Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

This Human World 2018: The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

Im Rah­men einer Koope­ra­ti­on mit dem This Human World 2018 prä­sen­tie­ren wir eine Aus­wahl von Fil­men aus dem dies­jäh­ri­gen Festivalprogramm.

Mensch­lich­keit im Kino: Wenn jeder mit­füh­len kann. Angst, Freu­de, Trau­er, Hoff­nung, Mit­leid, Scham, Wut, Lie­be, Hass und Eupho­rie. Die Gewor­fen­heit eines jeden und das Umge­hen damit. Erin­nern Sie sich: Auch Sie sind ein Mensch. Auch wenn Sie nicht genau­so sind wie jene, die sie auf der Lein­wand sehen. Was kann aus die­ser emo­tio­na­len Erkennt­nis gezo­gen wer­den? Alles Mög­li­che. Rühr­se­lig­keit, Pro­pa­gan­da. Empa­thie, Ein­sicht. Oder ein all­ge­mei­nes Unbehagen.

Krieg bil­det eine Kon­trast­fo­lie für Mensch­lich­keit, wenn man das Unmensch­li­che an ihm betont (sprich: wenn man sei­ne Men­schen­ge­macht­heit so weit wie mög­lich im Off lässt). In The Distant Bar­king of Dogs von Simon Ler­eng Wil­mont ist der Krieg wie ein lan­ges und schreck­li­ches Unwet­ter. Er schlägt am Anfang ein wie ein Blitz, im Zuge eines trü­ben Dash­cam-Vide­os. Autos fah­ren eine graue Stra­ße ent­lang. Plötz­lich erschüt­tert eine Explo­si­on das Bild, Schutt und Geröll hageln gegen die Wind­schutz­schei­be. Schicksal.

The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

Es bricht her­ein über Hnu­to­ve, ein klei­nes Dorf im Süd­os­ten der Ukrai­ne, etwa 100 km von Donetsk ent­fernt. Die Front mit ihren Kämp­fen ist näher. Das Bel­len der Hun­de? Das Don­nern der Geschüt­ze. Die meis­ten Bewoh­ner sind weg, doch der 10-jäh­ri­ge Oleg und sei­ne Groß­mutter har­ren aus. Ein­gangs erscheint uns die Land­schaft im Win­ter. Die Käl­te starrt aus dem Weiß des Him­mels, aus ver­eis­tem Gesträuch und der knor­ri­gen Karg­heit der Fel­der. Oma und Enkel besu­chen das Grab der Mut­ter, strei­chen das blaue Kreuz neu, damit es ans Leben erinnert.

Denn Fried­hofs­ru­he herrscht hier nicht nur am Fried­hof. Ein Schat­ten der Bedro­hung, des lau­ern­den Todes, las­tet schwer auf dem müden Schlei­er der All­tags­nor­ma­li­tät. In der Schu­le sagen die Kin­der auf, vor wel­chen Minen­ar­ten sie sich beson­ders in Acht neh­men müs­sen. Sie stei­gen in den Schutz­kel­ler hin­ab, pro­ben den Ernst­fall des Bom­ben­an­griffs. „Jetzt nicht mehr reden, die Luft wird knapp”, sagt die Lehrerin.

Doch Mensch­lich­keit gedeiht auch unter schwie­ri­gen Bedin­gun­gen. Wenn es Zeit und Raum fin­det, bricht sich das Kind­li­che, das Ver­spiel­te unwei­ger­lich Bahn. Oleg albert mit sei­nem jün­ge­ren Cou­sin Yarik her­um, aben­teu­ert mit ihm durch die Gegend, macht die Ödnis zum Spiel­platz. Er liebt sei­ne Oma, sei­ne Oma liebt ihn. Die Ahnung einer unbe­fan­ge­nen Exis­tenz. Im Jah­res­zei­ten­wech­sel eine Ein­stel­lung, die Bau­ern bei der Heu­ern­te zeigt. Abrup­tes Tau­wet­ter. Für einen Augen­blick hat man die Käl­te ver­ges­sen – aber nur für einen Augen­blick. Spä­ter erin­nert die Groß­mutter: „Der Krieg kennt sei­ne eige­nen Jah­res­zei­ten: Den Ern­te-Waf­fen­still­stand, den Schul­be­ginn-Waf­fen­still­stand, den Oster-Waffenstillstand.”

