Schneegestöber und Durchlichtbilder: All the Beauty and the Bloodshed von Laura Poitras

In der ersten Einstellung schneit es. Man sieht ein Gebäude von außen, ein Straßenlicht leuchtet, es leuchtet das Schneegestöber an. Kleine Flocken fliegen hernieder, während sie ihre kaum sichtbaren Schatten auf die Schneedecke werfen. Jede Flocke ist einzigartig. Das hatte ich als Kind gelernt und dabei vergeblich versucht, ihre Form mit bloßem Auge zu entziffern. Bevor ich eine einzelne Flocke aus dem Gewimmel isolieren konnte, schmolzen sie alle in meiner Hand zusammen zu einem kleinen Tropfen.

Es schneit weiter und nun sieht man in das Innere des Gebäudes. Nan Goldin sitzt in einem abgedunkelten Raum. Der Lichtstrahl eines Diaprojektors leuchtet, das Rauchgeschwader ihrer Zigarette füllt den Raum. Cembalomusik erklingt. Der Klang des Cembalos wird durch ein Zupfen erzeugt, das Ende einer Feder – dasselbe Ende, das man zum Schreiben in Tinte taucht – reißt die Saite mit sich. Ein kleiner Tupfer erklingt. Mein Klavierlehrer erklärte mir, dass es deshalb in den Stücken für Cembalos viele Verzierungen gibt. Ein Tontupfer hält nicht lang. Indem man schnell zwei Halbtöne abwechselnd erklingen lässt, erzeugt man die Illusion eines langen Tones.

Die spitzen und fragilen Töne vermischen sich mit dem rhythmisch-mechanischen Klicken des Projektors. Es ist ein mir fremdes Geräusch. Ich war nie mit dem endlosen Kreisen einer solchen Apparatur vertraut. Es hat etwas Unaufhaltsames, die Maschine, die einem gerade genug Zeit gibt, sich zu erinnern. Es ist ein Mittel konstanter Überforderung und Konfrontation. Vielleicht ist es daher das richtige Mittel, sich mit vergangenen Geschichten zu beschäftigen. Laura Poitras erzählt den Film in Dias, in Kapiteln, in Fotosammlungen. Das Licht erleuchtet die Durchlichtbilder, eines nach dem anderen, und eine Ruhe legt sich über mich, wie eine Schneedecke. Man legt sich in die Dunkelheit und schaut.

Goldin beginnt mit ihrer Kindheit. Sie erzählt von ihrer Schwester, ihrer Rebellion und ihrem tragischen Schicksal, worüber ihre Eltern schweigen. Sie selbst sei lange Zeit verstumm. Es macht Sinn, alles um einen scheint sich zu drehen, man bleibt ruhig und sieht dabei zu. Eine geliebte Person verschwindet spurlos aus dem Leben und alle schauen weg, als ob nichts passiert wäre. Ist es die Trauer, die einen dann wortlos überfällt? Ist es die Taubheit in den Fingerspitzen, die Taubheit in einem, die bewirkt, dass man versucht, die eigene Wahrnehmung festzuhalten? Die Fingerspitzen, die den Weg zum Auslöser finden und abdrücken. Erst mit ihrem neuen Namen, der ihr von ihrem Freund gegeben wird – Nan –, scheint sie diejenige zu sein, die ihr Karussell selbst antreibt. Sie entflieht dem Vorort, lebt mit ihren Freunden in New York, lebt mit Künstler*innen zusammen. Sie drehen Filme, machen Kunst und Fotos, veranstalten Parties, um ihre Arbeiten zu zeigen. Einmal verdient sie ihr Geld mit einer Buttonmaschine. Aus Fotos werden Buttons, die sie auf der Straße verkauft. Sie verwandeln sich zum Gegenstand, zu Sammlungen, zu tragbaren Erinnerungen. Kleines Kreise, die den Moment festhalten. Ihre Erinnerungen spritzen mit Lust, stechen mir mit ihren farbenvollen Bildern direkt ins Herz.

