Il Cinema Ritrovato 2023: Cinema Libero – freies Kino?

Ritrovato – wiedergefunden hatte mich das Festival in Bologna dieses Jahr nach meinem allerersten Besuch im vergangenen Juni. Wir beide waren um ein Jahr gealtert. Stolze 37 Ausgaben hat das Event in der Emilia-Romagna nun hinter sich gebracht. Ein Erfahrungsschatz, den ich selbst noch nicht mein eigen nennen kann. Ich fand mich auch dieses Mal von früh bis spät am häufigsten in den nach großen Namen benannten Spielorten und Sälen (Cinema Lumière, Sala Mastroianni und Sala Scorsese), in (dem für CinemaScope konzipierten) Cinema Arlecchino und im Cinema Jolly ein. Wohlgemerkt neben dem – wir wissen es alle und wie könnte es anders sein – Gustieren diverser Köstlichkeiten. Bologna und Essen sind nicht voneinander zu trennen. Am besten gibt man sich dem Genuss unter den Arkaden hin, die vor der Hitze der Sonne und der Frische der Klimaanlagen zugleich schützen. Oder man zerfließt dort symbiotisch mit einem Gelato. Auch auf dem kleinen Platz vor der Cineteca hat sich neben dem Eingang verlockend ein Eiswagen positioniert. Im Nachhinein lese ich, dass sich die zentrale Piazetta Pier Paolo Pasolini, die eben jenen Anker zwischen den verschiedenen Räumlichkeiten der Cineteca bildet, auf einem ehemaligen Schlachthofgelände befindet. Ich muss an die Wiener Arena denken und an den Tod. Während hier früher der Tod zuhause war, versucht man ihn heute gewissermaßen aufzuhalten. Den Tod des Kinos, meine ich, den wir im Gegensatz zu unserem eigenen eher hinauszögern können: Indem man das Kino zelebriert, wiedergefundenen, reparierten Streifen nach präzisen Eingriffen ein neues Leben ermöglicht und sie von der Cineteca aus weiter in die Welt hinausreisen lässt. Die Fluktuation und der Austausch wirken hier einige Tage lang dem Tod entgegen. Doch nicht nur die Filme selbst, auch die Protagonist*innen derselben und die Besucher*innen des Festivals befinden sich in Bewegung. Zielgerichtet oder ziellos, nach neuen Orten, nach einem vertrauten Anker oder nur nach (filmischen oder kulinarischen) Zwischenhalten suchend, wechseln sie zwischen den immer gleichen Cinemas und Gässchen hin und her.

Selbst wollte ich, aus Wien angereist und auf der Suche, am Cinema Ritrovato auch Neues für mich entdecken. Ungesehenes habe ich genug im Programm erspäht, doch sehnte ich mich danach zuallererst Filme kennenzulernen, deren Macher*innen mir nicht vertraut waren und die meinen gewohnten Blick erweitern, infrage stellen, vielleicht herausfordern könnten. Meine Aufmerksamkeit galt neben den „Sorelle del cinema“ („Sisters of Cinema“) wie der Drehbuchautorin Suso Cecchi D’Amico, der Kamerafrau und Regisseurin Elfie Mikesch, der Hollywood-Pionierin Dorothy Arzner oder der Stummfilm-Schauspielerin Dianne Karenne, also besonders der Cinema Libero Sektion. Seit 2013 widmet die Cineteca dieses Programm Filmen, die sich „true to their spirit of innovation and discovery“ zeigen, um der Tendenz entgegenzuwirken, dass „cultural differences“ immer mehr verschwinden und Stile sich einander angleichen, so die Ankündigung 2013, dem ersten Jahr des Schwerpunkts. Doch die Geschichte des Cinema Libero reicht eigentlich weiter als nach 2013 zurück: Unter dem Namen Mostra Internazionale del Cinema Libero hatten Bruno Grieco, Gian Paolo Testa, Cesare Zavattini und Leonida Repaci 1960 ein Filmfestival in Poretta Terme gegründet, das eine Alternative zu Venedig und zu der allgemeinen Marktgetriebenheit von Wettbewerbsfestivals bieten sollte. Es bestand bis in die 1980er Jahre, bis es vom Cinema Ritrovato abgelöst und nach Bologna verlegt wurde. Cinema Libero, freies Kino also. Aber freies Kino – was ist das eigentlich?

Heute gibt es wohl so viele Filmfestivals wie nie zuvor und „frei“ Filme zu produzieren, ist, hat man Zugriff auf Produktionsmittel und -wissen, so günstig möglich wie nie zuvor, der Einstieg ist niederschwelliger denn je. Aber wie frei können das Kino oder Filme in all ihrer Komplexität aus zunehmenden Verstrickungen und Abhängigkeiten in einem Netz aus staatlichen und privaten Förderungen sein? 

