Es ist ein Fest die Filme von Philippe Garrel in ihrer vollen Pracht auf 35mm zu sehen, wie es derzeit im Arsenal möglich ist. Unabhängig davon, dass ich ohnehin immer eine Projektion im Originalformat bevorzuge, ist gerade in den Filmen Garrels ein deutlicher Unterschied erkennbar. Seine Figuren agieren oft in Dunkelheit und Schatten, der Bildeindruck wird maßgeblich durch die spröde Körnung des Filmmaterials, nuancierte Grauabstufungen und harte Schwarzweißkontraste geprägt. Ein Film wie Le révélateur spricht gleichermaßen durch die photochemischen Prozesse, die ihm zugrunde liegen, wie durch seine Découpage.
Mit nur 16 Jahren hat Garrel seinen ersten Kurzfilm Les enfants désaccordés realisiert. Für gewöhnlich gehen solche Übungsfilme unter, werden von ihren Machern versteckt oder gar vernichtet. In Garrels Fall ist das nicht nötig, denn erstaunlicherweise ist Les enfants désaccordés mehr als ein kindlicher Gehversuch. Garrel hatte hier offensichtlich schon klare Vorstellungen (sowohl inhaltlicher als auch formaler Natur), die er souverän artikuliert. Er lässt bereits eine Haltung zu Film und Wirklichkeit erkennen, die man im Kino so oft vermisst. Den Film trägt eine Wut und Rastlosigkeit, wie sie, so kommt mir oft vor, nur Jugendliche in den 60er Jahren zu fühlen vermochten. Garrel drückt darin eine Art von Lebensgefühl aus, wie man sie auch in anderen Filmen dieser Ära findet (in jenen der Nouvelle Vague und anderen Neuen Wellen der Zeit). Es ist ein Lebensgefühl, das schließlich in brennenden Autos und Protesten in der ganzen westlichen Hemisphäre gipfelte. Les enfants désaccordés ist selbstverständlich noch sehr roh, streckenweise geradezu amateurhaft gearbeitet, aber die Ideen sind frisch, kristallklar und gewinnen durch diese Rohheit höchstens noch an Format.
Wenige Jahre später, Garrel ist immer noch nicht in seinen Zwanzigern, folgt mit Marie pour mémoire ein Film, der ein ähnliches Lebensgefühl beschreibt; einzig, der Film ist disparater, hat zusätzliches Bewusstsein für seine Form entwickelt. Zudem ist die Bildsprache des Films raffinierter, durchaus schon mit seinen späteren Filmen vergleichbar. Es ist höchst ungewöhnlich, dass ein Filmemacher in diesem Alter bereits eine formale Sprache entwickelt, die auch über vierzig Jahre später noch in seinem Werk erkennbar ist – tatsächlich sind die harten Schwarzweißkontraste aus Marie pour mémoire durchaus mit jenen in La Jalousie und in La frontière de l’aube zu vergleichen.
Grob kann man zwei größere Brüche in Garrels Schaffen ausmachen. Seine ersten Arbeiten zeichnet deren jugendliche, wilde Wut aus, die Garrel als ungebremste, gestalterische Freiheit fruchtbar macht. Es folgt ein circa zehn Jahre währender Drogenrausch, in der er noch abstrakter und experimentierfreudiger wird und dann schließlich eine Periode, die bis heute anhält, in der Garrel in erster Linie damit beschäftigt ist diese wirren Jahre zu verarbeiten. Seit L’enfant secret macht Garrel in erster Linie Filme über sich selbst und breitet seine eigene Biographie entwaffnend ehrlich aus. Es scheint, er versucht darin zu rekonstruieren, wie die unbändige Energie der Jugend im Erwachsenwerden allmählich verloren geht, welche Entscheidungen ein Leben und das Leben seiner Mitmenschen prägen.
