Eine, die stirbt und sich nicht mehr an den letzten Film erinnert, den sie gesehen hat, ist eine ganz gewöhnliche Frau. Sie hatte das Kino und die Filme immer gemocht, zumindest hatte sie das gesagt und es gab keinen Anlass, ihr nicht zu glauben.
Ich denke, dass man Menschen generell glaubt, wenn sie sagen, dass sie das Kino mögen oder nicht mögen. Das ist nichts, worüber man lügt. Das Kino lügt, aber man selbst lügt nicht gegenüber dem Kino. Höchstens gegenüber einzelnen Filmen, die man so sehr lieben möchte, dass man sich belügt, wenn sie einen nicht erreichen. Und andersherum, wenn man zu Tränen gerührt wird und sich dafür hasst.
Diese Frau mochte das Kino. Sie sagte, dass sie vier oder fünf Filme jede Woche sehe, manche Zuhause, manche im Kino. Sie wäre meist allein gegangen, weil es dann schöner wäre, wieder nach Hause zu gehen. Allein mit dem Film und nicht mit den Gedanken, den Worten der Anderen.
Sie ist auch allein gegangen, weil da keiner war, der mit ihr gegangen wäre. Vielleicht wäre sie, hätte es diesen Menschen in ihrem Leben gegeben, gar nicht ins Kino gegangen. Aber das kann man nicht mit Gewissheit sagen. Manche gehen ins Kino und manche gehen nicht. Das war immer so.
Alle aber vergessen den allerletzten Film, den sie gesehen haben.
Der letzte Film, den diese Frau gesehen hat, war entweder gut oder schlecht für sie. Er hat sie zum Lachen gebracht oder zum Weinen oder er hat sie gar nicht berührt. Wahrscheinlich muss man festhalten, dass es keine Rolle spielt.
An ihren ersten Film hat sie sich noch erinnert. Sie hat gelächelt, als ich sie gefragt habe. Ihre müden Pupillen haben sich geweitet. Vielleicht war es auch nur dieser verheißungsvolle Klang: Der erste Film. Als könnte alles noch einmal beginnen, als gäbe es nur diesen einen Film, der einem zeigt, was ein Film, was das Kino ist.
Ich glaube nicht, dass dem so ist. Es wäre aber schön.
Der letzte Film ist ein zufälliger Film, es sei denn man weiß, dass man gleich danach stirbt. Aber wenn diese Frau gewusst hätte, dass sie gleich stirbt, dann hätte sie sich keinen Film angesehen. Wenn wir sterben, haben wir Besseres zu tun, als einen Film zu sehen.
Ich denke, dass diese Frau Filme gesehen hat, um ihr Leben zu verlängern. So lange sie noch Filme ansehen konnte, egal ob im Kino oder Zuhause, hat sie noch gelebt. Sie hat in der Zeitung nachgesehen, welche Filme laufen und dann hat sie sich entschieden, ob sie ins Kino geht oder Zuhause bleibt. Das hat sie vierzig Jahre so gemacht.
Sie hatte eine Rentnerinnenkarte und an der Kasse kannte man sie bereits. Das hat ihr gefallen. Es hat ihr gefallen, dass sie einen Ort hatte, an dem man sie kannte. Sie hat sich auch angezogen und parfümiert, auch das hat ihr Leben verlängert.
Auch Zuhause hat sie sich manchmal etwas Schönes angezogen, wenn sie einen Film gesehen hat. Sie konnte gar nicht sagen weshalb, aber das musste sie auch nicht. Sie hatte auch etwas Schönes an, als ich bei ihr saß einige Tage bevor sie starb.
Ich habe diese Frau gar nicht gut gekannt, aber ich war mit ihr in ihrem letzten Film. Das muss doch etwas bedeuten, habe ich mir gedacht. Wahrscheinlich bedeutet es nur mir etwas. Den letzten Film mit wem geteilt zu haben. So wie die letzte Zigarette, den letzten Blick ins Blau des Himmels.