Unabhängig produziert und sich selbstausgebeutet = freies Kino? 

Müsste der Sektionstitel nicht mit einem Fragezeichen ergänzt werden –  „Cinema Libero?“  -, um zu implizieren, dass Schaffensprozesse, Distributions- und Archivierungsgeschichten bei jedem Film neu ergründet werden müssten? Wie frei sind wir als Zuschauer*innen in unserer Filmwahl? Ist es nicht eine der Besonderheiten des Kinos, dass wir anderen Perspektiven als der eigenen näher kommen können, um deren Sicht auf die Welt mitzuerleben? Oder wollen wir nur den Personen zusehen, die unserem eigenen Lebensraum am nächsten sind? Was ist mit den Geschichten, die über unseren eigenen Horizont hinausgehen? In unserer globalisierten Welt findet Kulturtransfer hauptsächlich vom West to „the Rest“ statt. Als westlich bezeichnete Gesellschaften und ihre Geschichten dominieren unsere Kinos und Watchlists. Der Kulturtheoretiker und Soziologe Stuart Hall beschreibt in „The West and the Rest“ wie Europa mit seinem Konzept von West und Nicht-West und den damit verbundenen Attributen und Weltvorstellungen seine eigene Einzigartigkeit und Überlegenheit manifestiert und sich gegenüber den als anders erachteten Kulturen abgrenzt. Mir scheint gerade das Kino ein gutes Beispiel für diese Dynamik. Frei sind wir als Teil des Kino-Apparats nie, frei verfügbar sind vor allem jene Filme nicht, die nicht Teil der westlichen Kulturdiskurses und Distributionskreislaufs sind. Cinema Libero – vielleicht finde ich eher Filme darunter, deren Geschichten und Akteur*innen um Freiheit kämpfen.

Meine Cinema Libero-Programmwahl richtete sich – hierin beschränkte sich meine Wahlfreiheit – natürlich auch nach den angebotenen Spielzeiten: Yam Daabo von Idrissa Ouedraogo (Burkina Faso 1986), Al-Makhdu’un von Tewfik Saleh (Syrien 1972), Aham Al-Medina von Muhammad Malas (Syrien 1984), The Senegalese Actuality Films von unterschiedlichen Filmemachern aus den 1960er und 1970er Jahren, Bushman von David Schickele (USA 1971) und Ceddo von Ousmane Sembène (1977). Letzterer blieb mir besonders in Erinnerung, weshalb ich kurz davon berichten möchte. 

Das Screening von Ousmane Sembènes Film Ceddo wurde von einer Einführung seines angesichts des vollen Cinema Jolly Saals sichtlich gerührten Sohnes Alain Sembène begleitet. Ousmane Sembène, aufgewachsen im von Frankreich kolonisierten Senegal, wird oft als „Vater des afrikanischen Kinos“ bezeichnet, unter anderem da sein 18-Minüter Borom Sarret als einer der ersten Spielfilme gilt, die außerhalb des afrikanischen Kontinents gezeigt wurden. Er gehört einer Generation von Filmemacher*innen der Subsahara an, darunter auch Diop Mambéty und Désiré Ecaré, die mit der Erlangung der politischen Unabhängigkeit einen postkolonialen Filmblick auf die Welt warfen. Viele der Werke aus der Zeit nach dem offiziellen Ende einiger Kolonien werden heute in Archiven in Ländern außerhalb Afrikas aufbewahrt, sodass nur wenige in Bildungseinrichtungen in Afrika zugänglich sind.

