Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Abschied von Ludwig Wüst

Adieu, verlorene Zeit – ‹Abschied› von Ludwig Wüst

Wer ein­mal den Fächer der Erin­ne­rung auf­zu­klap­pen begon­nen hat, der fin­det immer neue Glie­der, neue Stä­be, kein Bild genügt ihm, denn er hat erkannt: es lie­ße sich ent­fal­ten, in den Fal­ten erst sitzt das Eigent­li­che: Jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tas­ten um des­sent­wil­len wir dies alles auf­ge­spal­tet, ent­fal­tet haben; und nun geht die Erin­ne­rung vom Klei­nen ins Kleins­te, vom Kleins­ten ins Win­zigs­te und immer gewal­ti­ger wird, was ihr in die­sen Mikro­kos­men ent­ge­gen­tritt.

Wal­ter Ben­ja­min, Ber­li­ner Chronik

Lud­wig Wüst macht Fil­me über Zeit. Ver­lo­re­ne Zeit, wie­der­ge­fun­de­ne Zeit, Zeit die kommt, Zeit die geht, Zeit die gibt, Zeit die nimmt, Zeit, die uns in Abgrün­de stürzt und wie­der aus der Tau­fe hebt, Zeit die wirkt und wal­tet und immer währt: Das All­s­ei­en­de, das All­be­stim­men­de. Sein ste­tig wach­sen­der Werk­kor­pus ist durch­zo­gen von Vani­tas-Moti­ven und Men­schen, die mit Ver­lust kon­fron­tiert sind – die­sem ulti­ma­ti­ven Index von Zeit- und Sterb­lich­keit – aber eben­so vom Glau­ben an die restau­ra­ti­ve Kraft von Erin­ne­rung und Ein­ge­den­ken. Immer ist es eine Abwe­sen­heit – oft ein trau­ma­ti­sches Ereig­nis – die den Kern der Erzäh­lun­gen bil­det und die Figu­ren in Gemüts­be­we­gung ver­setzt. Ver­ge­bung (Zwei Frau­en, 2006), Ver­söh­nung (Koma, 2009), Ver­der­ben (TAPEEND, 2011), Ver­ges­sen (Paso­li­ni­code, 2011), Ver­säum­nis (Das Haus mei­nes Vaters, 2012): Ver­gan­gen­heit und Zukunft sind die Gegen­wart die­ser Fil­me, Dau­er ihr Formprinzip.

Wüst kam von der Male­rei zum Thea­ter zum Kino, und man merkt es sei­ner Kunst an. Das Thea­tra­li­sche droht manch­mal, ihre Wir­kung zu unter­lau­fen – der einen Deut zu prä­zi­se Natu­ra­lis­mus in Schau­spiel und Dia­log, die Grad-halt-kein-Guck­kas­ten-Kad­ra­ge, die Nei­gung zum Melo­dra­ma­ti­schen – doch das schar­fe Bewusst­sein für die Eigen­ar­ten der fil­mi­schen Form und die bedin­gungs­lo­se Bekennt­nis zum Mate­ri­al tran­szen­die­ren sol­che Schwä­chen (er sagt, er sei vom Thea­ter zum Kino gewech­selt, weil im Thea­ter von der Auf­füh­rung nichts bleibt als eine schö­ne Erin­ne­rung und ein schlech­tes Video). Sei­ne jüngs­te Arbeit mit dem pro­gram­ma­ti­schen Titel Abschied hat­te vor kur­zem ihre Wien-Pre­miè­re im Öster­rei­chi­schen Film­mu­se­um und ist das viel­leicht schöns­te, inten­sivs­te und for­mal gewag­tes­te Zeit-Bild des kon­se­quent unab­hän­gi­gen Regisseurs.