Zwischen den Dias sind Bilder der Gegenwart geschaltet. Die aktivistische Gruppe um Nan Goldin, die sich gegen die Sacklers und ihren Einfluss einsetzt und sie zur Rechenschaft für ihre Verbrechen zieht, wirft Flyer, klebt blutiges Falschgeld auf ihre Leiber, wirft leere Medikamentendosen ins die Kunsthallen. Mit dem Geld, das die Sacklers mit Oxycodon verdienen, mit der Sucht der Menschen, die diese Droge auslöst, benennen sie die Flügel und Hallen der Museen und Universitäten. Im Film fällt ein Ausdruck – »Blizzard of Prescription«. Ein schreckliches Bild, überall ein Film von hartnäckigem Papier, das sich auf die Menschen niederlegt. Mit ihren Aktionen machen sie das Bild konkret, man sieht wie sich die Zerstörungskraft der Droge manifestiert.

Der Film zeigt die Geschichte Goldins Lebens, ihrer Kunst und ihres Aktivismus. Der Tod und die Gewalt sind verwoben mit ihrer Geschichte. Sei es ihre Kindheit in den 1950ern in den Vororten, die Erinnerungen an ihre Schwester oder die an ihre Freunde und Wahlfamilie in New York während der AIDS Epidemie. Oder ihre eigene Sucht. Eine Sucht die in Berlin beginnt, nachdem sie von ihrem Freund geschlagen wird, dabei beinahe erblindet. Man gibt ihr die Pillen, die sie abhängig macht. Berlin, Blind, The Ballad of Sexual Dependency. Eine Ballade, die beißt, die blutet, die zerrt, die zerrüttet. Ballad, Battered, Body. Im Film treffen fragile Momente zusammen mit der Gewalt des US-amerikanischen Gesundheitssystems und einer Gesellschaft, die Probleme nicht anspricht, sondern betroffene Menschen noch weiter marginalisiert und zum Schweigen bringt. Zum Schluss wendet sich der Film nochmal Goldins Schwester zu, den Akten, die während ihres Klinikaufenthaltes über sie verfasst wurden. Goldin findet ihre Worte: All the Beauty and the Bloodshed – die beiden Extreme, das unerträgliche Gefühl, das Goldins Schwester beschreibt. Die Fragmente von ihr finden zu uns.

33 Jahre später: Berlin 10/90 und Dear Doc von Robert Kramer

»My father sat there in the browns and beiges and the television was one of his few pleasures.«1

Ich sitze in der Kinemathek und schaue auf den Potsdamer Platz. Es ist nur ein kleiner Fußweg zu den Orten, an denen Robert Kramer gefilmt hat, um seinen Film, die Plan-séquence Berlin 10/90, zu realisieren: der Gropiusbau, die Topographie des Terrors, das Brandenburger Tor. Der gut einstündige Beitrag für den französischen Fernsehsender La Sept endet mit einer Geste, bei der die Hand Kramers Wasser aus der Badewanne schöpft. Man hört, wie er sich wäscht, vielleicht das Gesicht. Eine Geste des Aufwachens.

Berlin 25 Octobre 1990 15h15-16h15 Plan-séquence

Berlin 10/90 durchschreitet einen Trancezustand, einen Traum. Über eine Stunde entfaltet sich ein Gefühl, das sich langsam mit Kramers gedämpftem Monolog einschleicht. Dieses Gefühl haftet an den Worten, aber die Worte sind nicht in der Lage, es zu benennen. Es ist nicht sicher, ob die persönlichen Details – die Geschichten über seinen Vater und seine Mutter, die Linien, die er durch seine Erinnerungen zieht, die Beschreibungen, die er mit seiner Gestik untermalt – tatsächliche Erinnerungen sind oder vage Verbindungen zwischen einzelnen Fragmenten. Etwas Nebeliges umgibt seine Schilderungen.