Ceddo – damit ist auf Wolof, die Umgangssprache des Senegals, die Gruppe der Außenseiter*innen eines Dorfes benannt, die sich als Nicht-Muslim*innen mittlerweile in der Minderheit befinden. Denn König Demba War stellt sich auf die Seite des Imam und befürwortet eine Islamisierung der dörflichen Gemeinschaft. Aus Protest entführen einige Ceddo Dior Yacine, die Tochter des Königs. Die christlich-französischen Kolonialherren verlieren gegenüber dem Imam an Macht, führen aber ihren Sklavenhandel weiter. Ceddo spielt in einem Zeitraum von wenigen Stunden und in einem einzigen Dorf und seiner Umgebung. Auch die Handlung bildet eine Einheit: meist lauschen wir Gesprächen, die mal als politische Verhandlungen zwischen Herrschern und Bewohner*innen ihre Funktion erfüllen, mal persönliche Bedürfnisse und Meinungen preisgeben. Trotz dieser Einheit umspannt der zugrunde liegende Religionskonflikt über die konkreten Szenen hinaus mehrere Jahrzehnte und geht über das im Film repräsentierte Dorf hinaus. Die Kritik an religiösen Überzeugungen, die über Demokratie und Freiheit gestellt werden, repräsentiert neben dem Aufzeigen der Ausbeutung durch weiße Kolonialisatoren eine Grundproblematik afrikanischer Geschichte und Lebensrealität. Sembène richtet seinen Film an ein afrikanisches Publikum und betonte auch, nachdem Ceddo 1977 erschienen war, die vernachlässigte, wesentliche Rolle der Frau für Gesellschaften Afrikas. Der Kern der Konflikte hält als weiter andauernde Problematik an, sowohl was die Religionen, Machtansprüche als auch die Geschlechterdiskriminierung betrifft. Führen in Ceddo vor allem Männer das Wort und Frauen werden ohne Umschweife im Gegenzug für eine Flasche Wein als Sklavinnen verschenkt oder als Mittel zum Zweck politischer Taktik genutzt, übernimmt doch am Ende die Tochter des Königs Dior Yacine die entscheidendste Handlung. Als Entführte muss sie an einem Schattenplatz abwarten, wie die Verhandlungen über ihr Schicksal ausgehen. In keinem Moment wirkt sie wie ein um Hilfe ringendes Opfer, sondern eher als wäre sie jederzeit zum Sprung bereit. Ich möchte das Close-Up auf Dior Yacine und ihren direkten Blick in die Kamera in der letztem Szene des Films nicht unerwähnt lassen. Während seiner zweistündigen Laufzeit zeigt uns der Film bis dahin kaum Gesichter in Großaufnahme, sondern betont viel mehr durch seine (Halb-)Totalen und Amerikanischen Einstellungen das Kollektive statt das Individuelle der Konflikte. Nun blickt Dior Yacine in die Kamera. Ihr Blick signalisiert Entschlossenheit. Ihr Blick füllt das Bild aus, nimmt es vollständig ein. Dass am Ende die Tochter des Königs die für das Dorf einzig wesentliche Entscheidung trifft, verstehe ich als Aufbruch und als Gegenschuss zum Besitzanspruch der Kolonialherren und ihrer Kollaborateure. Doch ob das kurze Vakuum der Befreiung von einer Herrschaft mit Freiheit gefüllt werden kann, lässt sich nur erahnen. Der Blick auf die Geschichte lässt Freiheit nur in Träumen, nicht jedoch in der Realität wahr werden. Sembène findet einen Ausdruck, um vom Kam pf für Freiheit zu erzählen. Es ist der Kampf gegen Unfreiheit durch und in den Bildern des Films. Es ist der Ausdruck von Entschlossenheit in Dior Yacines Gesicht sich selbst und zugleich uns als Publikum von der vierten Wand zu befreien, die der Film bis dahin aufrecht erhält. Ob wir nun nach Freiheit in der Produktion, der filmischen Form oder der Handlungen der Figuren suchen, stets kann sie nur als temporär oder für einen Teil der Gesellschaft gelten. Oder?

Begegnung vor einer öffentlichen Toilette: Napló gyermekeimnek von Márta Mészáros


Napló gyermekeimnek (Tagebuch meiner Kindheit) von Márta Mészáros: So heißt der erste Teil einer autobiografisch geprägten Trilogie der ungarischen Regisseurin, 1984 mit dem großen Preis der Jury in Cannes ausgezeichnet. Wenig mehr Informationen lassen sich den meisten im Internet kursierenden Kurztexten entnehmen. Na gut, ein wenig zum Inhalt finden wir dort auch: Es geht um die Waise Juli, die Ende der 1940er Jahre aus dem Exil ihrer verstorbenen Eltern in der Sowjetunion in die Heimat Ungarn, nach Budapest, zurückkehrt. Als Kind lässt sich die jugendliche Protagonistin aber kaum mehr bezeichnen, schließlich strebt sie entschlossen nach Unabhängigkeit von der parteitreuen Adoptivmutter. 