Abschied von Ludwig Wüst

Für den Plot reicht ein Satz: Eine Frau erhält Besuch von ihrer Freun­din, und die bei­den kom­men ins Gespräch. Gefilmt ist die­ses Tref­fen in einer unge­bro­che­nen Ein­stel­lung, die sich im Ver­lauf des Films schlei­chend per Zoom von der Tota­le zur Nahen ver­engt und schließ­lich wie­der öff­net, wäh­rend der emo­tio­na­le Tonus der Unter­hal­tung flie­ßen­de Pha­sen­ver­schie­bun­gen durch­läuft und gleich­sam mit den Spre­chen­den durch die Zeit reist. Abschied ver­eint so das Echt­zeit-Expe­ri­ment von TAPEEND mit den Gedächt­nis­er­kun­dun­gen in Das Haus mei­nes Vaters, über­trifft aber bei­de in der Öko­no­mie sei­ner Mit­tel und dem erziel­ten Effekt. Der unge­fähr drei­vier­tel­stün­di­ge, digi­ta­le Zoom stellt die kon­zep­tu­el­le Metho­dik von Micha­el Snows Avant­gar­de-Klas­si­ker Wave­length in den Dienst eines prä­zi­sen psy­cho­lo­gi­schen Rea­lis­mus: Er defi­niert den fil­mi­schen Raum, kon­zen­triert das Bild, bestimmt über Off und On, macht Zeit sicht­bar und schraubt an der Span­nung, wenn er sich wie eine Schlin­ge zuzieht, aber alles im Ein­ver­neh­men mit dem affek­ti­ven Auf und Ab der Erzäh­lung. Unser Gefühl ist eine Funk­ti­on sei­ner Bewe­gung, und die Schau­spiel­füh­rung ist vor­bild­lich auf ihn abgestimmt.

Mit­tel- und Schwer­punkt des Kaders ist ein unauf­fäl­li­ger Stuhl, der von den bei­den Frau­en abwech­selnd besetzt wird und dem auf­grund sei­ner Posi­tio­nie­rung eine Aura zuteil­wird, die man beson­ders dann spürt, wenn nie­mand im Bild ist. Er scheint auf sei­ne Beset­zung zu war­ten und ver­fügt als eine Art hot seat über das Recht auf Auf­merk­sam­keit: Nur wer die­ses in Anspruch nimmt, darf wirk­lich spre­chen. So ist wie bei Wave­length zu Beginn kei­nes­wegs klar, wer oder was im Zen­trum des Films ste­hen und ob die­ser über­haupt ein Zen­trum haben wird. Vor­erst bekom­men wir einen Ein­druck von der Gast­ge­be­rin Hele­ne (Mar­ti­na Spit­zer), die sich und ihre Woh­nung über­has­tet auf den anste­hen­den Besuch vor­be­rei­tet, und die sub­ti­le Skiz­zie­rung ihres miss­mu­tig-ner­vö­sen Cha­rak­ters, der etwas zu ver­ber­gen scheint – zusam­men mit dem schlich­ten Umstand, dass sie als Ers­te die Sze­ne betritt – unter­brei­tet sie als Haupt­fi­gur. Das ers­te Vier­tel hin­durch sitzt sie am Schick­sals­stuhl, und man wähnt sich bestä­tigt, doch kurz dar­auf beför­dert eine Rauch­pau­se eine bei­läu­fi­ge Rocha­de, und schon fin­det sie sich hors-champ, indes ihre Freun­din Johan­na (Clau­dia Mar­ti­ni) ins Faden­kreuz der Kame­ra gerät. Die schein­bar zufäl­li­ge Neu­ver­tei­lung der Plät­ze führt unmerk­lich zu einer tota­len Ver­la­ge­rung des nar­ra­ti­ven und emo­tio­na­len Fokus sowie zur Ahnung einer ande­ren Geschich­te, die uns ent­gan­gen ist, die wir an die fil­mi­sche Zeit ver­lo­ren haben (wobei ein Rest von Unent­schie­den­heit bleibt: Hele­ne rekla­miert die Die­ge­se mit viel­sa­gen­den Rand­be­mer­kun­gen und der eigen­tüm­lich küh­len Distanz, die sie ihrem Gast bis zum Schluss ent­ge­gen­bringt, stel­len­wei­se wie­der für sich).

