einsamkeit vor Augen.

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Elliptisch wird von einer sexuell aufgeladenen Alieninvasion erzählt. Der von Scarlett Johansson im wahrsten Sinne des Wortes verkörperte Alien, der die Gestalt einer Frau angenommen hat, fährt mit einem großen Van durch schottische Arbeiterviertel und nimmt Männer mit. Sie scheint dem Willen eines stummen Mannes zu gehorchen, der als Cleaner mit dem Motorrad hinter ihr herfährt. Mit zunehmender Übung gelingt es ihr, die Männer zu verführen. Wie hypnotisiert folgen ihr die rauen Kerle in eine dunkle, herunterkommende Wohnung, in der sich der Alien – jedes Mal begleitet von der gleichen Musik – entkleidet. Die Männer tun es ihr gleich, ziehen sich auch nach und nach aus. Sie bemerken nicht wie sie ganz langsam im Boden versinken; nackt und sichtbar erregt fallen sie in ein schwarzes Loch und verschwinden. Warum dies geschieht, spielt keine Rolle. Der Alien zieht sich wieder an und macht sich auf die Suche nach dem nächsten Opfer. In der Zwischenzeit platzen die Körper der Männer. Körper, die durch das Schwarz der Leinwand schweben. Doch der Alien beginnt langsam, Neugier am Menschsein zu entwickeln. Immer häufiger betrachtet sie sich selbst im Spiegel, sie versucht etwas zu Essen, versucht zu verstehen. Auslösendes Ereignis für diesen Wandel könnte die Begegnung mit einem, an einer vererbbaren Hautkrankheit leidenden Mann sein. Sie nimmt ihn mit wie die anderen Männer zuvor und bemerkt erst dann dessen entstelltes Gesicht. Dennoch verführt sie den Mann. Wiederholt sagt sie ihm, dass er schöne Hände habe. Sie nimmt seine Hände und greift damit an ihren Nacken. Allerdings lässt sie ihn entkommen und flieht dann selbst. Ihr Partner auf dem Motorrad sammelt erst den entstellten Mann ein und macht sich dann auf die Suche nach dem Alien.  Laura hat inzwischen Unterschlupf bei einem herzenswarmen Mann gefunden. Dieser führt sie in eine familiäre Stimmung jenseits der kalten Arbeiterstraßen der ersten Hälfte des Films. Er macht ihr einen heißen Tee und hört Popmusik beim Abspülen. Nach einem romantischen Tag auf dem Land haben die beiden Sex. Während ihrer Entjungferung bekommt der Alien Panik. Sie untersucht ihr Geschlecht und flüchtet in die Nacht. Sie gelangt in einen Wald. Dort trifft sie auf einen einsamen Arbeiter. Sie geht weiter und findet eine leer stehende Hütte. Sie schläft ein. Als sie erwacht, vergreift sich der Arbeiter an ihr. Sie versucht zu flüchten, doch es gelingt ihr nicht. Im Kampf reißt der Mann dem Alien ein Stück der künstlichen Haut vom Rücken. Geschockt flüchtet er. Der Alien nimmt seine Oberfläche von sich und entblößt seine wahre Gestalt, die sich unter der menschlichen Haut verborgen hat. Der Arbeiter kommt zurück und überschüttet das fremde Wesen mit Öl. Er zündet es an. Der Alien verbrennt, der Mann auf dem Motorrad kommt zu spät.

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Schon mit seinen ersten beiden Langfilmen Sexy Beast und Birth hat Glazer, der unter anderem für Massive Attack und Radiohead Musikvideos drehte, eine ganz eigenwillige, filmische Sprache entwickelt, die man als „Cinematic Strangeness“ bezeichnen könnte. Er benutzt die filmische Sprache, um ein Gefühl von Andersartigkeit zu erzeugen, eine Entfremdung, die sich als Hypnose und Choreografie gleichzeitig dem Fremden hingibt und es ausschließt. Dabei geht es ihm weder um die vom Kino so gerne strapazierte Identifikation mit dem Monströsen (man denke an Hannibal Lecter oder Monsieur Verdoux), noch um eine nach Toleranz hechelnde Aussage à la „Das sind wir-wir sind alle gleich“, sonder vielmehr um die existentialistische Frage: „Was bin ich?“. Zunächst bedient sich Glazer in Under the Skin dafür einiger stilistischer Methoden, die Alterität als eine Empfindung jenseits intellektueller Ideen manifestiert. Augenfällig erscheint der häufige Einsatz von atemberaubenden Landschaftsbildern in totalen Einstellungen. Dabei wiederholen sich Formen und Farben, die man zuvor schon gesehen hat wie beispielsweise ein Dreieck der Dunkelheit zwischen zwei Berggipfeln, das zuvor in seinen Bildern aus dem Weltraum erkennbar war. Er versetzt den Zuseher in ein schweigendes Starren, ob dieser Bilder, die unwirklich wirken und kaum bewegt. In dieser Starre liegt ein Widerspruch zum Wesen des Bewegtbildes. Man merkt: Etwas stimmt nicht. Nebelschwaden, rauschendes Wasser und Dunkelheit gewinnen Überhand. Es war Camus, der in Der Fremde, ob eines solches Bildes geschrieben hat:  Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich ein wie eine Flut. Geometrische Tableaus bestimmen die Bildsprache von Under the Skin. Glazer hat sich genau Gedanken über Dunkelheit/Licht oder Formen gemacht. Schon in seiner ersten Einstellung kommt ganz langsam ein weißes Licht, das zunächst nur ein Punkt ist, auf uns zu. Immer wieder kreuzen Figuren horizontal oder vertikal das Bild. Der Bildkader verstärkt die Fremdheit, statt sie nur einzugrenzen.