Ins Englische übersetzt trägt der Film den Titel Diary for My Children – was die Betonung auf das Nachleben der geschriebenen Erinnerung für die nächste Generation setzt. Das Erinnern und Verdrängen, das Reden und Schweigen einer älteren Generation gegenüber einer jüngeren setzt Mészáros immer wieder in Szene. Die Nachkriegsjugend stellt Fragen, trifft aber auf eine Mauer des Schweigens. Nur der gelegentlich von traumatischen Erinnerungen ereilte Großvater berichtet von erlebten Kampfhandlungen und von seinem Todesurteil als Revolutionär im Jahr 1919. Indem Juli ihn unterbricht, um seine Geschichte fortzusetzen, verlieren seine Worte an Sprengkraft: die Familie weiß über diese Zeit Bescheid, kennt die Erlebnisse in und auswendig. Ist sein Wiederholen der Versuch, sich seiner Existenz zu versichern? Oder versucht er die eigene Vergangenheit in ein anderes Licht zu stellen und seine Glaubwürdigkeit durch Wiederholungen zu stärken? Was zwischen 1919 und dem Ende der 1940er in Budapest geschah, bleibt für Juli, die unter dem Verlust ihrer Eltern leidet, im Dunkeln, nebulös. Die politische Einstellung der Adoptivmutter Magda und deren strenges Regiment sorgen für Distanz – auch die geschenkten Schuhe aus den USA können das Verhältnis zwischen Juli und Magda nicht mehr stärken. Juli flüchtet sich aus der Schule ins Kino – ein Dorn im Auge der Adoptivmutter. Als sie erfährt, dass Juli mit einem Jungen ausgeht, interveniert sie allerdings nicht. 

An dieser Stelle drücke ich geistig auf Pause. Während des ersten Rendezvous ereignet sich eine Szene, die mich nach dem Streamen noch länger beschäftigt und von der ich zögere zu erzählen, weil sie so banal erscheint im Angesicht der von politischen Haltungen durchwobenen, geschichtsträchtigen Handlung. Andererseits entfalten die auf den ersten Blick trivialen, profanen Momente oft gerade als fast unauffällige Abweichungen von den großen, bedeutungsschwangeren Zusammenhängen ihre Wirkung. Juli und ihr Freund flanieren abends Hand in Hand durch die Straßen, als sie verlautbart, sie müsse dringend auf die Toilette und schaffe es nicht bis nachhause. Gleich vor ihnen befindet sich ein öffentliches Toilettenhäuschen, doch haben beide nicht das nötige Kleingeld für eine Benutzung. Er weiß zu improvisieren und holt ein Ziertaschentuch hervor, mit dem es Juli bei der Toilettenfrau versuchen solle. Gesagt getan: Schnitt, eine Totale: Juli läuft zu jener Frau hin, die, wir sehen es zunächst nur aus der Ferne, auf einem Hocker sitzend den Eingang bewacht. Die Teenagerin reicht ihr, während sie zögerlich in die Knie geht, das Tuch. Es folgt ein Close-Up der älteren, vom Leben gezeichneten Frau. Wir beobachten ihren kritischen Blick und es entsteht ein kurzer Moment der Spannung. Als sie den Kopf hebt, um Juli in die Augen zu sehen, kündigt sich noch immer kein Anflug eines Lächelns an, ihre Züge verharren in einem ernsten Ausdruck. Das nächste Close-Up zeigt die zittrigen Hände der älteren Frau, mit denen sie das Tuch im Schoß hält und befühlt. Kein Gegenschuss. Es folgt auf den nächsten Schnitt wieder eine Totale: Juli verlässt dankend das Toilettenhaus. 

Wie passt diese Szene in den Film? Verbildlicht sie eine persönliche Erinnerung von Mészáros? Selten, wage ich zu behaupten, denken wir an Harndrang-Momente zurück, es sei denn die Situation fühlte sich bereits sehr grenzwertig und schmerzvoll oder peinlich an. Juli wirkte aber nicht sehr gequält und ihr Ausflug schnell abgehandelt. Die Szene könnte auch als Kritik am Umgang mit dem öffentlichen Raum und dem Zugang zu sanitären Anlangen verstanden werden. Der Toilettengang ohne finanzielle Mittel und besonders für Frauen wird durch diese Szene als kapitalisiertes Ereignis in einem sozialistisch regierten Land erfahrbar. Andererseits hält auch eine Person Einzug in die Erzählung, die zwar eine Randfigur bleibt, dennoch nicht gänzlich außen vor gelassen wird: die für die Reinigung der Toilette zuständige Frau. Seit wann gibt es diese Beschäftigung und welche Geschichte trägt sie eigentlich in sich? 

