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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Diamantino von Gabriel Abrantes und Daniel Schmidt

Viennale 2018: Diamantino von Gabriel Abrantes und Daniel Schmidt

Das ers­te, was man in Dia­man­ti­no nach der bei euro­päi­schen Kopro­duk­tio­nen übli­chen Para­de an Logos zu sehen bekommt, ist eine Text­ta­fel. Auf ihr wird hin­ge­wie­sen, dass es sich beim fol­gen­den Film um gänz­lich fik­tio­na­le Figu­ren und Vor­gän­ge han­delt. Nichts hat auch nur annä­hernd mit der Rea­li­tät zu tun. Übli­cher­wei­se sind sol­che Tafeln eher am Ende der Film­cre­dits plat­ziert. War­um ist es bei Dia­man­ti­no anders? Ver­mut­lich, weil Cris­tia­no Ronal­do über sehr guten Rechts­bei­stand ver­fügt und sich womög­lich auf den Schlips getre­ten füh­len könn­te. Die Fil­me­ma­cher kön­nen näm­lich nur hof­fen, dass Cris­tia­no Ronal­dos iko­ni­sche Posen, die jedem Fuß­ball­fan bekannt sind, nicht urhe­ber­recht­lich geschützt sind (das ähn­li­che Äuße­re ist glück­li­cher­wei­se wohl nicht klagsfähig).

Dia­man­ti­no han­delt von einem por­tu­gie­si­schen Fuß­ball­pro­fi. Auf dem Feld ist er ein tota­les Genie, neben dem Platz immer per­fekt gestylt, eine Wer­be­i­ko­ne. Eine ers­te Kost­pro­be von sei­nem Kön­nen, gibt es gleich zu Beginn des Films zu sehen, als er sein Team im Welt­meis­ter­schafts­spiel gegen Chi­le qua­si im Allein­gang eine Run­de wei­ter­schießt. Eigent­lich rech­nen alle damit, dass Dia­man­ti­no Mata­mou­ros, wie er mit vol­lem Namen heißt, den Titel nach Por­tu­gal holt, doch einen Tag vor dem Fina­le gegen Schwe­den (eine etwas bizar­re Wahl für einen Final­geg­ner, aber hier soll es ja nicht um Fuß­ball gehen) wird das Leben des Fuß­ball­stars erschüt­tert. Beim Rela­xen auf sei­ner Yacht, begeg­net ihm auf ein­mal ein Boot vol­ler Flücht­lin­ge. Der etwas beschränk­te Dia­man­ti­no wird plötz­lich mit einer völ­lig ande­ren Welt kon­fron­tiert – mit einer, in der Kin­der im Meer ertrin­ken, in der Armut und Elend herrschen.

Das unbe­schwer­te Fuß­ball­spie­len ist nun vor­bei. Im Final­spiel steht er neben sich. Die Magie scheint ver­lo­ren. Fil­misch haben die bei­den Regis­seu­re Gabri­el Abran­tes und Dani­el Schmidt die­sen Ver­lust sehr krea­tiv umge­setzt. Wäh­rend sich Dia­man­ti­no bis dato im Spiel in einer Traum­welt wähn­te, in der er mit über­di­men­sio­na­len Hun­de­wel­pen auf dem Feld stand, ist das in ver­wa­sche­nen Pas­tell­far­ben gehal­te­ne Traum­land nun ver­schwun­den. In der tris­ten, rea­len Welt des Pro­fi­fuß­balls, ist sein Zau­ber ver­flo­gen. Er ver­schießt den ent­schei­den­den Elf­me­ter. Nicht Por­tu­gal, son­dern Schwe­den wird Welt­meis­ter. Der vor­ma­li­ge Held ist zum Buh­mann avan­ciert. Als wäh­rend des Fina­les auch noch Dia­man­ti­nos Vater ver­stirbt, der zugleich als sein Men­tor und Mana­ger fun­gier­te, hängt der Aus­nah­me­kön­ner sei­ne Fuß­ball­schu­he an den Nagel.