The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

The Distant Bar­king of Dogs erzählt von der Kon­ta­mi­na­ti­on des Gewöhn­li­chen mit der Unsi­cher­heit eines exis­ten­zi­el­len Abgrunds. Das harm­lo­se Spiel Olegs (wie ein Super­held rennt er mit Hand­tuch-Umhang einen schma­len Pfad ent­lang) lädt sich mit der Gewalt auf, die um ihn her­um immer spür­bar, aber sel­ten sicht­bar ist. Sie steckt in der über­lie­fer­ten Erin­ne­rung an Bom­ben­an­grif­fe, in den grau­sa­men Stern­schnup­pen des Geschütz­feu­ers am Nacht­him­mel, in den Vide­os von nahe­ge­le­ge­nen Kriegs­schau­plät­zen, die der älte­re, abge­brüh­te Nach­bars­jun­ge Kos­tya aus der Pan­do­rabüch­se sei­nes Lap­tops in die Atmo­sphä­re lässt (für uns bleibt das Ent­set­zen auf der Ton­spur). Sie dringt in die Kör­per, die vor ihr zusam­men­zucken. Über­all macht sich Angst breit, die man über­spie­len ler­nen muss, beim nächt­li­chen Spa­zier­gang, am Lager­feu­er oder am Küchen­tisch, mit Lachen oder mit Selbst­be­wusst­sein. „Wir Män­ner müs­sen alles aus­hal­ten kön­nen!”, hat Oleg irgend­wo aufgeschnappt.

Wenn das nicht gelingt, wirft er blind­wü­tig mit Stei­nen auf Fla­schen oder rauft sich am Heim­weg auf eine Wei­se mit Yarik, dass man Spiel und wut­ent­brann­ten Streit kaum von­ein­an­der unter­schei­den kann. Wie der Ukrai­ne­krieg selbst balan­ciert Wil­monts Film zit­ternd auf der Schwel­le zwi­schen tota­ler Eska­la­ti­on und brü­chi­ger Sta­bi­li­sie­rung. Poli­tik spielt kaum eine Rol­le, nur in Radio­nach­rich­ten­fet­zen, die von Sie­gen und Ver­lus­ten der ukrai­ni­schen Regie­rungs­trup­pen berich­ten, oder in klei­nen Rand­be­mer­kun­gen. „Wenn Putin es wirk­lich will, gibt es für uns kein Ver­steck mehr”, meint Kos­tya bei­läu­fig. Der Mikro­kos­mos des Films ist auch ein Gegen­ent­wurf zu sar­do­ni­schen Sys­tem­ana­ly­sen wie Ser­gei Loz­nit­s­as Don­bass. Oleg wur­de am Pau­sen­hof ver­prü­gelt, weil er Rus­sisch spricht, beklagt sei­ne Oma an einer Stelle.

The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

Wil­mont, der 2016 einen Film mit Vic­tor Kos­sa­kovs­ky gedreht hat, bleibt stets nahe an den Men­schen dran. Er sucht nach ihrer Umwelt in ihren Gefüh­len und nach ihren Gefüh­len im Aus­druck, den sie die­sen im All­tag ver­lei­hen, im Umgang mit­ein­an­der, in pri­va­ten Momen­ten, die er als teil­ha­ben­der Beob­ach­ter ein­fängt, auch wenn sie unan­ge­nehm sind. Dar­in gemahnt The Distant Bar­king of Dogs stark an Rober­to Miner­vi­nis ein­dring­li­che Milieu­por­träts eines mar­gi­na­li­sier­ten Ame­ri­kas, etwa an die mit Wut und Zärt­lich­keit, Macht­lust und Ohn­macht auf­ge­la­de­nen Fla­nier-Kon­flik­te zwi­schen den jun­gen Halb­brü­dern aus What You Gon­na Do When the World’s on Fire? Aber es gelingt Wil­mont – womög­lich auch auf­grund pre­kä­rer Dreh­be­din­gun­gen – nicht immer, den Ein­druck von Natür­lich­keit zu wah­ren, der Miner­vi­nis Fil­men bei aller „Gestellt­heit” gro­ße Kraft verleiht.

Im teils hek­ti­schen Schnitt, im Musik­ein­satz, in der Farb­kor­rek­tur, im bemüh­ten Span­nungs­bo­gen samt Hoff­nungs­schim­mer­schluss spürt man zu sehr das Bedürf­nis nach einem Nar­ra­tiv. Am deut­lichs­ten in einer mar­kan­ten Sequenz, in der Oleg von Kos­tya bei­gebracht bekommt, mit einer Gas­pis­to­le umzu­ge­hen, sich dabei ver­letzt, danach trotz­dem wei­ter­macht, sich unter Druck des Älte­ren dazu bringt, einen Frosch tot­zu­schie­ßen und letzt­lich von der Ent­täu­schung der Oma ob sei­ner Ver­ro­hung in Trä­nen aus­bricht – der Film has­tet hier mit einem didak­ti­schen Drall durch, der den ein­zel­nen Sze­nen viel von ihrer Direkt­heit raubt. Den­noch schafft sein über wei­te Stre­cken bedach­ter Umgang mit Form, eine Grund­stim­mung auf­zu­bau­en, die lan­ge nachhallt.