Die Geschichte der öffentlichen Toiletten zählt schon über 5000 Jahre, verrät mir eine kurze Recherche.  Wer die Kultur des Klos zuerst erfand, darüber existiert natürlich eine Debatte – ob sie ähnlich hitzig geführt wird, wie jene über den Ursprung so mancher kulinarischer Köstlichkeiten? Einig sind Historiker*innen sich jedenfalls, dass das düstere Mittelalter auch ein dunkles Kapitel für Hygiene und WC-Anlagen bedeutete. Erst mit der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts sollte die Öffentliche-Toiletten-Bewegung bedeutsam werden: ein regelrechter Boom ereilte die Metropolen Berlin, London und Paris. In Wien sorgte ein Berliner Kaufmann 1883 für die Errichtung der ersten öffentlichen Bedürfnisanstalt in der Invalidenstraße. Dass es Personen brauchte, die diese reinigen, erscheint nur logisch, dass dafür meist Frauen eingesetzt wurden, überrascht als gesellschaftlich geprägtes Ungleichgewicht auch kaum. Nachdem Toiletten in Privatwohnungen ihren Siegeszug feierten, nahm ihre Frequenz im öffentlichen Raum zeitgleich ab. Und heute? In Budapest, lese ich auf der Homepage des International Office der Stadt Wien, hatten erst im Jahr 2016 Demonstrierende vor dem Parlament mehr öffentliche Toiletten eingefordert. Die Stadt wisse selbst nicht, wie viele Toiletten es gäbe, hieß es in einer ersten Reaktion, da die meisten von Privatunternehmen verwaltet würden. Man hat nicht nur in Budapest die Wahl: Zahlen um aufs Klo zu gehen oder die viel höhere Strafe zahlen, wenn man’s nicht bis zum stillen Ort schafft. Heute funktionieren die meisten WC-Anlangen schon über automatisierte Schranken: Münzeinwurf oder Kreditkarte werden als Zahlungsmittel akzeptiert – der Handel mit einem Ziertaschentuch erweist sich von vornherein als ausgeschlossen. Die Toiletten reinigenden Personen verlieren ebenso ihre Sichtbarkeit, die Transaktion wird mechanisch. Eine Szene wie in Napló gyermekeimnek könnte sich in der Form also gar nicht mehr abspielen. Mit dieser Überlegung hat der Moment zwischen Juli und der älteren Frau als Relikt einer vergangenen Zeit doch noch einen Sinn für mich gefunden. In meiner Erinnerung formt sich das Close-Up auf die Frau vor der Toilette nun in ein rührseliges Bild eines Augenblicks von zwischenmenschlichen Kontakt – eines Kontaktes, den die Invasion von Automatisierungen und Maschinen seit geraumer Zeit immer mehr verdrängt. Auf einmal wirkt die Szene gar nicht mehr so banal.

Der Film ist bis 31.08.2023 in der Mediathek von arte zu sichten:

https://www.arte.tv/de/videos/107476-000-A/tagebuch-meiner-kindheit/

The past is just a prologue: Daughters of the Dust von Julie Dash

„I am the whore and the holy one. I am the wife and the virgin. I am the silence that you cannot understand.“ 

In Julie Dash’s Daughters of the Dust bewegen sich scheinbare Gegensätze aufeinander zu, wird die Erfahrung von Zeit elliptisch und Stillstände vollziehen sich im Einklang mit Aufbrüchen. Mit ihrem Spielfilmdebüt forderte die New Yorkerin in den 1990er Jahren Sichtweisen auf Erzählstrategien des Mainstreamkinos heraus und regte eine Erweiterung von kritischen Ansätzen mit dem Kino und seinen Akteur*innen an. Ihre Inspiration zog sie vornehmlich aus der Literatur von Schwarzen Frauen wie Paule Marshall (ihr Roman Praisesong for the Widow bildet eine Grundlage für den Film) oder Toni Morrison, sowie aus der eigenen Familiengeschichte.   

Wir schreiben das Jahr 1902 in South Carolina: eine Gullah-Gemeinschaft lebt seit Generationen auf einer Insel, auf die ihre Vorfahr*innen als Sklav*innen aus Westafrika verschleppt wurden und die Teile von ihnen nach der Abschaffung des Sklavenhandels weiter belebten. Einige von ihnen, so besagt eine über Generationen weitergetragene Erzählung, begingen kurz vor Ankunft des Bootes auf der Insel angesichts der ihnen bevorstehenden Gewalterfahrungen, Suizid. Der Film bezieht sich hiermit auf reale Ereignisse des Jahres 1803, legt den Fokus seiner Szenen aber auf deren Nachwirken in Zusammenhang mit Mythen, Traditionen und Gewohnheiten einer Familie.