Sehr zum Leid­we­sen sei­ner ungleich klü­ge­ren, aber auch geris­sen-skru­pel­lo­sen Zwil­lings­schwes­tern. Die haben wenig Inter­es­se an Dia­man­ti­nos See­len­wohl, aber umso mehr an den lukra­ti­ven Wer­be­ver­trä­gen und Gehalts­schecks, die ihr klei­nes Brü­der­chen bis zu die­sem Zeit­punkt regel­mä­ßig an Land zog und ihnen damit ein unbe­schwer­tes Leben in einer palast­ar­ti­gen Fami­li­en­vil­la ermög­lich­te. Um den Ein­kom­mens­aus­fall aus­zu­glei­chen, schlie­ßen die Schwes­tern einen Deal ab. Dia­man­ti­no soll durch ein gehei­mes, staat­lich gesteu­er­tes Pro­gramm geklont wer­den. Elf genia­le Dia­man­ti­nos sol­len dann für fuß­bal­le­ri­sche Domi­nanz sor­gen und frei nach dem Mot­to „Brot und Spie­le“ die por­tu­gie­si­sche Bevöl­ke­rung davon ablen­ken, dass der Kurs der ultra-natio­na­lis­ti­schen, EU-feind­li­chen Regie­rungs­par­tei nicht hin­ter­fragt wird (Por­tu­gal steu­ert im Film näm­lich auf eine Art Brexit zu). Vor den Pro­pa­gan­da-Kar­ren der Par­tei lässt sich der naï­ve Dia­man­ti­no zudem eben­falls spannen.

Diamantino von Gabriel Abrantes und Daniel Schmidt

Das war noch nicht ein­mal alles an Expo­si­ti­on, dass es für Dia­man­ti­no zu erzäh­len gäbe und doch ver­liert man sich bereits in der Plot­be­schrei­bung. Das ist bis zu einem gewis­sen Punkt unver­meid­lich, denn die schie­re Ver­rückt­heit der Ereig­nis­se ist ohne Zwei­fel das wich­tigs­te Ver­kaufs­ar­gu­ment für den Film – und zudem auch essen­ti­ell, um sich dem Film auf einer for­mal-ästhe­ti­schen Ebe­ne über­haupt annä­hern zu kön­nen. Ein zen­tra­les Ele­ment ist aber unbe­dingt noch zu erwäh­nen – und ver­mut­lich der Haupt­grund für die recht­li­che Absi­che­rung zu Beginn: Wie der rea­le por­tu­gie­si­sche Fuß­ball­star, mit dem Dia­man­ti­no so gar kei­ne Ähn­lich­keit hat, sind dem Prot­ago­nis­ten des Films die Steu­er­fahn­der auf den Fer­sen, denn er soll Mil­lio­nen­be­trä­ge am Fis­kus vor­bei­ge­schleust haben. Auf ihn ange­setzt ist ein unge­wöhn­li­ches Ermitt­ler-Duo: ein les­bi­sches Paar, eine von ihnen Droh­nen­pi­lo­tin, die ande­re Hacke­rin kap­ver­di­scher Abstammung.

Die bei­den fol­gen dem Leben Dia­man­ti­nos zunächst aus der Droh­nen­per­spek­ti­ve. Die Ermitt­lun­gen sind bereits sehr weit fort­ge­schrit­ten. Es fehlt nur noch ein letz­ter, stich­hal­ti­ger Beweis, um den Zugriff zu ermög­li­chen. Da tut sich eine unge­ahn­te Chan­ce auf: Dia­man­ti­no, noch immer scho­ckiert von sei­ner Begeg­nung mit den Flücht­lin­gen, beschließt ein Flücht­lings­kind zu adop­tie­ren. Die belau­schen­den Ermitt­le­rin­nen schmie­den einen Plan: die dun­kel­häu­ti­ge Hacke­rin Aisha wird als Flücht­lings­jun­ge getarnt im Haus­halt von Dia­man­ti­no eingeschleust.

Man sieht: so rich­tig weit her, ist es nicht mit Plau­si­bi­li­tät in die­sem Film. Irgend­wie macht das aber auch Sinn. Denn die Geschich­te der Agen­ten­fil­me, an denen sich Dia­man­ti­no bis zu einem gewis­sen Grad ori­en­tiert, ist auch voll von unplau­si­blen Ereig­nis­sen und Figu­ren. Auf einem in rosa Nebel getauch­ten Fuß­ball­feld her­um­tol­len­de, meter­gro­ße Hun­de­wel­pen erzeu­gen eben­falls nicht den Ein­druck, als gin­ge es in Dia­man­ti­no um die ernst­haf­te Auf­ar­bei­tung von Fehl­ent­wick­lun­gen im inter­na­tio­na­len Pro­fi­fuß­ball. Und so akzep­tiert man, dass der ohne­hin als ver­trot­telt dar­ge­stellt Prot­ago­nist, die Ermitt­le­rin als Teen­ager-Jun­ge in sei­nem Haus auf­nimmt. Der poli­ti­sche Thril­ler (wenn man ihn als einen sol­chen bezeich­nen kann) nimmt hier einen Abste­cher in Rich­tung Vater-Sohn-Dra­ma und spielt eine Rei­he von kli­schee­be­la­de­nen Stan­dard­sze­nen durch: Es geht um Fuß­ball, moto­ri­sier­te Fahr­zeu­ge und Video­spie­le. Gefilmt wird viel davon aber aus etwas unüb­li­chen Kame­ra­per­spek­ti­ven. Man sieht die Prot­ago­nis­ten oft­mals aus der Luft oder im Stil von CCTV gefilmt. Die nost­al­gi­schen Fami­li­en­bil­der wer­den hier im Jar­gon des Agen­ten­films gebro­chen: Die Bil­der, die wir sehen, stim­men mit denen, der ermit­teln­den Steu­er­fahn­der überein.