Berlin, 1930. Kramers Vater lebt in Berlin. Berlin Alexanderplatz. Drei Jahre später kehrt er nach New York zurück. Seine Mutter flieht ebenfalls nach New York. Sie war Studentin am Bauhaus. Sie heiraten.

Das sind die Fakten, die wir haben. Robert Kramer weiß auch nicht mehr. Es ist, als ob er sich eines Berlins erinnern möchte – ein Berlin, das durch die Erinnerungen seines Vaters durchschimmert. Erinnerungen, die er nie erzählt bekommen hat. Als ob man durch Nebel blick. Das Opake des Nebels erlaubt Schemen zu erkennen, deren Umrisse Kramer mit eigenen Wünschen füllt. Bilder von Berlin, wie sein Vater es wohl durchschritt, durchwoben von Geschichte, nach dem Fall der Mauer. Wie in Trance vermischen sich Bilder von Erinnerung und Gegenwart. Es tropft der Wasserhahn.

»J’embrasse les fantômes même sur la bouche. Je nage dedans. Ma manière d’avancer est le zoom. Le zoom avant. Je voyage dans la matière, dans un détail, vers un fond d’ambiguïté solide comme mes mains.«2

Der Zoom ist die Geste einer Fortbewegung. Die spärlichen Spuren, wreckage, kaum handfeste Orientierungspunkte der Erinnerung, machen die extreme Konzentration notwendig, die der Zoom gewährt. Eine Bewegung, um im Nebel mehr zu sehen als Schemen. Das Gefühl der Klaustrophobie und gleichzeitigen Verlorenheit, das sich in dieser Verdichtung manifestiert, ist bilder- und wörterlos, es ist so ephemer wie die Geister, die Phantome, die Kramer versucht zu berühren. Die Einschusslöcher, die er in Berlin filmt, auf die er zoomt, an den Fassaden der Gebäude – sind es die unsichtbaren Einschusslöcher in Kramers Körper? Wundkanal: eine Schussverletzung, wenn die Kugel durch den Körper einen Durchgang hinterlässt. Eine Wunde, ein wunder Punkt, ein Kanal, ein Fernsehkanal, ein Medium, ein Durchgang, durch dem mach sich der Wunde gewahr wird, der selber eine Wunde ist, durch den man zur Verletzung gelangt.

»There is a kind of sadness. It has to do with subdued light, thick, expensive textures, fabrics in shades of browns and beige, drapes for the windows and rugs covering out to the walls. Everything turned inward, away from the harsh world outside, a secret space. […] There was something suffocating, something unsaid, something almost murderous, and there was comforting, there was this … couple.«3

Der Zoom ist ein Medium. Der Zoom macht sichtbar, wie Kramer sich den Erinnerungen nähert, durch die Distanz hinweg, er ist Durchgang und Mittel zugleich. Bilder im Fernsehbildschirm, der auf den Fliesen steht. Es ist ein Gerät, das den Vater heraufbeschwört. Die Figur des Vaters, der vor dem Fernseher sitzt, so wie Kramer vor seinem Fernseher »almost ›channelling‹ his father«4. Die suchende Bewegung der Kamera. Sie bewegt sich stets, entzieht sich schnell dem Gezeigten. Flüchtige Bilder, die man im Fernseher sieht, und flüchtige Bilder, die den Fernseher zeigen. Die Rastlosigkeit ist Schutz, der Nebel auch Barriere, der Fernseher eine Distanzierung.