Die Peasant-Familie, um die sich Daughters of the Dust dreht, pflegt Kultur und Traditionen der afro-amerikanischen Gullahs, die sie in Freiheit und identitätsstiftender Abgrenzung zu ihren weißen Unterdrücker*innen durch neue Vergemeinschaftungen herausbildeten und weitergaben. Gullahs, oder Geechee, so verrät die Recherche, sind eine ethnische Gruppe mit westafrikanischen Vorfahr*innen an der Küste von South Carolina und den nahegelegenen Inseln.  Der Film setzt mit dem Besuch bereits abgewanderter Mitglieder auf Ibo Landing ein und dreht sich von da an um verschiedene Momente vor der gemeinsamen Emigration weiterer Personen der Peasant-Familie. Während sich ein Großteil der Nachfahr*innen bereit macht, Richtung Festland aufzubrechen, entscheidet sich Nana, die Matriarchin der Familie, auf Ibo Landing zu bleiben. Die Geschichte der Peasants, ihre Herkunft, die Seelen der Ahnen, das kollektive Trauma der für viele tödlichen Überfahrt und der erlebten Gewalt erlangt durch Nana Omnipräsenz. Die Lebenden müssten Kontakt mit den Toten halten, erklärt sie ihren Nachfahr*innen, genauso wie die Bande zwischen Alt und Neu niemals abreißen solle. Alt und Neu, Jung und Alt, Festland und Insel, Erinnern und Vergessen, Linearität und Ellipse treten in Daughters of the Dust miteinander in eine Symbiose, die binäres Denken, symbolische und vermeintlich logisch gegensätzliche Paare in Frage stellt.

Aus diesen Verflechtungen meine ich auch das Aufgreifen eines Bewusstseins für Geschichte zu erkennen, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitbestimmt. Nana spricht auf eine spirituell oder religiös inspirierte Weise von den Seelen der toten Vorfahr*innen und weiht die Jüngeren in das Gefühl einer Kollektivität ein, die Lebende und Verstorbene eint – vergesst eure Wurzeln nicht. Dash lässt die Reflexion über die Vergangenheit aber nicht nur dialogisch einfließen, sondern kreiert auch eine Erzählstruktur, deren Logik in keiner Steigerung liegt, sondern auf Gleichzeitigkeiten aufbaut. Sie findet visuelle Übersetzungen für die Darstellung der mentalen Übertragung kollektiver Erfahrungen und transgenerationaler Traumata sowie bleibender, sichtbarer Folgen von Unterdrückung, deren konkrete und symbolische Spuren sich fortschreiben: So weisen Nanas Hände dunkle Spuren von der Zwangsarbeit auf der Indigoplantage auf und ihr Baumwollkleid ist blau gefärbt.

Der titelgebende Staub bildet in Form der Sandkörner den Inselboden, das Zuhause der Peasants und kann auch als Symbol für die Nebulosität der Familienerinnerungen verstanden werden. Während Nana Peasant an ihren Erinnerungen festhält und sich einer Emigration verweigert, möchte die jüngere Yellow Mary die Gedanken an ihre Vergewaltigung in eine Box sperren, um sich für einen Neuanfang von der Vergangenheit zu befreien. Daughters of the Dust stellt indirekt die Frage, ob das Durcharbeiten von individuellen und kollektiven Erinnerungen oder das Vergessen Aufbruch und Befreiung ermöglichen und ob wir uns neu erfinden können, wenn wir unser Leben an einen anderen Ort versetzen. Dashs Film öffnet den Raum für Gedanken und visualisiert das non-hierarchische Treiben seiner Figuren kurz vor einem Aufbruch, der ohne Vergangenheit keine Zukunft hat – „the past is just a prologue“. 

Daughters of the Dust ist einer der ersten US-Langspielfilme einer afro-amerikanischen Frau mit einem Kinostart und ist aktuell auf MUBI zu sehen: https://mubi.com/films/daughters-of-the-dust

Alterserscheinungen

Es gibt Filme, die wir an irgendeinem Punkt im Laufe unseres Lebens ins Herz geschlossen und in den Kammern „schönes Erlebnis“, „wichtiger Film“ oder „formal spannend“ verwahrt haben. Diese Bilder und Töne trafen zu einer bestimmten Zeit einen Nerv, der eine drängende Nähe zu unserem persönlichen Befinden, brisanten gesellschaftlichen Themen oder einer gerade erst aufblühenden Entdeckung von filmischen Herangehensweisen hergestellt hat. Die besondere Beziehung zu diesen Filmen entstand zu einem Zeitpunkt, der kurz darauf – das Grundprinzip der Zeit liegt schließlich in ihrem Vergehen – schon immer bereits unseren vergangenen Ichs angehörte. Dieser Film und das Ich haben eine prägende Zeit miteinander erlebt, sie sind quasi lebensabschnittsverpartnert. Aber woran ist uns am meisten gelegen – an einer Aussage, an einem Bild, an einer Emotion – was hat uns damals begeistert, erregt, aufgeregt? Eine Begegnung Jahre oder gar Jahrzehnte nach dem letzten Aufeinandertreffen kann wie das Wiedersehen einer alten Liebe sein: herzerwärmend, voller Sehnsucht, ernüchternd oder enttäuschend.