Auffallend sind auch die weitwinkligen Einstellungen aus unterschiedlichen statischen Perspektiven von Laura am Steuer des Vans. Diese kommen auch deshalb zu Stande, weil Glazer manche der Begegnungen des Aliens mit den Männern mit versteckter Kamera festhielt. Durch dieses Vorgehen entstehen Momente des Unerwarteten, des Anderen und zudem wirken die dafür notwendigen Kameraperspektiven eigenwillig und fremdartig. Gewissermaßen liefert sich die filmische Präzision von Glazer hier dem Unbekannten aus, zugleich Versuchung und Tod des narrativen Filmschaffens. Die Grenzen zwischen Realität und Inszenierung geraten ins Wanken. Man fährt mit dem als Frau auftretenden Wesen durch Schottland und fragt sich: Was passiert hier? Dabei ist ausgerechnet die bekannteste Darstellerin im Film der Fixpunkt des Fremden. Mit dem Casting von Scarlett Johansson beginnen die Grenzen zwischen dem Ich in meinem Kinosessel und dem Anderen auf der Leinwand zu verschwimmen. Die Idee, die hinter dem Starsystem der amerikanischen Traumfabrik steht, ist leicht vereinfacht auf den Punkt zu bringen: Eine Schauspielerin, die Zuseher bereits aus anderen Rollen kennen und über deren Privatleben sie Bescheid wissen, fungiert leichter als Identifikationsfigur (Kassenmagnet) als eine unbekannte Darstellerin. Scarlett Johansson ist ein solcher Star, aber in Under the Skin verschließt sie sich vor uns. Ist ihre Haut, ihre weltberühmte Oberfläche gar nur eine Täuschung? Der Film ließe sich als kritischer Kommentar auf das Starsystem verstehen. Statt Identifikation steht dann nur noch ein Fragezeichen auf der Leinwand. Wenn Identifikation bedeutet, dass man sich selbst auf der Leinwand sieht, was sieht man dann wenn das Identifikationsobjekt ein fremdes Wesen ist? Verstärkt wird dieses Gefühl der Entfremdung dadurch, dass der Film immer wieder durch die Augen der Figur auf die Umwelt schaut. Man bemerkt kleine Details wie das rhythmische Wippen des Mannes beim Abspülen oder betrachtet überfordert verzehrte männliche Fratzen hinter den Scheiben des Vans. „People are strange when you’re a stranger. Faces look ugly when you’re alone.”, hört man da fast Jim Morrison leiden und es wird langsam klar, dass das Andere immer bedrohlich scheint. Sobald wir im Film die Perspektive des Außenseiters einnehmen (und das machen wir oft), erscheint uns das „Normale“ falsch, monströs und gefährlich. Wir beginnen uns unserer Einsamkeit immer dann bewusst zu werden im Kino, wenn wir uns mit der einsamen Person identifizieren, wenn wir ihren Blick auf die Welt teilen, entfremdet und verloren. Wie sehen wir Menschen wohl aus Sicht eines Aliens aus, wie verhalten sich Männer im Angesicht der Oberfläche einer Frau? The Devil in Disguise, verlockendes Monster. Wenn wir schon bei der Musik sind, sollten wir uns auch mit dem verfremdenden und doch illusionären Einsatz von Musik in Under the Skin beschäftigen. Der tranceartige Elektrosound von Mikachu ist eigentlich klassisch nach Motiven aufgebaut. Aber immer wieder donnert er durch die Bilder hindurch, transzendiert sie oder bricht sie. Ein Beispiel findet sich als der mysteriöse Mann mit dem Motorrad den entstellten Mann, der nackt durch hohes Gras huscht, einsammelt. Die plötzliche Aggression in der Musik verstört und macht die Fremdartigkeit des Geschehens emotional greifbar.