»That I liked these acrobatics, these adjustments of distance, and trying to find the right way to see it, the right distance, the right angle, was very helpful, for in the next period we were going to be dragged out of the familiar waters and taken to places were there were no charts to navigate with. You were going to have to find your own way.«5

Der Weg, die lange Reise. Von Europa nach Amerika, von Amerika zurück nach Europa. Es gibt keine eindeutige Richtung mehr, in die man geht, in die man blickt. »I thought I would use this as sort of a locus, a focus, a center, another crossroads like Berlin for my plan-séquence.«6 Kramer beschreibt sein Vorgehen. Er nimmt die Bilder, die man im Fernseher sieht, als Angelpunkt, als Ausgangspunkt, als einen Ort, den er nutzt, um in verschiedene Richtungen zu blicken. Die Bilder im Fernseher gleichen einem »memory tape«, es zeigt die Bilder, wie Kramer sie sieht – zufällig, assoziativ, fragmentiert.


Seine Subjektivität ist das Unerkennbare beim Blicken, die Linse, durch die er auf die Dinge blickt. Sein Körper, seine Erinnerungen, seine Worte – er selbst ist bereits Medium, und zugleich blickt er auf ein Medium: auf die Überlagerung der verschiedenen Bildebenen, die Verschiebung der Erinnerungen, das Sichtbarwerden des Filmens. Kramer setzt sich vor die Fliesen in seinem Badezimmer. Auf engstem Raum, mit dem Rücken zur Wand, wird hier an diesem Ort in einer Stunde konzentriert, kanalisiert, verdichtet, heran gezoomt, wodurch die Überlagerungen seiner Perspektiven sichtbar werden. Zusammengedrückte Augenlider, um durch den Nebel hindurch zu erkennen. Und zugleich drängt Kramers Bedürfnis nach Distanz zur Vergangenheit gegen das Erinnern. Ich spüre ebenfalls meinen Widerstand gegen die Bilder. Es ist mir unangenehm den Ausschnitt seiner Frau Erica zu sehen, in den er reinzoomt. Es ist mir unangenehm, seinen monotonen, assoziativen Monologen zu lauschen, in denen er sich verliert. Einem Albtraum gleich, dem ich mich verwehren möchte. Das Tropfen geht weiter.

Dear Doc – ein Post-Scriptum oder eine Dokumentation der Post-Produktion?

Dear Doc hat im Französischen den Titel Lettre à Paul. Ist es ein Brief für Paul oder Doc? Wer ist Doc? Kramer ist sich nicht sicher. Doc ist eine Figur – wieder eine Kreuzung: »Doc is a synthesis, one expression of our generation and of the creative tension between two very different people.«7 Doc ist die Figur, die mit Kramer in seinen Filmen auf Reisen geht, eine Figur, die von Paul McIsaac verkörpert wird. In Lettre à Paul ist ein Timecode sichtbar im Bild, eine ständige Erinnerung, dass wir auf einen Bildschirm blicken. Die Unmöglichkeit einer genauen Zuordnung, das ist das Thema dieses Films. Zu Beginn zoomt die Kamera – ein Fernsehbild, da für das Fernsehen produziert – in das Bild des Fernsehers im Tonstudio. Was ist Fernsehbild erster Ordnung? Was ist Fernsehbild zweiter Ordnung? Robert und Paul, ich kann sie nicht auseinanderhalten. Ihre wettergegerbten und der Zeit gestandenen Gesichter, ihre weichen, tiefen und an die Ostküste erinnernden Stimmen. Im Treiben der Musik und der Bilder verlieren sich die Grenzen.

»It is difficult to distinguish between the way one is formed by the life around one, and the form one gives to things just by thinking about them with the specific means one has at ones disposal.«8

Fernseher, Paul und Doc, sie gewähren Distanz, um zu sehen: »Always looking. Sometimes just looking away.«9 Wie Perseus den Spiegel nimmt, um das Unanschaubare zu betrachten, so bewegen sich Kramers Bilder zwischen Schauen und Wegschauen. Er filmt nicht direkt, er befindet sich in ständiger Bewegung, in endlosem Suchen der richtigen Perspektive. Vielleicht ist es Angst, die ihn, wie auch die mythologische Figur, davon abhält ins Direkte zu schauen. Vielleicht ist diese Form des Schauens die Manifestation der Unmöglichkeit einer direkten Konfrontation, die Personifikation der Unmöglichkeit anhand von Doc. Die Rastlosigkeit, die Kramer beschreibt, ist die Bewegung des Wegschauens. Das Exil, die Reise: »He has some disease… a virus, alcohol, isolation?«10 Es gibt viele Gründe für die Distanz, viele Mittel, um sie herzustellen. Sie beschreiben die Schwierigkeit, die Unmöglichkeit des Bleibens, des direkten Schauens.