Weil viele Kulturkritiker*innen ihre romantische Ader (und damit meine ich auch die Liebe zu einzelnen Momenten und spezifischen Formen von Filmen) selten zur Schau stellen, fragen sie bei einer solchen Wieder-Begegnung mit filmischen Vertrauten vielleicht „Und, ist der gut gealtert?“ Unter Filmrestaurator*innen mag diese Frage passionierte Diskussionen über den Zustand des Materials hervorrufen, aber im Falle der Kritiker*innen entsteht oft eine vernunftorientierte Spannung zwischen Ratio und Emotion. Die Seherfahrung wird nüchtern in Worte gepackt und die kulturelle Prägung urteilt über die ästhetische Erfahrung mit. In dem Moment, in dem ein Film gesellschaftliche Kontexte sichtbar werden lässt, wird die Altersfrage lauter. Die Entscheidung bei der Frage zwischen gutem und schlechtem Altern – alles zwischen diesen beiden Polen wirkt eher uninteressant – fällt meist zugunsten der Ratio aus, die persönlichen Emotionen schweben als Faktor vielleicht mit, sollten sich aber lieber in inoffiziellen Gefilden bewegen. Als gut gealtert erkläre ich einen Film, weil ich ihn selbst noch so spüre wie früher, sondern viel mehr, wenn ich seine gesellschaftspolitisch offene Haltung erkennen kann, die die Relevanz seines Hineinreichens in die Gegenwart unterstützt. Lese ich auf der erzählerischen Ebene stark konservative Werthaltungen heraus, mögen diese zwar als Indikator einer bestimmen Zeit und politischen Richtung für den historischen Blick interessant werden, aber nicht mit dem liberalen Fortschrittsblick meiner gesellschaftsoptimistischen Seele einhergehen. Die Feststellung eines guten Alterns bezieht sich also viel weniger auf eine messbare Distanz zum Zeitpunkt der Entstehung, sondern erweist sich als Spiegel gegenwärtiger Themen, die in der Vergangenheit schon einmal auf eine ähnliche Weise erfahrbar waren. Nicht die Filme verändern sich, sondern die Welt und unsere persönlichen Mikrokosmen, in denen wir sie erleben. Aber wohin gelangen die Emotionen, mit denen wir noch einmal den Geschmack von Nostalgie auf der Zunge spüren? Sammeln sie sich mit dem Prozess des Alterns an, um heimlich die Herzkammern zu befüllen und in ungeahnten (Film-)Momenten plötzlich hervorzuquellen? Gerade Filme, mit denen wir aufgewachsen sind und die uns besonders geprägt haben, konfrontieren wir oft vorsichtig mit der Altersfrage. Es besteht die Gefahr, sich von diesem Teil unseres alten Ichs mit Trennungsschmerz zu lösen, denn das Ich ist nicht mehr, wie es mal war. Doch wohin mit diesen Filmen, die einmal Teil von uns selbst waren, von denen wir uns eigentlich nicht ganz trennen wollen, die wir aber auch nicht mehr so schätzen und lieben wie einst? Wie verändert sich unser Umgang mit Emotionen mit fortschreitendem Alter? Wie begegnen wir unseren Lieblingen von damals? Ich schreibe von einem wir, weil ich recht sicher bin, mit meiner Erfahrung nicht alleine zu sein.

Für die Retrospektive „Young at heart – Coming of Age at the Movies“ der diesjährigen Berlinale wählten 26 Filmschaffende ihre „persönlichen Lieblinge“ unter den Coming-of-Age-Filmen aus. Viele von ihnen mögen hier ihrem vergangenen Ich wiederbegegnet, erneut berührt worden oder enttäuscht gewesen sein. Eine andere Emotion, die uns beim Wiedersehen mit Filmen begleiten kann, sind Wut oder Frustration. Wut, weil wir so viel Zeit mit diesen Filmen verbracht haben, deren Werthaltungen, die wir längst ablehnen, uns persönlich beeinflusst haben. Frustration, weil wir in diesen Filmen unserem alten Ich begegnen und es am liebsten mit anderen Filmen, die wir jetzt ästhetisch oder inhaltlich weit mehr schätzen, konfrontieren würden, von denen wir damals aber einfach nicht wussten oder zu denen wir keinen Zugang hatten.

