Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Dank Ernesto, wenn überhaupt

Einblicke in La Empresa

Eine hell schimmernde Schwarz-Weiß-Landschaft gesprenkelt mit kaktusbedeckten Bergen. In dieser Welt sind die Regeln klar und unnachgiebig: Rauchen ist verboten, wenn man den „American Dream“ erreichen will. Husten sollte vermieden werden, am besten durch vorbeugende Medikamente, die einen vor den Ohren der Polizei schützen. Selbst Kekse sind tabu, da sie Durst erzeugen und zu süß sind. Wer sich an diese Vorgaben hält, dem mag es gelingen, die Grenze zu erreichen. Doch selbst dann steht man vor der letzten großen Herausforderung: der Erlaubnis Gottes.

La Empresa von André Siegers, erzählt die Geschichte hinter einem unkonventionellen Geschäftsmodell, das mitten in der Wüste für Tourist*innen die Erfahrung einer simulierten Flucht in die USA anbietet – die Caminata Nocturna im Park Eco Alberto. Der Film handelt nicht nur von dieser simulierten Erfahrung und deren Einflüssen auf die Bewohner*innen des Dorfs El Alberto, sondern folgt auch einer deutschen Filmcrew auf deren Irrfahrt. Ihre ursprüngliche Filmidee wandelt sich zu einer Entdeckungsreise, die in der Begegnung mit einem Gärtner namens Ernesto ihren Ausgang nimmt, begleitet von einer fast gelangweilten Off-Stimme.

Als ich im Kinosaal saß, gefesselt von der traumartigen und fiktionalen Atmosphäre des Films, entstand unweigerlich die Frage: „Wie viel davon soll ich glauben?“ – eine Frage, die sich vom Anfang bis zum Ende nicht beantworten ließ. Als Zuschauerin, die zuvor noch nie vom Park Eco Alberto gehört hatte und von der Möglichkeit eines touristischen Reenactments einer so intensiven und postkolonialen Lebenserfahrung überrascht war, fand ich mich in einem Zwiespalt zwischen Unglauben und Neugier wieder. Diese ambivalenten Gefühle verstärkten sich, als die Darstellung im Film zunehmend realistischer und zugleich unglaubwürdiger wurde. Die spielfilmartige Schnittästhetik und die kommentierende Erzählerstimme, die scheinbar genug von der Planlosigkeit des Filmteams hat, erschweren es, die Existenz des dargestellten Dorfs zu akzeptieren, und beeinflussen, was als real oder glaubwürdig wahrgenommen wird.

Beim Zuschauen verlor ich mich in Gedanken über die Realität von Migration und Flucht, die oft mit Verlust und Tod verbunden sind. 500 Kilometer entfernt von der Grenze, wo der eigentliche Grenzübertritt in all seiner bitteren Realität stattfindet, wird dies für Tourist*innen inszeniert und Unterhaltungsmaterial. Hier geht es weder darum, den „American Dream“ zu erreichen, noch die Grenze unversehrt und ohne Verlust der Geliebten zu überschreiten, oder mit Gottes Erlaubnis ein neues Leben zu beginnen, sondern darum, sich zu amüsieren. Der Film nimmt jedoch keine kritische Position zu diesem Geschäftsmodell ein, das sogar von ehemaligen Geflüchteten geleitet wird. Stattdessen konzentriert er sich darauf zu zeigen, welche Auswirkungen dieser Ort auf das Dorf hat und welche Rolle er im Leben der Anwohner*innen spielt.

Ich tauche aus meinen Gedanken auf, bin wieder in der traumartigen und fiktionalen Atmosphäre. Ich schaue auf die Leinwand, wo die Grenzen zwischen Inszenierung und Wirklichkeit nicht mehr zu bestimmen sind. Was ist real, was ist erfunden? Nicht nur die narrative Sprache des Films erschafft verschwommene Grenzen, sondern auch die Natur des von der deutschen Filmcrew besuchten Dorfs trägt dazu bei. Hier koexistiert das inszenierte Spiel mit dem alltäglichen Leben der Anwohner*innen, für die Flucht eine reale Erfahrung ist: “We are selling a story: The Caminata, the village. This is our story.” Dokumentarische Aufnahmen von Dorfbewohner*innen mit Mikrofonen auf ihren Oberkörpern gefolgt von Szenen mit Musik, in denen Tourist*innen Tourist*innen spielen, verstärken die Ambiguität zwischen Erzählung und Wirklichkeit. Ob es eine bewusste Entscheidung oder eine ironische Reflexion war, dass das gewählte Lied den Titel Die Kunst der Täuschung (Org. El Arte del Engaño) trägt, bleibt letztlich den Zuschauenden überlassen.

Licht an, Film aus. La Empresa hinterlässt mich verwirrt zwischen dem Realen und dem Imaginären sitzend im Kinosaal. Ich frage mich nochmals: Was davon kann ich wirklich glauben? Nach anderthalb Stunden zeigte mir der Film, wie in diesem Medium die Linien zwischen Fakt und Fiktion verwischen können, besonders wenn reale Ereignisse und Erfahrungen in eine narrative Struktur eingebettet werden. Nichtsdestotrotz danke ich dem Gärtner Ernesto für seine Empfehlung zu Beginn an die verzweifelte Filmcrew, falls das überhaupt wirklich geschah.

Und jetzt: Time to say goodbye.

von Derya Satir