Kramer meidet das Wort filming, looking muss als Ersatz herhalten.11 Doc ist die Möglichkeit, Paul die Verkörperung. »Movies are the means by which one packs one’s bag and walks away from everything that the room and habit and society and family represent.«12 Es überlagern sich Paul, Kramer und Doc, Bilder und Bildschirme mit weiteren Bildern von Bildschirmen auf meinem Bildschirm.

»Making movies is about moving towards and moving away, about arriving and departing. Or about the very distance necessary to make them.«13 Das Filmemachen ist für Kramer eine Form des Rückzugs, oder es bedarf der Distanz einer Beobachterposition, wie Kramer sie einnimmt – auch in Wundkanal und Notre Nazi.14 Kramer zeigt uns auch die Rückseite des Fernsehers. Das Making of, das Postscriptum, die Hintergründe, die sichtbar gemacht werden können aus dieser Perspektive. Die Vorderseite ist der Bildschirm, auf dem die Bilder sind. Und doch umkreist die Kamera den Fernseher, entzieht sich den Bildern, die er zeigt. Der Fernseher und seine Umkreisung, die Annäherung über die Rückseite ist ebenfalls die Annäherung durch das Spiegelbild.

Traumhaft sind die Bilder, die Kramer kreiert. Durch sie wird eine Barriere erkennbar, die er fühlt und denkt, er findet keinen Zugang zu ihnen und so ist das Filmemachen ein Heraustreten aus der eigenen Position und die Hoffnung eines Zugangs, eines Kanals in das Wesentliche. In Dear Doc will Doc einen kurzen Nap halten, es folgen Bilder aus einem Krematorium. Flammen und ein Sarg. Ich will mich mit meinen Worten nicht dem Albtraum weiter nähern, auf den Kramer mit diesen Bildern verweist, ohne ihn anzusprechen. Ich spüre wieder die Beklemmung, den Widerstand.

Zwischen die Aufnahmen von Route One sind Einstellungen aus dem Studio geschnitten, Bilder der Vertonung von Route One. Dort steht ein Fernseher auf einem Podest. Alle sehen ihn und improvisieren die Musik zu den Bildern. Der Fernseher führt Familien zusammen, und hier im Studio ist sie eine, die nicht, wie Kramer sagt, durch den Zufall zusammengeführt wurde. Das Filmemachen stiftet Familie, sie sammelt sich vor dem Bildschirm. Im Gespräch mit Paul, oder dem Doc, sagt Kramer, es gehe ihm nicht darum, dass er eine Familie habe. Es gehe ihm um die Verbindung. Vielleicht auch deshalb endet Dear Doc mit Bildern von seiner Tochter Keja und Erica, so wie er begonnen hat: Der Editing Room ist ein Zuhause. Man glaubt beinahe, im Studio sitze der Vater schemenhaft in seinem Sessel stumm vor dem Fernseher. Die Familie versammelt sich, ordnet, vertont und betrachtet die Bilder, die man darin sieht. Der Fernseher als fixer Punkt, ein Objekt, ein Lokus, zu dem man sich in ständiger Bewegung, in konstanter Aushandlung befindet. Zu dem, was gezeigt wird, zu jenen, die er versammelt, zu den Bildern, die überlagert werden, denen man sich verweigert, die man im Fernseher sieht.