Céline Sciamma entschied sich im Rahmen der Retrospektive für Martha Coolidges Not A Pretty Picture aus dem Jahr 1976. Sie begründete, dass sie das Werk der US-Amerikanerin als Teenagerin selbst gern gesehen hätte. Kristen Stewarts Entscheidung beispielsweise fiel auf eine Filmerzählung, die sie als Mädchen tatsächlich verehrte: Now and Then von Lesli Linka Glatter, der knapp zwanzig Jahre später erschien. Ich habe beide Filme erst im letzten Jahr gesehen und wäre ihnen, genau wie die beiden Filmemacherinnen, auch gern früher, mit meinem alten Ich begegnet. Doch hätten mich Not A Pretty Picture und Now and Then im Teenagerinnen-Alter ebenso nachhaltig beeindruckt, sodass ich sie als „wichtige Filme“ oder „schöne Erlebnisse“ abgespeichert hätte? Gibt es Filme, für die wir den Moment verpasst haben? Können wir Filme zu spät sehen? Mein gealtertes Ich wird niemals eine Antwort auf diese Frage geben, sondern lediglich Bedauern fühlen können.

Die Aussagekraft von Not A Pretty Picture vermittelt sich für mich heute durch seine dokumentarisch angelegte Form, die ihn an eine nicht abgerissene Dringlichkeit – hier mischen sich Bedauern und Wut angesichts des fehlenden Alterns so mancher darin verarbeiteter Problematik – an feministische Diskurse bindet. Coolidge dokumentiert, wie sie als erwachsene Frau ihre eigene Vergewaltigungserfahrung als High-School-Schülerin filmisch zu erzählen versucht. Indem sie Situationen mit jugendlichen Darsteller*innen inszeniert, teilt sie sich als Opfer mit, kreist um den Hergang der Tat und dekonstruiert seine Bedeutung auf gesellschaftspolitischer Ebene. Die Szenenarbeit wechselt Not A Pretty Picture mit Gesprächen zwischen Coolidge und den Darsteller*innen ab. Darin treffen Ansichten, indirekte Haltungen und Verhaltensweisen der Mädchen und Jungen aufeinander. Coolidge misstraut dem illustrativen Kino, macht ihre Interventionen zum Gegenstand des Films selbst. Es ist der Versuch, Bilder und Worte für etwas zu finden, was tiefe Narben hinterlassen hat. Das reinszenierte individuelle Erleben von Coolidge schlägt die Brücke zu einem schmerzvollen Empfinden der Seele, das die Aussagekraft der Momente emotional und rational aufnimmt. Immer wieder stelle ich mir die Frage, ob ich diese Bedeutungsebenen damals, als Feminismus mehrheitlich als Beleidigung eingesetzt wurde und Feministinnen am Schulhof für unattraktiv erklärt wurden, überhaupt greifen hätte können. Ob ich über die Form des Films, die sich in Handkameraaufnahmen von längeren Gesprächen niederschlägt, einen Zugang gefunden hätte? Ist dieser Film in meinen Augen deshalb gut gealtert, weil ich die Intentionen und Gedanken der Filmemacherin jetzt viel mehr zu verstehen glaube, als ich es damals getan hätte? Wie gut ein Film in unseren Augen gealtert ist, hängt vom persönlichen Umgang mit Diskursen ab, genauso wie von unserer Wahrnehmung seiner formalen Einzigartigkeit. Hier treffen sich Emotion und Ratio. Wenn gewisse Themen, die selten filmisch verarbeitet wurden, durch einzelne Werke Sichtbarkeit erfahren, dann können sie schnell einen Platz im Herzen erobern. Denn im Herzen findet sich mit dem Altern, basierend auf den Erfahrungen, auch die Sehnsucht nach Themen und Diskursen. Genauso aber macht sich die Sehnsucht nach einer Bereicherung durch die Form breit, je häufiger wir, die wir im Kino auch die Kunst suchen und nicht nur den Konsum, sie schmerzlich vermissen müssen. Mit dem Prozess des Alterns mag sich schlicht verändern, wofür wir brennen, was uns frustriert und in welchen Kinoerlebnissen wir uns besonders genüsslich verlieren. Insofern wohnen einem Rückblick, alleine in den eigenen vier Wänden oder im Rahmen einer Retrospektive, stets Freude oder Frust, Genuss oder Mühsal, Wiedersehenseuphorie oder endgültige Trennung bei. Im Fall von Not A Pretty Picture vermag ich mir dieses Wiedersehen nur vorzustellen. Aber selbst in der Vorstellung spüre ich das in mir, was man Altern nennt.