Diamantino von Gabriel Abrantes und Daniel Schmidt

Der wil­de Gen­re-Par­cours setzt sich anschlie­ßend fort: Nach Sport­film, Agen­ten­thril­ler und Fami­li­en­dra­ma, wird Dia­man­ti­no zu einer Mischung Sci­ence-Fic­tion und Que­er-Film. Das Labor der Gene­ti­ke­rin Dr. Lam­bor­ghi­ni, wo Dia­man­ti­nos Klon­pro­zess vor­be­rei­tet wird, wirkt als wür­de es der Fan­ta­sie eines James-Bond-Böse­wichts ent­sprin­gen, der sich von der Brut­stät­te der Klon­ar­mee aus Star Wars inspi­rie­ren hat las­sen. Dass Dia­man­ti­no durch die gene­ti­sche Behand­lung Brüs­te wach­sen gibt dem Gan­zen sei­nen quee­ren Touch. Die Ver­wir­rung der Geschlech­ter ist nun end­gül­tig: Homo­se­xua­li­tät und Cross­dres­sing wer­den durch trans­se­xu­ell Kodie­run­gen ergänzt. Die über­mä­ßig zur Schau gestell­te Männ­lich­keit, die Dia­man­ti­no (und Fuß­bal­ler gene­rell) in sei­ner Außen­dar­stel­lung bis dahin kenn­zeich­ne­te, wird dadurch scho­nungs­los enttarnt.

Die Gen­re-Bre­chun­gen neh­men kein Ende. Die poli­ti­sche Ver­schwö­rung wie­gelt sich immer mehr auf, die Vater-Sohn-Sto­ry ent­wi­ckelt sich zur Lie­bes­ge­schich­te, der Agen­ten-Plot endet im gro­ßen Show­down samt Schie­ße­rei. Zu der erscheint Aisha stan­des­ge­mäß auf moto­ri­sier­tem Ein­spurer. Selbst das gelingt aber nicht ohne iro­ni­sche Bre­chung: sie kommt auf einem Mini­bike. Am Ende, las­sen die Gren­zen von Fan­ta­sie, fil­mi­scher Rea­li­tät und der rea­len Lebens­welt kaum mehr Zie­hen. In die­sem Sin­ne funk­tio­niert Dia­man­ti­no ähn­lich wie ein Traum. Es pas­sie­ren Din­ge, die man kennt, wie und war­um sie pas­sie­ren, macht aber nicht immer Sinn.

Dass eine Mar­kie­rung der Gren­zen zwi­schen den ver­schie­de­nen Fik­ti­ons­ebe­nen fehlt, ist sicher­lich die größ­te Stär­ke des Films. Auf eine wohl jedem Dreh­buch­pro­fes­sor wider­stre­ben­de Art und Wei­se gelingt es dem Film ein über­kom­ple­xes Nar­ra­tiv aus­zu­brei­ten, dem man des­halb fol­gen kann, weil es alles „falsch“ macht. So bleibt einem nur übrig, sich dar­auf ein­zu­las­sen und die Absur­di­tät des Gese­he­nen zu akzep­tie­ren. Hin­ter all die­sen selt­sa­men Ein­fäl­len steckt dann aber doch mehr, als man auf den ers­ten Blick anneh­men soll­te. Denn Flücht­lings­kri­se, Steu­er­hin­ter­zie­hung von Top­ver­die­nern und natio­na­lis­ti­sche Poli­tik sind kei­ne fik­ti­ven Pro­ble­me des Films. Ent­ge­gen der Tafel am Anfang, hat der Film letzt­lich doch mehr mit den Pro­ble­men unse­rer Welt zu tun, als er (aus recht­li­chen Grün­den) zuge­ben möchte.