scavage

Die Fragmente und Reste, die ich aufhebe und betrachte. Die Bewegung der Distanzierung und das Zusammensetzen der Trümmer, der Erinnerungen, die einem wortlos hinterlassen werden, in den 1950ern und 1960ern in Amerika, in Kramers Kindheit und Jugend. Eine Fluchtbewegung, die eigentlich keine Flucht ist, sondern eine Ablehnungshaltung, eine Abstandsgestus, die aber immer wieder zurückführt in die Erinnerungen der Kindheit und der Trauer des Vergangenen, die nicht wieder herstellbar sind. Man muss weiterziehen, versuchen mit den Resten, Sinn zu stiften.

1975 in Cannes spricht Kramer in einem Interview von »reclaim«, vom reclaiming der eigenen Geschichte und jener Amerikas. Das, wovon er sich in seiner politischen Arbeit distanziert hatte, der persönlichen Geschichte, einer Familiengeschichte, einer Geschichte der Migration. Kramer spricht in dem Interview von einer Frau, einer Immigrantin, deren Geschichte im Film erzählt wird und die weder fiktiv noch dokumentarisch sei. Bilder aus ihrem Leben passen nicht zu den Anekdoten und ihrer Person. Es ist ein Prozess des scavaging, reclaiming. Im Interview spricht Kramer von einem Ordner, der abtrünnige, nebensächliche und spontane Ideen versammelt, um daraus einen Film zu machen. Diese Ideen sind noch kleiner, noch fragmentarischer, noch disparater als Identitäten.15 Die Bilder im Fernseher sind nicht einer Person oder Perspektive zugeschrieben, die Bilder formen die Möglichkeit einer Perspektive.

»It’s like one of the characteristics of how we end up defining filmmaking for ourselves, which is that the scope of the film is the scope of our concerns. It’s not like a product. We mine what we’re living through.«16

1990 – das Ende der Hoffnung für Kramer auf eine Zukunft, eine Möglichkeit, für die er sich eingesetzt hatte. Es ist das Jahr, in dem die beiden Filme Berlin 10/90 und Dear Doc entstehen. Noch eine Kreuzung. Vielleicht ein Zeitpunkt, an dem die beiden Filme in Erinnerungen eine Möglichkeit suchen, einen Moment der Retrospektive bilden.

Es ist nicht einfach nachzuvollziehen, was Kramer in Berlin 10/90 und Dear Doc macht. Seine Filme sind in ständiger Bewegung, die Stimmen in ihnen schwer voneinander zu trennen, die Bilder in mehrfacher Überlagerung, die Ideen und Gegenstände in höchster Konzentration, und doch so verschwommen, unerkenntlich und entfernt. Diese extremen Mittel – die Fragmentierung, das assoziative Sprechen, die Überlagerung der Bilder – sie ermöglichen ihm das Finden neuer Perspektiven, aber es sind auch genau diese Mittel, die es so schwer machen, diesen Spuren zu folgen und die mich wieder in das Weite stoßen. Ich blicke auf den Potsdamer Platz, in die Leere einer endlosen Baustelle. Kramers Filme gleichen nicht der Konkretion der neuen Gebäude, die dort heute stehen. Diese Bewegung des Suchens, des Scavagings, des Reclaimings, der Wiederanordung funktionieren in Berlin 10/90 und Dear Doc rein auf der zweiten Ebene. Er filmt das Filmen, den Ort zweiter Ordnung, das Schauen zweiter Ordnung, das Fernsehbild als Perspektive unendlicher Möglichkeiten oder Assoziationen. Der Fernseher ist der Ort, das Objekt, an dem all das zusammenkommen kann und durch den es erlebbar wird.

Die Fragmente der Erinnerungen sind nicht notwendigerweise Kramers, vielleicht sind sie erdacht, erträumt, wie das Berlin der 1930er, vielleicht sind sie Kompilationen, Überlagerungen verschiedener Personen, vielleicht sind sie in Annäherung, von hinten, über die Schulter erschlichen. Das Filmen schafft eine Vielzahl an möglichen Erzählungen, Sichtweisen, Gemeinschaften.

