Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

This Human World 2018: Družina von Rok Biček

Im Rahmen einer Kooperation mit dem This Human World 2018 präsentieren wir eine Auswahl von Filmen aus dem diesjährigen Festivalprogramm.

Es gibt nicht viele Dokumentarfilme, die so direkt in ihr Geschehen einsteigen wie Družina von Rok Biček. Ein paar kurze Titeleinblendungen, dann das erste Bild: Eine junge Frau liegt mit nacktem Unterkörper und gespreizten Beinen vor der Kamera, neben ihr zwei Ärzte und ein Mann. Als man begriffen hat, dass sie kurz davor ist, ein Kind zu bekommen, ist die Geburt bereits im Gange. Ein Schauspiel, aufgeladen mit (in der Regel positiven) Bedeutungen: Das Wunder des Lebens, die biologische Begründung einer neuen Familie. Doch in die trübe Lichtstimmung der langen Einstellung mischen sich Gefühle der Unsicherheit, des Zweifels. Das Schmerzhafte der blutigen Prozedur (die umso mehr als solche erscheint, weil die Geburtshelfer mit einer Schere nachhelfen müssen) drängt sich unangenehm in den Vordergrund. Schon hier scheint das Konzept “Familie” (die Übersetzung des slowenischen Titels) auf undeutliche Weise im Argen zu liegen.

Družina von Rok Biček

Der Rest des Films spitzt diesen Eindruck weiter zu. Družina ist eine Langzeitdokumenation: Über zehn Jahre hinweg hat Regisseur Biček seine Hauptfigur Matej Rajk – den Mann, der in der Eröffnungsszene an der Seite der werdenden Mutter steht – mit der Kamera begleitet. Doch das Bild, dass er uns von ihm und seinen Lebensumständen präsentiert, vermittelt keine „Entwicklung”, sondern das Gefühl eines ausweglosen Kreislaufs.

Das liegt alleine schon an Bičeks Umgang mit Zeit: Periodisch springt er innerhalb seines Erzählrahmens vor und zurück, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, stellt subtile Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. Kurz nach Filmbeginn sehen wir einen Buben, der hinter dem Geländer einer Eisbahn steht und die Läufer beobachtet – ein Außenseiter-Sinnbild, das sich später in abgewandelter, aber noch deutlicherer Form wiederholen wird. Ist es Matejs Kind, vielleicht ein Verwandter? Es dauert ein bisschen, bis man ihn selbst im Gesicht des Jugendlichen erkennt.

Družina von Rok Biček

Beiläufig lernt man Matejs Elternhaus kennen, über scheinbar banale, aus dem Kontext gerissene Alltagsmomente. Wie sich herauskristallisiert, sind Vater, Mutter und Bruder geistig eingeschränkt, die Kommunikation von Missverständnissen und Konflikten gezeichnet, die Autorität der Erziehungsberechtigten bestenfalls labil. Die Atmosphäre ist eine der Eingeschlossenheit und gegenseitigen Entfremdung bei gleichzeitiger Isolation von der Außenwelt.

Der Film spielt überwiegend in karg eingerichteten Innenräumen. Als Jugendlicher pflegt Matej Kontakte übers Internet, sitzt mit Headset vor dem Computer in seinem Zimmer und wirkt in diesem mentalen Refugium erstaunlich souverän – solange niemand aus seiner Familie hereinspaziert und die Blase platzen lässt. Menschen außerhalb des engeren Lebenskreises Matejs kommen in Družina nur selten vor. Meist sind es Vertreter staatlicher Institutionen. Nach etwa einer halben Stunde wohnt man bei, als eine Sozialarbeiterin versucht, Matejs Vater zu erklären, dass sein Sohn kaum Lernschwierigkeit hat, eventuell sogar studieren könnte. Die Mitteilung scheint diesen eher zu beunruhigen als zu freuen.

Družina von Rok Biček

Die (Ersatz-)Familie, die Matej sich Jahre später mit seiner Freundin zu schaffen gedenkt, fällt binnen kürzester Zeit in sich zusammen. Die beiden gehen im Streit auseinander, er beginnt eine Beziehung mit einer 14-jährigen, doch am Telefon läuft der Trennungszwist weiter, es geht um Sorge- und Besuchsrechte, um Pflicht und Verantwortung. Die emotionale Verwahrlosung früherer Szenen scheint sich in diesen Kleinkriegen zu spiegeln.

Matejs Verhalten ist bei weitem nicht immer sympathisch, doch Biček wertet nicht. Er stellt aber auch keine wirkliche Nähe her. Obwohl die Gewöhnung der Protagonisten an seine Kamerapräsenz in den intimsten Momenten den Eindruck erwecken könnte, er sei quasi selbst Teil der „Familie”, spürt man stets eine Distanz zu den Ereignissen, die bewusst gesetzt scheint. Zwar fällt Bičeks Name hin und wieder, ihn selbst hört man aber nie sprechen. Manchmal haftet seinem Blick etwas Verstohlenes an, ein hilfloses Beobachten zwischen Mitleid, Angst und Besorgnis. An einer Stelle rast Matej frustriert mit dem Auto durch den Wald, kratzt wilde Kurven, der Motor dröhnt vor Wut. Die Kamera filmt das vom Rücksitz aus und zoomt dann unvermittelt auf den Rückspiegel, um seine rastlosen Augen zu fokussieren. In dieser Geste steckt Abstand.

Družina von Rok Biček

Auch das verstärkt die Wahrnehmung einer stagnierenden Zustandsbeschreibung, einer Art Fallstudie, im Unterschied zum Live-Lebenslauf, den andere Langzeitdokus simulieren. Ein Gegenbeispiel wären die großartigen Arbeiten Helena Třeštíkovás, die zuvorderst von Veränderung erzählen, von den Unwägbarkeiten der menschlichen Existenz, und bei denen man so gut wie nie voraussagen kann, wo sie am Ende landen werden. Die Stellung der Filmemacherin im Leben der Leute, die sie porträtiert, ihre Präsenz und wiederholte Absenz werden meistens thematisiert, und sei es nur kursorisch.

Die Möglichkeit von Veränderung ist eine Definition von Hoffnung. Biček – ein Hoffnungsträger des jungen slowenischen Kinos, der zuletzt mit seinem Langspielfilmdebüt Razredni sovraznik von sich Reden machte – geht es indes um Hoffnungslosigkeit. Družina stellt in fast jeder Szene implizit die Frage, wer eigentlich Schuld an der Misere der Hauptfigur hat, die sich sogar sterilisieren lassen will, um keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen, verwehrt aber eindeutige Antworten. Haften bleibt das Scheitern der Versuche, auszubrechen. Im Endeffekt entsteht so (wie kürzlich auch in Richard Billinghams vergleichsweise warmem und verträumtem, aber dennoch vielfach ähnlich gelagertem Ray & Liz) auf einer politischen Ebene das Bild einer Klassengesellschaft, die ihre Schwächsten stetig hängen lässt, und auf einer existenziellen Ebene ein kaltes Klagelied über die tragische Abhängigkeit des Menschen von seinen Umständen. Letzteres erreicht seinen Höhepunkt in einer Szene, die Matejs Bruder beim vergeblichen Versuch zeigt, am verschneiten Grab seines Vaters eine Gedenkkerze anzuzünden. Wenn man Biček etwas vorwerfen kann, dann ist es der Umstand, dass ihm die Kraft eines solchen Bildes manchmal wichtiger zu sein scheint als seine Figuren.