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Ein weiterer fast komödiantischer Kniff findet sich in der Verwendung von Sprache im Film. Fast alle Männer sprechen mit extremem schottischem Akzent. Dieser ist wohl nur für Schotten tatsächlich verständlich und so findet man sich häufig in einer ähnlichen Situation wie Laura. Man lauscht verwundert den Lauten und Tönen aus den kantigen Mündern und versucht zu verstehen, was gemeint sein könnte. Der Sozialrealismus wirkt dabei verunsichernd. Warum verstehen wir die Menschen nicht und den Alien schon? Insgesamt wird sehr wenig gesprochen. Statt einer Eindeutigkeit der Sprache verschreibt sich Under the Skin der Ambivalenz und Ungreifbarkeit von Bildern. Die Erfahrungen von Laura in fremden, oft bedrohlichen Situationen sind Erfahrungen, in der zwei Welten aufeinander treffen. Allerdings weiß eine Welt das nicht. Es ist ein Spiel, ein sich Ausprobieren im Anderen, das immer wieder in brutaler Gewalt endet. Da man nichts oder wenig versteht, wird der Fokus auf die Körpersprache gelegt. Dies wird durch die Verweigerung einer klar nachvollziehbaren Handlung oder gar Psychologisierung der Figuren noch verstärkt. Der Körper rückt ins Zentrum des Geschehens, der Körper gewinnt an Aufmerksamkeit. Aber auch ihn können wir nicht ganz greifen, auch mit ihm stimmt etwas nicht. Der Body-Horror in Under the Skin bewirkt eine Verunsicherung gegenüber dem eigenen Körper. Die platzenden Körper unter Wasser, zu Grimassen verzogene Fratzen, das nüchterne Ausstellen menschlicher Nacktheit, Körper, die sich im Schwarz der Leinwand auflösen. Es ist offensichtlich und wichtig, dass erregte Geschlechter genauso ins Bild gesetzt werden wie die Betrachtung der eigenen Oberfläche im Spiegel. Es ist der Versuch, den Körper und damit den Menschen zu verstehen. Der Existentialismus in Under the Skin braucht einen Spiegel, um nichts zu sehen. Laura existiert nicht so, wie sie aussieht.

Aber ihr Aussehen verführt sie selbst. Sie möchte so sein, wie sie auf andere wirkt. In Zeiten der Online-Selbstdarstellung-Welten, in denen wir ein fremdes Ich als Wunschbild unserer Existenz aufbauen, ist ihr Verlangen nach dem Realwerden ihres äußeren Wunschbilds nur allzu nachvollziehbar. Sie will das Monster, das unter ihrer Haut lebt nicht wahrhaben, sie will es loswerden. Ihre Haut ist dann kein Gefängnis, sondern eine Flucht, trügerisch und hoffnungslos. Die Oberfläche als kulturell definiertes Konstrukt: Durch den Körper wird Laura akzeptiert und vor allem begehrt. Kein Wunder, dass die Begegnung mit dem entstellten Mann etwas in ihr auslöst, denn ihm ist das Glück der Akzeptanz und des Begehrens nicht möglich in einer Gesellschaft der Fremden, die ihre Einsamkeit loswerden wollen. Der Film selbst gibt sich diesen Wünschen hin, bewegt sich über seine eigene Oberfläche als eine beständige Trancemelodie der Schönheit. Die Schönheit der deformierten Körper erinnert an Auguste Rodins Skulpturen oder die Gemälde von Francis Bacon.  Der Filmemacher Bruno Dumont hat viel gesagt über die Wichtigkeit von Deformation in der Kunst: Man nimmt einen naturalistischen Gegenstand/Schauspieler, setzt ihn in ein naturalistisches Setting und sorgt dann für kleinere oder größere Deformierungen. Somit wird die menschliche Existenz hinterfragt oder die Natur als ganze und der Zuseher kommt in einen Denkprozess. Dumont sagt, dass er dafür an die Grenzen gehen muss als Filmemacher. Und um an die Grenzen zu gehen, müsse man immer etwas darüber hinausgehen. In der Dokumentation Das Schöne ist mein Dämon beschreibt Dumont exemplarisch eine Szene und wie er dort eine subtile Deformation herstellen konnte. Es geht um die Szene in seinem L’humanité, in der der Protagonist ein Paar beim Sex auf dem Boden beobachtet. Um einen deformierten oder nennen wir es entfremdeten Ausdruck zu bekommen, hat Dumont den Schauspieler nicht ein Pärchen auf dem Boden beobachten lassen, er hat dem Schauspieler auch nicht gesagt, dass er sich ein Pärchen auf dem Boden vorstellen soll, sondern er hat seine eigene Hand auf den Boden gelegt und gesagt: „Schau meine Hand an.“; die Reaktion ist selbstverständlich unerwartet und deformiert. Ein Prozess beginnt, wenn man nun die Reaktion des Mannes auf das Pärchen im Film sieht. Etwas stimmt nicht, aber man kann es nicht greifen. Und genau dann wird das Kino selbst zur Fremdheitserfahrung wie in Under the Skin. Am Ende stellt man sich dann die Frage: Was ist ein Mensch? Ein Alien? Ihr fremder, monströser Körper überlebt nur wenige Augenblicke in der fremden Welt. Er verbrennt und die Kamera folgt den zum Himmel steigenden Rauchschwaden. Liegt dort nochmal eine tiefere Schicht? Eine Seele, die sich unter der Alien-Haut befindet? Oder ist dort Nichts, nur der materielle Überrest eines Körpers, der genau so viel bedeutet wie er zeigt: Rauch.