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Das eigent­li­che Spek­ta­kel spinnt sich unschein­bar an: Eine im Vor­bei­ge­hen ent­deck­te DVD des Clau­de-Sau­tet-Films Les cho­ses de la vie ruft bei Johan­na die mémoi­re invo­lon­tai­re auf den Plan, und wir sehen ihr dabei zu, wie sie suk­zes­si­ve den Untie­fen der Erin­ne­rung anheim­fällt, sich unwill­kür­lich von einem Trig­ger-Moment zum nächs­ten han­gelnd, bis man gewahr wird, dass man soeben einer rück­halt­lo­sen see­li­schen Ent­blö­ßung bei­gewohnt hat, die eben­so sach­te und uner­bitt­lich von stat­ten ging wie der sie beglei­ten­de Zoom. Ein altes Lied führt zur ver­schäm­ten Bekennt­nis einer Jugend­lie­be, die sich dann doch als mehr her­aus­stellt als nur das. Stück für Stück wer­den Tie­fen­schich­ten auf­ge­bro­chen, die Minu­ten zuvor noch im Dun­keln waren. Das anfäng­li­che Geplän­kel wird zu einer veri­ta­blen Beich­te, und die vom Off ver­schluck­te Hele­ne nimmt die Rol­le des Pastors/​Therapeuten ein, der nahe­zu anteil­los als akus­ma­ti­sche Stim­me Bei­stand leis­tet. Als sich der Wür­ge­griff des Bild­aus­schnitts schließ­lich lockert, uns den Raum wie­der­gibt und neu­er­lich trü­ge­ri­sche Ruhe ein­keh­ren lässt, muss man aufatmen.

Doch in einer über­ra­schen­den Vol­te über­spannt Abschied nun sei­nen eige­nen Bogen und sprengt des­sen Rah­men. Nach einem kur­zen Schwarz­bild, das Cre­dits ver­heißt, löst der Film Haupt­fi­gur und Kame­ra aus ihren Fixie­run­gen und lässt sie ins Freie fleu­chen, wo Johan­na einen nach­träg­li­chen Pol­ter­abend begeht: Sie kauft sich ein rotes Kleid, streift durch die Stra­ßen, taucht in ein Kino (hier hat Wüst einen per­sön­li­chen Abschied ein­ge­ar­bei­tet – es ist die letz­te Auf­nah­me des Zuschau­er­saals sei­nes gelieb­ten Wie­ner Stadt­ki­nos kurz vor des­sen Räu­mung), geht auf Zech­tour, flir­tet umher und legt sich schluss­end­lich in einer peri­phe­ren Zone zum Schla­fen in ein Beton­rohr, für eine ein­zi­ge Nacht ihrem Leben und der Welt ent­stie­gen. Wüst und sein Stamm­ka­me­ra­mann Kle­mens Koscher fil­men die­se Flucht­be­we­gung zunächst aus gro­ßer Distanz und unmög­li­chen Per­spek­ti­ven, in selt­sam ver­wa­sche­nen Weit­win­kel­to­ta­len, wie von Über­wa­chungs­ka­me­ras oder Geis­ter­au­gen beob­ach­tet. Es ist das Gegen­teil der Her­me­tik des ers­ten Teils.

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Am Ende kehrt Johan­na in ihr Heim zurück, sie scheint ihren Abschied genom­men und ihren Frie­den gemacht zu haben mit dem, was war. Doch hier erfasst den Zuschau­er selbst ein retro­ak­ti­ver Impuls: Der Anblick ihres ein­drucks­vol­len Bun­ga­lows wirft uns zurück an den Anfang, man besinnt sich der sozia­len Kluft und unter­schwel­li­gen Span­nung, die sich in flüch­ti­gen Ges­ten und all­fäl­li­gen Dia­log­zei­len zwi­schen ihr und Hele­ne auf­ge­tan haben, und wie­der wit­tert man eine Gedächt­nis­spur, der nach­zu­ge­hen kei­ne Zeit bleibt. Der Film hat inzwi­schen einen wei­te­ren Sprung gemacht, erneut begibt er sich an Johan­nas ver­wahr­los­te Schlaf­stät­te des ver­gan­ge­nen Abends, um dort ihre Abwe­sen­heit auf­zu­zeich­nen. Es gibt nichts zu sehen, und doch sieht man deut­lich jenen Teil von ihr, den sie hier abge­legt hat wie eine Traum­haut. Und unver­se­hens strahlt der gan­ze ver­streu­te Plun­der rings­um mit der Kraft unzäh­li­ger Zei­ten und Erzäh­lun­gen, die sich immer noch kreu­zen an die­sem abge­schie­de­nen Ort. Mit einem Schlag hört man das Lied in allen Din­gen und spitzt gebannt die Ohren.