We Cannot Stay: Women Talking von Sarah Polley

Wie würde es sich anfühlen, wenn es nie relevant wäre, was du denkst?

Von Anfang bis Ende, sind mein Blick, meine Gedanken, mein Körper von Sarah Polleys neuem Film eingesogen. Er zeigt ein intensives, sinnlich erlebtes Kammerspiel mit Frauen einer Mennoniten-Kolonie. Sie alle haben denselben Akt einer Brutalität erfahren, jede von ihnen pflegt jedoch einen anderen Umgang mit dessen Folgen. Ihre jeweiligen Erfahrungen vereinigen sich nach mehrtägiger Diskussion zu einem Gruppenkonsens. Es geht um das Abwägen von Fight oder Flight. Beides natürliche Abwehrreaktionen auf eine Gefahrensituation. So steht es um den Film; aber auch um uns als Zuschauende. Es sind düstere Bilder, die entsättigt um das Überleben kämpfen. Sobald wir wegschauen, sterben die Gedanken der Frauen.

Wie würde es sich anfühlen, wenn du nie die Worte hättest, um das Geschehene auszudrücken?

Women Talking zeigt die Lebensrealität von Frauen einer religiösen Gemeinschaft und bestärkt ihre Handlungsfähigkeit, indem sie als Heldinnen geehrt und nicht als Opfer entmächtigt gezeigt werden. Sie interessieren sich nicht für das Geschehene, sondern richten ihren Blick auf das Mögliche, indem sie eine bessere Ungewissheit imaginieren: die Ferne. Sie treten in das Unbekannte, mit der Hoffnung auf Vergeben-Können und mit dem Wissen um ihre Selbstbestimmung. Für sich, wie auch die nachfolgenden Generationen. À la Hildegard von Bingen sind sie sich einig, ihre Bestimmung bestünde im Fortgehen. Eine Bestimmung, die auf Pros und Contras fußt. 

Wie würde es sich anfühlen, wenn dir nur noch Schweigen übrig bleibt?

Die offene Darlegung der unverblümten Realität gleicht einer philosophischen Debatte, die nach demokratischen Devisen agiert. Die Aussprache, die um eine Lösung aus einer von Männern geforderten Unterwerfung ringt, wird von August, Onas Vertrautem protokolliert. Bis auf die kleinen Jungen der Kolonie, ist er der einzige Mann, der im Film überhaupt gezeigt wird. Nur die Stimmen derjenigen erklingen, die durch Betroffenheit berechtigt werden. Als einzig Verbündeter der Frauen, der lesen und schreiben kann, ist er Teil der Sitzungen, nimmt jedoch keinen Raum in der Debatte ein, redet nur, wenn er gefragt wird. Er ist als Einzelperson eher die Ausnahme als die Regel und kann als Gegenbeispiel einer misogynen Brutalität gelten. Das Protokoll ist die manifestierte Schrift ihrer Gedanken und soll im Weiteren den Jungen der Kolonie als Lehrbuch dienen.

Wie würde es sich anfühlen, wenn dein Körper durch andere regiert würde?

Starke Frauen (ein Ausdruck, den ich als Beschreibung eigentlich verabscheue, denn es impliziert, dass es bei Frauen besonders zu betonen gilt und allgemein Stärke eine anstrebende Eigenschaft sei. Ich meine hier stark – im Sinne von gegen etwas standhalten), die in keiner Weise die Hoffnung aufgeben. Beachtliche Stärke der einzelnen, die einschüchtert. Stärke der Gruppe, die durch das füreinander und untereinander Zusammenhalten entsteht. Stärke, die Sicherheit spendet. Stärken, die sich gegenseitig bedingen können. Sobald eine Frau aus dem Bunde zu zweifeln beginnt, fängt die Gruppe sie auf. Die Gruppe verwandelt sich in die tröstende, singende Mutter für das weinende Kind. In Momenten der emotionalen Übernahme, nehmen sie sich an den Händen, flechten ihre Haare, bilden einen Frauenzirkel und bedienen sich ihrer Stimmbänder. Ihre recht unterschiedlichen Stimmen beginnen zu schwingen, wenn Raum da ist. Der Tonus des Films wird durch die Frauen erzeugt, deren Bestimmtheit einen Klangkörper bildet, der Raum und Stimme hervorbringt. Die Scheune als Raum und die Aussprache als Ton formen das Innere des Films als Resonanzkörper unerhörter Stimmen. Wir werden in die dynamische Komplexität der Gespräche geworfen. Mal gefüllt mit argumentativen Hochleistungen, mal mit aggressiven Einzelkonflikten, mal emotionalen Ausbrüchen. Alles ist berechtigt, alles wird toleriert.

Wie würde es sich anfühlen, wenn dir deine Identität genommen wird?

In der Ferne müssen sie sich überlegen, wer sie eigentlich ohne die Unterdrückung von Männern wären. Ihre Identität wurde ihnen gestohlen. Die Entscheidung zwischen kämpfen und fliehen ist die einzige Wahl, die sie je gehabt haben. Der Satz „leaving because we cannot stay“ lässt alles Vorherige einstürzen. Psychoanalytisch gesprochen besteht der zentrale Konflikt psychischen Lebens zwischen Wissenwollen, getrieben von Neugierde und dem Wunsch nach Nichtwissenwollen. Wissenwollen kann oft schmerzhaft sein, aber die eigenen Grenzen erweitern. Während das Nichtwissenwollen eine Abwehr der Neugierde darstellt und oft durch unbewusste Verdrängung eingeleitet wird. So wie ein Kind die Umwelt erst sorglos erforschen kann, wenn es durch die Bindungsperson ein Sicherheitsgefühl vermittelt bekommt, kann Neugier erst richtig entfaltet werden, wenn wir uns sicher fühlen. Ich denke, dass die Frauen das Verlangen des Wissenwollens wagen, weil sie sich die Sicherheit (gezwungenermaßen) gegenseitig geben. Indem sie die Kolonie, die Männer und Söhne verlassen, gewinnen sie die Lust am Entdecken wieder. Verlassen kann wohl eher Vergebung versprechen.

Trotz des für mich intensiven Erlebnisses, war der Kinobesuch ein gesellschaftliches Desaster. Women Talking besetzte mehr Rollen, als Zuschauende an jenem Abend. Während der Saal, bis auf wenige Plätze, leer war, schluchzten meine Begleitungen und ich zwischendurch mit. Auch für uns ist es ein Kämpfen oder Fliehen. Hinschauen schmerzt mehr als Wegschauen.