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Unter ihrer Haut ist dieser Alien fremd auf der Erde. Und damit geht es ihr genau wie uns. Der französisch-litauische Philosoph Emmanuel Levinas bemerkte in Die Zeit und der Andere: „Durch das Sehen, durch das Berühren, durch die Sympathie, durch die Arbeit im allgemeinen sind wir mit den anderen. Alle diese Beziehungen sind transitiv; ich berühre einen Gegenstand, ich sehe den Anderen. Aber ich bin nicht der Andere. Ich bin völlig allein.“ Die Existenz alleine würde das Allein-Sein konstituieren. In Under the Skin ist der Alien immer alleine, immer fremd. Er kann nie das Andere sein, selbst wenn er genauso aussieht, selbst wenn er Bewegungen, Verhaltensweisen und Stoffwechselpraktiken übernimmt. Er wird immer als Alien existieren unter der Haut, als Monster, das in uns allen lebt. Und dort ist man immer einsam. Dasselbe gilt für die Kinoerfahrung, die man mit Levinas und Under the Skin auch als eine Erfahrung der eigenen Einsamkeit verstehen kann. Der Philosoph bemerkt die Nähe von Einsamkeit und Zeit. Zeit fungiert als Motor des Kinos. Nun mag man entgegenhalten, dass die Kinosituation nie einsam sein kann, sondern eher einem kollektiven Erlebnis, ja Gemeinschaftsritual gleicht. Aber Levinas versteht Einsamkeit nicht als Gegenpol von Kollektivität, sondern schlicht als Wesen der Existenz. Etwas findet unter unserer Haut statt jenseits aller anderen Zuseher selbst wenn sie uns noch so nahestehen. Glazer verstärkt diesen Eindruck gar durch seine deformierende Bildsprache, seine körperlichen Schocks und seine Tabubrüche, die Grenzen des Darstellbaren ausloten.  Denn dort wo Haut, also der Tastsinn im Film eigentlich nicht bedient wird, kann etwas, dass uns unter der Haut, in unserer eigenen Einsamkeit trifft doch genau eine solche körperliche Reaktion hervorrufen: Gänsehaut.

Few of us von Sharunas Bartas

Few of us Golubeva

In der sich und uns transformierenden Natur in Sharunas Bartas faszinierender Kommunikationslosigkeit Few of us leben die Tofalaren. Diese ethnische Minderheit in Sibirien ist in ihrer Existenz bedroht. Bartas schickt ihnen einen dunklen Engel in Person des in eisiger Schönheit erglühenden Wasserfalls Katerina Golubeva. In den ersten Minuten kreist sie mit einem Hubschrauber über die verlassenen Eisfelder und Berghänge. Ein Blick von oben ohne Destination. Zu Beginn wird so eine Grenze zwischen Mensch und Natur sowie Modernität und Vergangenheit definiert. Es ist ein überlegener, ein romantischer, aber zugleich auch Angst machender Blick. Sich an den Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion bewegend wird Bartas in kontemplativen Bewegungen mit einigen Strategien arbeiten, um ein Gefühl für diese sibirische Landschaft samt ihrer Emotionen zu erzeugen. Golubeva wird landen. Der Hubschrauber sinkt wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt und verschmilzt ganz im Sinn von Merleau-Ponty mit den knarzenden Wipfeln einiger verlassener Tannen. Die Tofalaren nennen sich selbst Tofa. Das bedeutet Mensch. Bartas nähert sich ihnen im Stil eines Ethnographen. Beobachtend, zurückhaltend und doch voller Sensibilität für die Falten in den Gesichtern, das Verlangen der Einsamkeit in den durstigen Augen, die Kälte und den Alkohol. Es wird keine wirklichen Dialoge geben. Nur ein Gemurmel und Unverständliches ganz wie bei Jacques Tati. Grandios dabei ist erneut die Tongestaltung durch Vladimir Golovnitskiy. Schritte, die man nicht sehen kann, erzeugen eine Bedrohung, verkohlte Baumstämme heulen unter der Last einer kalten Sonne.