Ich bilde mir ein, dass ich ein wenig durch ihre Augen sehen durfte, sehen durfte, was es bedeutet, zum letzten Mal ein Bild zu sehen. Sie sagte mir, dass das keine Rolle spiele.
Es sei nur ein Film. Nur ein Film, den man auch sehen wird können, wenn sie nicht mehr da wäre.
Ich frage mich, wie es wäre, wenn man wüsste, dass der Film, den man sieht, der Letzte wäre. Würde das keine Rolle spielen? Ich denke, dass einem das Kino dann ganz sinnlos vorkäme. Wie ein Zeitverlust. Eine Zeit, die dem noch verbleibenden Leben abgezogen würde.
Ich glaube, dass man Filme sieht, weil man glaubt, dass man noch lange lebt. Man schaut einen Film, weil man noch glaubt, darin etwas sehen zu können.
Aber ich kann das gar nicht sagen. Ich müsste diesen Text schreiben, nachdem ich diesen letzten Film gesehen habe.
Alles, was ich tun konnte, war die Frau zu fragen. Aber sie wollte nicht über den Film sprechen. Sie wollte gar nicht mehr sprechen. Und ich kannte sie auch nicht gut genug, um ihr Schweigen zu deuten. Ich denke, dass sie eine gewöhnliche Frau war. Sie ging gern ins Kino und dort ist sie gestorben. Das hat auch etwas Schönes, auch wenn es wahrscheinlich nicht wichtig ist. Manche Menschen sterben an Orten, die sie mögen. Andere sterben irgendwo.
Wenn ich so darüber nachdenke, ist es auch seltsam, dass ich diese sterbende Frau fragte, ob sie sich an den Film erinnern könne. Ich habe das nur getan, weil der Notarzt immer wieder gefragt hat, was das Letzte sei, an das sie sich erinnern würde. Sie sagte nur, dass sie sich an nichts erinnern würde und das gut so sei. Es sei gut so wie es ist.
Also habe ich ihr den Film nacherzählt einige Tage später, als ich bei ihr am Bett saß. Ich weiß nicht, ob ich mir erhofft habe, dass sie sich dann erinnern würde. Irgendwie wollte ich auch, dass ihre letzten Stunden etwas bedeuteten. Aber sie war ja nur im Kino, da war nichts, was wirklich etwas bedeutet, wenn man auf ein Leben zurückschaut. Nur ein paar Bilder und Töne, vielleicht einige Gefühle, die es anderswo auch ohne Eintritt gegeben hätte.
Es spiele keine Rolle, sagte sie mir. Ein Film oder ein anderer. Der erste Film, an den könne sie sich erinnern.
Eine Menschengruppe versammelte sich um uns. Ich weiß gar nicht, woher die alle kamen, den Film hatten sie nicht gesehen. Diese gewöhnliche Frau wurde weggetragen und ich blieb zurück mit den Erinnerungen an ihren letzten Film. Es war ein guter Film. Wie das klingt. Als würde es etwas bedeuten, ob ein Film gut oder schlecht ist.
Es war ein Film und es war im Kino. Immerhin das. Ich weiß jetzt, dass es mir egal sein wird, was der letzte Film sein wird, den ich sehen werde. Ich werde da nicht anders sein als diese Frau.
Ich sollte wahrscheinlich schreiben, dass das etwas Tröstliches hat. Aber dann würde ich lügen, auch gegenüber dem Kino lügen. Also schreibe ich, dass es halt so ist. Man sieht einen Film und dann sieht man keinen Film mehr und dann sehen die anderen weitere Filme oder sie sehen auch keine Filme mehr. Solange irgendwer irgendwo einen letzten Film sieht, wird es auch das Kino noch geben.
Und mit dem Kino wird es auch irgendwen geben, der irgendwo einen ersten Film sieht.