Paul McIsaac schreibt vor Kramers Tod von einer möglichen Fortführung, einer Wiederbelebung der Figur Docs: »How would we do that? We’d walk and talk. Robert would write, we’d talk some more, he’d rewrite. We’d share books, films and audio tapes and tales and secrets from the past. We open to each other’s paranoia and dreams. We’d drink, get high, share long meals. Doc and his relationship to certain ideas and places would begin to emerge. The process of discovering could begin again.«17

Diese Form und Methode der Arbeit, der endlosen Möglichkeiten neuer Perspektivierungen, gewähren eine immer fortwährende Suche nach Fragmenten, nach Mitteln und nach der richtigen Verortung, für die Kramer und McIsaac offenbleiben. Sie finden eine Art der Arbeit, die sich immer wieder aktualisieren lassen und weitergeführt werden kann. Es stellt sich mir aber auch die Frage, ob eine Fortführung, ein Anhang nach Anhang nach Anhang, vonnöten wäre. Es gibt sicherlich viele dieser Figuren in Filmen: Männer, die nach dem Sinn des Lebens suchen, rastlos, gequält, mit denen sich andere identifizieren dürfen. Genau so wie die Familien, die Gemeinschaften, die sich um den Fernseher versammeln, nicht frei von hierarchischen und patriarchalen Strukturen sind, so suchen, finden und reproduzieren Kramer und McIsaac vor allem Perspektiven, die den beiden Männern am nächsten sind. Der Fernseher und der Vater sind der Lokus, der Ausgangspunkt, aber die sich wiederholende Rückkehr und Rückbesinnung auf die familiäre Ordnung der Gemeinschaft eröffnet nicht neue Sichtweisen, sondern scheint allein Faszination zu bleiben. Das Utopische in dieser Arbeitsform begeistert mich, aber mit der Zeit wächst ein Unbehagen, mich diesen Worten und Einstellungen auszusetzen, und ich möchte nun aufhören und wieder aufwachen.

1 Robert Kramer: »Snap Shots«, in: Vincent Vatrican und Cédric Venail (Hg.): trajets à travers le cinéma de Robert Kramer. Aix-en-Provence 2001, S. 7–23.

2 Robert Kramer.: »Prologue d’une guerre«, in: id., Cyril Beghin und Cécile Wajsbrot (Hg.): Notes de la forteresse (1967-1999). Paris 2019, S. 253–255, hier S. 253. Übersetzung: »Ich küsse die Geister sogar auf den Mund. Ich schwimme in ihnen. Meine Art, mich fortzubewegen, ist der Zoom. Der Zoom-in. Ich reise in die Materie, in ein Detail, zu einem Grund der Zweideutigkeit, der so fest ist wie meine Hände.«

3 Kramer: »Snap Shots«.

4 Hironobu Baba: »Robert Kramer and the Jewish- German Question«, in: rouge 9 (2006).

5 Kramer: »Snap Shots«.

6 Berlin 10/90 (Robert Kramer, FR 1991), 63 min.

7 Paul McIsaac: »Creating Doc«, in: http://www.windwalk.net/writing/rk_mci.htm 1998.

8 Kramer: »Snap Shots«.

9 Dear Doc (Robert Kramer, FR/US 1990), 35 min.

10 McIsaac: »Creating Doc«.

11 Dear Doc.

12 Kramer: »Snap Shots«.

13 Dear Doc.

14 Der Film Notre Nazi (BRD/FR 1984) von Robert Kramer wurde parallel zu von Wundkanal (BRD/FR 1984) von Thomas Harlan gedreht und beleuchtet die Dreharbeiten und Harlans Arbeit während des Drehs.