Few of us Golubeva

Warum sucht Golubeva, die in ihrer ersten Einstellung wie eine Heilige im Schatten gemalt wird, diesen verlassenen Ort auf? Hat sie dort eine Geschichte? Kennt sie dort wen? Ihre Haltung in den von zärtlichen Öllampen beleuchteten Hüten ist zunächst weder feindlich noch freundlich. Sie ist einfach nur da. Der Film provoziert von Zeit zu Zeit eine metaphorische Lesart, die einen allerdings kaum weiterbringen dürfte. Ursprünglich waren die Tofalaren ein großes, nomadisches Volk. Sie lasen in Bäumen über die Geschichte eines Ortes. Bartas macht es ähnlich mit seiner filmischen Sprache. Da gibt es jenen Blick in das Off, der in Parallelmontagen zwischen einer atemberaubenden Umwelt und den Gesichtern ihn ihr, einen poetischen Sog erzeugt, eine Wechselwirkung zwischen den Menschen und ihrer Umgebung. Immer wieder geht der Blick auf etwas, dass wir nicht sehen können. Auf diese Art entwickeln wir eine Neugier, eine sinnliche Faszination am Fremden. Golubeva ist fremd in dieser Welt, die scheinbar ohne Reflektion auf ihren Tod zusteuert, in kreisenden Bewegungen sich selbst auslöschend. In ihrer Rolle zwischen Begehren und Bedrohung erinnert sie ein wenig an Scarlett Johansson in Under the Skin. Denn auch sie ist ein Fremdkörper, der nicht nur vor der Umwelt, sondern auch vor sich selbst fremd zu sein scheint. Statt zu stehen, zittert sie, statt zu sprechen, schließt sie ihre Augen. Aber auch sie beginnt, ins Off zu blicken. Dabei sind ihre nassen Augen nie verbunden mit der Gegenwart dieser Welt. Wie alle Figuren im Film blickt sie durch Raum und Zeit hindurch. Hier ist nichts verbunden, nichts kann sich helfen, die Wahrnehmungen driften aneinander vorbei. Selbst in der Sexualität beginnt eine sich abkehrende Entfremdung oder eine Angst.

Viel mehr gemeinsam hat die deformierende und kontemplative Filmsprache von Bartas mit jener von Lisandro Alonso. Die elliptische auftauchende Sexualität, die Verweigerung einer Offenbarung und die rhythmischen Schocks, die dem beobachtenden Treiben entspringen, zeigen deutliche Parallelen. Es sind die Dinge, die wir nicht sehen, die wir nicht genau sehen, an die wir uns klammern müssen. So schwer fällt es uns, das Fremde zu verstehen. Eine Verlorenheit stellt sich ein, die meditativ wie die ruhigen, rauschenden Gebirgsbäche auf eine Katastrophe zuläuft. Warum begann dieses Volk zu sterben? Ähnlich wie Alonsos zelebriert Bartas auch die Sensation des Raumes und der kleinen Regungen. Ein Zug an einer Zigarette offenbart so einen Ozean. Der Film sucht nach den Seelen seiner Figuren und damit auch ihrer Vergangenheit. Eine nahe Einstellungen auf die von Falten umzingelten, zuckenden Augen eines Tofalaren wird zur körperlichen Erfahrung eines Menschen, die nur in großen Kunstwerken möglich ist.

Few of us Bartas

Es wird von Krankheiten berichtet: Die schwarzen Pocken. Eine fremde Macht. Man kann sich nicht sicher sein, ob diese Krankheit in der Welt von Few of us gerade ausbricht, ob wir Zeuge einer göttlichen Intervention werden. Im Streit um die Weiblichkeit und Sexualität explodiert eine Gewalt, die aus den glühenden und schwitzenden Visagen herausdringt, ohne die Lider der Augen zu bewegen. Es ist fast eine paradiesische Erzählung, nur dass Eva keine Verbindung zu Eden herstellen kann. Am Ende steht aber hier wie dort eine Vertreibung und Flucht. Ein Sterben, das vielleicht gerade erst beginnt. Aber es ist mehr. In langen Einstellungen lässt Bartas seine Figuren in der Landschaft verschwinden. Die subtile Bedrohung erinnert stark an einen anderen großen Film mit Golubeva: Twentynine Palms von Bruno Dumont. Wie dort ist es gerade die Nicht-Kommunikation, das Unerklärte, was uns beunruhigt. Das wundervolle und unerklärte Nicht-Erschließen einer Welt, das unsere Existenz nicht von unserer Essenz löst sondern unsere Existenz zur Essenz macht. Die Alltäglichkeit und das Spürbarmachen der Zeit, das Few of us in manchen Szenen nahe an die drückende Poesie eines Béla Tarrs bringt. Das Aufsteigen auf ein Reittier, das Sitzen im Geröllfeld, eine Schneeverwehung, der Mond umgeben von Wolken. Alles erzählt von der Existenz.

In mancher Hinsicht ist der Film auch ein Western, eine Fremde ohne Namen in einer von Ritualen und Prinzipien gesteuerten Welt, die Erschließung einer Welt. Wir befinden uns auf der Suche nach einem Frieden, den es nicht geben kann. Es ist die gescheiterte Hoffnung auf eine Heimat, auf eine Verortung. Was eine dann bleibt, ist auf die Natur zu hören, die mit ihren Augen uns beobachtet genau wie dieser Film mindestens genauso auf uns zurückblickt, wie wir auf ihn schauen. So werden wir wieder zu einer rauen und wilden Existenz, auf uns selbst zurückgeworfen und darin liegen vielleicht jene Gleichheit und Kommunikation, die so verloren scheinen. Sie finden sich im Licht dessen, was uns die Natur zu sehen erlaubt.