Der Höhepunkt in Garrels erster Phase und zugleich ein Übergangswerk zu seiner experimentellen Schaffensperiode in der Zanzibar-Gruppe ist Le révélateur, eine einstündige Studie zu Bewegung und Licht. Drei Protagonisten, ein junger Mann, eine junge Frau und ein Kind bewegen sich durch eine meist nächtliche Landschaft. Ihre Haut erscheint weiß im grellen Licht der Taschenlampe, mit der Garrel die Szenerie ausleuchtet; im Hintergrund das Schwarz der Nacht. Eine Tonspur gibt es nicht – Le révélateur ist ein Stummfilm – das ist Teil der Magie dieses Films.
Das Kind geht, halb taumelnd, durch einen spärlich beleuchteten Tunnel, der kaum die Ausmaße eines übergroßen Abwasserrohrs übersteigt. In der Hand hält es einen metallisch schimmernden Gegenstand. Bei näherer Betrachtung erkennt man eine Schere. Am Ende des Tunnels ein weißer Lichtschimmer. Das Kind näher sich dem Licht; eine Gestalt kniet auf dem Boden, hell erleuchtet durch gleißendes Gegenlicht. Das Kind umkreist die Gestalt (es ist eine Frau), macht sich mit der Schere an der Knienden zu schaffen. Es durchschneidet die bis dahin unsichtbaren Fesseln, die Frau beginnt sich zu rühren.
Die Banalität einer schlichten Handlung wird umwerfend poetisch zu einem kunstvollen Spiel mit Licht und Dunkelheit. Die ganze Wirkkraft des Films hat sich mir erst erschlossen, als ich im anschließenden Screening von L’enfant secret Mühe hatte Tritt zu fassen. Das gesprochene Wort schien mir vulgär, die kreisende, suchende, deliriöse Kamera hatte mich unempfänglich gemacht für die ungleich sensibleren Töne von L’enfant secret. Zwischen den beiden Filmen liegt eine zehnjährige Phase des filmischen Experimentierens, der Drogensucht und der Beziehung mit Nico. Der Film ist ein Amalgam aus diesen Erfahrungen und zugleich ein erster Versuch Sinn und Ordnung ins Leben (der Film ist das Leben) zu bringen. Weiße Hemden und weiße Wände, die mit schwarzen Haaren und schwarzen Hosen kontrastieren prägen noch immer das visuelle Erscheinungsbild, gewalttätige Kontraste, wie in der obigen Szene, hat Garrel nun aber durch nuancierte, geduldige Beobachtungen ersetzt.
Jean-Baptiste und Elie, das zentrale Liebespaar des Films, sitzen in einem Café an einem Tisch und unterhalten sich über ihre wechselhafte Beziehung. Elie ist drogensüchtig, hat sich von ihrem Kind entfernt, das bei den Großeltern lebt. Sie bricht das Gespräch aus heiterem Himmel ab. Sie müsse einen Bekannten treffen, meint sie. Jean-Baptiste verspricht auf sie zu warten, bleibt am Tisch sitzen, während Elie aufsteht und das Café verlässt. Die Kamera blickt von außen ins Café auf Jean-Baptistes Tisch. In der Spiegelung ist Elie zu erkennen, die die Straße überquert und mit einem Mann spricht (man kann vermuten, dass dieser Mann ihr Dealer ist). Nach einigen Sekunden kehrt sie zurück, überquert abermals die Straße, verlässt schließlich den sichtbaren Bereich der Spiegelung und kehrt an den Tisch, ins Bild zurück.
Eine Szene wie diese, wäre in Le révélateur noch undenkbar gewesen. Garrels Stil ist gereift, ohne sich unverkennbar verändert zu haben. Vieles von dem, was seinen Stil ausmacht ist bereits ganz am Anfang seiner Karriere zu erkennen, zugleich ist stets eine Weiterentwicklung wahrnehmbar. Garrel bleibt nie in einer Endlosschleife der Selbstbestätigung stecken, sondern baut unermüdlich und ohne große Revolutionen sein Gesamtwerk weiter aus.