Die 13 Kinomomente des Jahres 2014

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Wie jedes Jahr möchte ich auch 2014 meine Kinomomente des Jahres beschreiben. Diese Liste ist keineswegs endgültig, da ich sicher in den kommenden Jahren viele Schätze entdecken werde, die es verdient gehabt hätten, auf meiner diesjährigen Liste zu stehen. Ich beschreibe ausschließlich Momente aus Filmen aus dem Jahr 2014. Dabei gehen natürlich eine Menge Filme verloren, die ich dieses Jahr zum ersten Mal gesehen habe und die mir vielleicht die wahren Kinomomente des Jahres bescherten. Damit meine ich zum einen die zahlreichen Retrospektiven im Österreichischen Filmmuseum (hier vor allem jene von John Ford, Hou Hsiao-Hsien und Satyajit Ray), im Stadtkino Wien (Tsai Ming-liang), im Metrokino Wien (Peter Handke Schau), auf Crossing Europe (Joanna Hogg) oder der Diagonale (Agnès Godard). Außerdem gibt es natürlich Filme, die erst dieses Jahr regulär oder nicht-regulär ins Kino kamen, die ich aber zum Jahr 2013 rechne. Dazu gehört allen voran die Entfremdungshypnose Under the Skin von Jonathan Glazer oder der zugedröhnte Scorsese-Zirkus The Wolf of Wall Street.

Dies ist also weder eine subjektive Liste der besten Filme des Jahres noch gibt es in ihr irgendeine relevante Reihenfolge. Vielmehr ist es eine Liste, die in mir geblieben ist. Die kleinen Erinnerungen, die Träume, die man nach den Filmen hatte, die Ekstase, die man manchmal an Sekunden und manchmal an Stunden eines Films festmachen kann. Es geht um diese Atemzüge, in denen mein Herz aufgehört hat zu schlagen und ich das Gefühl hatte, etwas Besonderes zu sehen. Wenn Film in seiner Gegenwart schon wieder verschwindet, dann bekommt unsere Erinnerung daran eine besondere Bedeutung. Die Erinnerung speichert, verändert oder ignoriert einen Film. Sie ist nicht denkbar und nicht lenkbar. Genau hier trifft uns das Kino mit seiner Wahrheit. In der Erinnerung liegt auch die Fiktion, die im diesjährigen Kinojahr eine solch große Rolle gespielt hat. In vielen Filmen wurde die Frage gestellt, wann und wie Geschichten entstehen, wie sie an unsere Lügen, unsere Vergangenheit und an unsere Träume gebunden sind. Das Kino existiert zweimal. In der Gegenwart seiner Projektion und in der Gegenwart unserer Erinnerung.

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa – Ventura spuckt

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Eigentlich ist Cavalo Dinheiro ein einziger Augenblick, in dem jedes Blinzeln zu einer filmischen Sensation wird. Wenn ich mich allerdings für einen dieser Flügelschläge der Augenlider entscheiden muss, ist das jene Szene, in der wir aus einer weiteren Einstellung den erschöpften Ventura sehen. Er hat einen Husten- und Spu(c)kanfall und steht im Schatten einer Lichtung. Mit gebeugter Haltung bebt er zwischen Häusern, Welten und Zeiten. Dabei sind Vögel zu hören, wie ein Moment des Friedens in der (körperlichen) Revolution. Ein derart poetisches Leiden habe ich selten gesehen und gehört.

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan – Die Zeit springt

Feuerwerk am helllichten Tage

Es ist dieser Sprung in die Zukunft, der mit einem Moped in einem Tunnel beginnt, der den Schnee, den verdreckten Schnee in die schwarze Kohle bringt. Das Moped verlässt den Tunnel und fährt an einem Betrunken vorbei. Es wird langsamer, dreht um. Hier beginnt das virtuose Spiel der Perspektivwechsel, eine Verunsicherung, eine Leere in der Stille und eine Anspannung im Angesicht der Mitmenschen. Es ist ein Phantom Ride, der umdreht, um zu stehlen. Am Straßenrand liegt völlig betrunken in einem Winterschlaf unsere Hauptfigur. Wir passieren ihn nur als Randfigur, aber wir ergreifen die Gelegenheit. Ab diesem Zeitpunkt herrscht ein Schleier der Verunsicherung über Bilder, Figuren und den Film selbst, der einen kaum mehr loslassen kann.

P’tit Quinquin von Bruno Dumont – Van der Weyden schießt in die Luft

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In Bruno Dumonts Unfassbarkeit P’tit Quinquin herrscht eine anarchistische Derbheit, die sich in der ironischen Umarmung einer Absurdität und Deformation entlädt wie man sie wohl noch nie gesehen hat. Der Naturalist hat sich in einen Surrealisten der Realität verwandelt und mit der zuckenden und stolpernden Figur des Polizisten Van der Weyden hat er die perfekte Verkörperung seiner Welt erschaffen. In einer der vielen irrsinnigen Szenen dieser Figur schießt der gute Mann zum Schrecken seiner Umgebung spontan in die Luft. Es gibt keinen Grund dafür, außer vielleicht den Knall selbst, die Freude und das Adrenalin daran und genau hierin liegt der neue Existentialismus des Bruno Dumont. Man muss lachen und dann fühlt man sich ganz alleine.

Maidan von Sergei Loznitsa-Die Kamera bewegt sich

Maidan Loznitsa

Mein formalistisches Herz erlitt einen Orgasmus als ich sah wie sich der Fels in der revolutionären Brandung, der von einer statisch-poetischen Kamera verkörpert wurde, dann doch dem Schicksal seiner Lebendigkeit ergeben musste und sich ob der zahlreichen Angriffe, dem Chaos der politischen Ungerechtigkeiten und den Prozessen einer Gemeinschaftlichkeit bewegen musste. Mitten im Kampfgeschehen stehend, flieht die Kamera hektisch wackelnd einmal in eine andere Position. Es ist die einzige Kamerabewegung im Film, an die ich mich erinnern kann. Alles andere ist statisch. Fast erstickende Sanitäter torkeln um sie herum und im nebeligen Hintergrund offenbart sich langsam eine schwarze Wand aus Polizisten. Stimmen sind zu hören und immer wieder ein Knall und plötzlich wird uns klar, dass wir gefährdet sind. Denn die Distanz, die wir haben, kann nur gebrochen werden, wenn sie eine Distanz bleibt und in ihrer Distanz angegriffen wird.

Jauja von Lisandro Alonso-Dinesen zieht seine Uniform an

Jauja Alonso

Jauja ist ein Film voller Erinnerung. Vielleicht nehme ich aus diesem Grund ein Bild aus dem Film, das darüber hinausgeht, weil es neben dem somnambulen Aussetzen einer zeitlichen Regung auch einen einsamen Stolz erzählt, der so wichtig ist für unsere Wahrnehmung einer Person, sei es in Träumen, durch die Augen eines Hundes oder im Kino. Kapitän Dinesen (der aus undefinierbaren Gründen für mich beste Name einer Figur im Kinojahr 2014) hat festgestellt, dass seine Tochter in der Leere der Wüste verschwunden ist. Im murnauesquen Mondlicht macht er sich hektisch auf den Weg. Dann bricht er plötzlich ab. Ganz langsam richtet er seine Uniform her. Er kleidet sich. Er bereitet sich vor. Aus der Panik erwächst die Spiritualität, aus dem Mond wird ein entstehender, glühender Feuerball.

La meraviglie von Alice Rohrwacher-Bienenschwarm

Land der Wunder Rohrwacher

La meraviglie ist wohl der einzige Film auf dieser Liste, der dem Leben nähersteht als dem Tod (obwohl er vom Tod erzählt…). Eine schier unendliche Energie geht durch die Alltäglichkeit des Kampfes dieser Bienenzüchterfamilie. Wie ein Sinnbild ohne Metaphorik fungieren dabei die Einstellungen, die sich im Surren und Treiben der Bienenschwärme verlieren. Denn die Lebendigkeit des Films und die organisierte und nur scheinbare Richtungslosigkeit finden sich auch in den schreienden Massen an Bienen. Aber welch Wunder dort wirklich möglich ist, zeigt sich in der Zärtlichkeit des Umgangs der älteren Tochter, die in einem perfekten Erklingen von Schönheit inmitten des Chaos eine Biene aus ihrem Mund klettern lässt. Magie und das ewige Summen bis die Zeit vorbei ist.

Turist von Ruben Östlund-Der POV Hubschrauber

Höhre Gewalt

Ruben Östlund beherrscht in seinem Turist die Psychologie seiner Figuren und jene des Publikums zur gleichen Zeit. Diese zynische Souveränität korrespondiert in ihrer perfiden Perfektion mit dem Inhalt und so ist es nur konsequent, dass Östlund sie mindestens an einer Stelle zusammenbrechen lässt. Diese Stelle findet sich im schockierendsten Perspektivwechsel des Kinojahres. In einem Moment der völligen Erbärmlichkeit, des grausamen Schweigens nach einer Offenbarung des Geschlechterkrieges, fliegt ein Spielzeugufo durch das Zimmer im Touristenhotel. Östlund schneidet in einen POV aus dem Gerät und bricht damit nicht nur die Anspannung sondern zeigt welch sarkastischer Horror sich hinter dieser Psychologie verbirgt. Ich springe jetzt noch, wenn ich mich daran erinnere. Es ist wie eine Erinnerung an die Welt inmitten des Dramas. Es sei natürlich gesagt, dass Turist ein Film ist, der sich mit der Bedeutung eines einzigen Moments befasst. Aber er sucht vielmehr die Momente, die aus einem Moment resultieren.

Journey to the West von Tsai Ming-liang – Lavant atmet

Denis lavant Tsai

Im Fall der Meditation Journey to the West ist es ein Ton, den ich nicht vergessen kann. Es ist das ruhige Atmen des schlafenden Denis Lavant. Seine vibrierenden Nasenflügel, sein Erwachen, das antizipiert wird. Seine ruhende Kraft, die alles mit ihm macht, was es in den Bewegungssinfonien bei Carax kaum geben kann. Ich höre es. Es ist gleichmäßig und es ist von einer ähnlichen Schönheit wie jede Sekunde in dieser Rebellion der Langsamkeit.

Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan – Der verbale Tod

Winterschlaf Ceylan

Nuri Bilge Ceylan erforscht in seinem Winter Sleep die Kraft von Film als Literatur. Er bewegt sich auf einem philosophischen Level mit großen Schriftstellern und macht fast unbemerkt auch noch ungemein gute Dinge mit dem Kino. Ein solcher filmischer Augenblick findet sich in der plötzlichen Abwesenheit der Schwesterfigur nach einem intensiven Dialog mit ihrem Bruder, einem verbalen Mord der Widerwärtigkeiten, Lügen und grausamen Wahrheiten. Sie befindet sich hinter einer geschlossenen Türe und die wie das so ist mit Worten, wird einem die Tragweite von ihnen zumeist nicht im Moment ihrer Aussprache bewusst, sondern im Moment der Reaktion. Hier ist die Reaktion eine Abwesenheit. Im Dunst eines erdrückenden Winters des Selbsthasses.

Phantom Power von Pierre Léon – Die Hände von Fritz Lang

Pierre Léon

Man ist schon trunken, ob der Musik und der Worte, dann kommen die Bilder. Es sind nicht jene Bilder von Léon selbst, sondern es ist dies eine Liebeserklärung an Fritz Lang. Die Hände von Fritz Lang, die zärtlich krallen, die halten und fallen, vielleicht töten, manchmal lieben. Sie sind Bewegung und Erinnerung, in ihnen findet sich ein Stottern im Angesicht einer Sucht, sie sind wie eine Unmöglichkeit zu berühren, sie berühren.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu – Die Angst von Porumboiu

Porumboiu Bukarest

Es ist nur eine kleine Randbemerkung, man bemerkt sie kaum, aber sie ist entscheidend. In diesem Gespräch zwischen Vater und Sohn, im Angesicht eines verschneiten Fußballspiels äußert Corneliu Porumboiu, dass er als Kind Angst hatte vor dem Fernseher. Diese Angst wird nicht weiter erläutert und sein Vater, der das Spiel als Schiedsrichter leitete, geht nicht weiter darauf ein. Aber in dieser Formulierung liegen die Unheimlichkeiten und dir Zärtlichkeit des Films zur gleichen Zeit. Ist es die Angst des Sohnes, wenn er seinen Vater unter Druck sieht? Ist es die politische Angst eines Rumäniens kurz vor der Revolution? Ist es die Angst vor dem Schnee, der Kälte, dem Ende der Welt? Ist es die Angst vor der Zeit, die Angst vor der Erinnerung, ist es gar keine Angst sondern eine Illusion? Ist es eine Vorteilsregelung, wenn der Vater darauf nicht eingeht, ermöglicht er so das Leben und das Spiel, den Fortgang von allem?

From What is Before von Lav Diaz – Es beginnt der Regen

Lav Diaz Locarno

Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass es Geister gibt. Vor kurzem war ich in einem Wald und alles war ganz still. Plötzlich hörte man einen Wind kommen und erst eine halbe Minute später erreichte dieser Wind die Bäume unter denen ich wartete. Er zog durch sie hindurch und weiter in die Tiefen des dunklen Dickichts. Bei Diaz kommt so der Tod. Zunächst sehen wir einen Mann und eine Frau im digitalen schwarz-weiß einer übermächtigen Umwelt an einem Fluss. Plötzlich sieht der Mann etwas Off-Screen, ein unheimliches Gefühl entsteht. Dieses Gefühl entsteht alleine aus der Zeit, die Diaz fühlbar macht. Es beginnt zu regnen. Etwas ist passiert, wir haben es gespürt. Es wirkt als würde ein böser Geist erscheinen, man bekommt es mit einer unsichtbaren Angst zu tun. Dabei denke ich an den Wind im Wald. Dann erscheint im Bildhintergrund eine leidende Frau. Sie bricht zusammen und beklagt weinend den Tod ihres Sohnes. Kurz darauf sitzt sie in einem Kreis und singt über den Tod ihres Sohnes und ihr Schicksal. Die Frauen und Männer, die um sie sitzen beginnen nach und nach zu weinen. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, man muss selbst weinen, man spürt jeden Tropfen Verlorenheit, persönlich und politisch.

Leviathan von Andrey Zvyagintsev – Das Meer

Leviathan

Immer wenn Zvyagintsev das Meer filmt, findet seine Kamera das profunde Wesen seiner Ambition und erreicht eine spirituelle Kraft, die dem modernen Kino ansonsten aufgrund seines reflektierten Zynismus abgeht. Leviathan ist ein Film wie die Philosophie einer brechenden Welle, ein wundervolles Monster im Ozean, es treibt dort seit Jahrhunderten. Es ist ein suizidaler Magnet, eine andere Welt, eine Grenze. Das Meer ist auch trügerisch, denn hier finden sich zugleich der Tod und das ewige Leben. Es ist eine sehnsuchtsvolle Lüge und in der Weite erblickt man entweder die Hoffnung oder die Hoffnungslosigkeit. Das Meer kann uns alles geben und alles nehmen. Hier ist die Natur, die Bewegung und die Reise in einem Bild.