15 Robert Kramer und John Douglas: »Reclaiming our past, reclaiming our beginning«, in: Jump Cut 10-11 (1976), S. 6–8.

16 Kramer und Douglas: »Reclaiming our past, reclaiming our beginning«, S. 6.

17 McIsaac: »Creating Doc«.

Manche real, manche fiktiv: De Cierta Manera von Sara Gómez

De Cierta Manera von Sara Gómez beginnt mit der leidenschaftlichen Rede eines Mannes, einer Rechtfertigung seiner Abwesenheit, seines Fortbleibens von der Arbeit. Bald darauf springt ein Kollege auf, der ihn beschimpft und wild mit den Armen gestikuliert. Er bezichtigt ihn der Lüge. Seine Beschimpfungen gehen über in eine Musik, die die Energie der wutentbrannten Worte weiterträgt. Ein Zwischentitel erklärt:

»Ein Film über Menschen: manche real, manche fiktiv«

Interview, Berichterstattung, Reportage, Melodrama, Konzertfilm, Fotofilm – man weiß hier nie, wo die Fiktion anfängt und die Realität aufhört, denn im schnellen Tempo wechseln sich die unterschiedlichen Modi ab. Sara Gómez findet Bilder und Stimmen, die die Energie und die Lust für soziale Veränderung einfangen. Der Film bleibt dabei seinem Vorhaben treu. Es ist vor allem ein Film über Menschen, über Körper in Bewegung, im Alltag, bei der Revolution. Die Facetten der revolutionären Veränderung sind hier breit gefächert. Sie finden sich in zwischenmenschlichen Beziehungen und alltäglichen Interaktionen.

Die Geschichten entfalten sich in der Stadt Las Yaguas im postrevolutionären Kuba. Die Liebesbeziehung zwischen Yolanda und Mario – sie Lehrerin und er Arbeiter in einer Fabrik – steht im Zentrum des Geschehens. Marios chauvinistische Ansichten und die daraus resultierenden Konflikte bilden den Angelpunkt der Handlung. Yolanda entstammt einer wohl situierten Familie, hat mehrere universitäre Abschlüsse und kommt durch ihre Arbeit als Lehrerin zum ersten Mal in Kontakt mit der marginalisierten Bevölkerung der Stadt. Mario ist im Prekariat aufgewachsen, auf den Straßen, wie er sagt. Er verkörpert und lebt den Machismo – ein Begriff, der in einem dokumentarischen Abschnitt erklärt wird, der mitten in das Gespräch der beiden geschoben wird. Dieser Teil, einem Lehrfilm gleich, schlägt einen Bogen zur kolonialen Geschichte Kubas und bietet Erklärungsansätze, wie es zu einem solchen patriarchalen Denken in Mario kommen konnte. Seien es die Einflüsse einer geheimen patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen ausgeschlossen werden, oder die historischen Werte der spanischen Einwanderer, die einem männlichen Gewaltkodex unterliegen: Die Beziehung der Protagonist*innen ist zugleich alltäglicher Austragungsort des historischen Erbes und der generationellen Schicksale, wie auch filmische Darstellung der revolutionären Potenziale. Yolanda und Mario verhandeln, wie sie ihre Beziehung gestalten wollen, welche Wertvorstellungen und Geschlechterrollen sie leben möchten. Vor allem Mario sieht sich mit Entscheidungen konfrontiert, die seine Rolle als Mann in Frage stellen: Soll er der in seinen Augen männlichen Pflicht nachkommen und seinen Kollegen decken, der sich vor der Arbeit drückt, oder mit dem Machismo auch die Idee der Verpflichtung zur männlicher Komplizenschaft ablegen, und sich Yolanda und den Veränderungen der Revolution zuwenden?

Yolanda bleibt ebenfalls nicht verschont von Konflikten und Konfrontationen im Zuge der Entwicklungen. Sie sieht sich zum ersten Mal umgeben von einem sozialen Milieu, dessen Werte sie als veraltet ansieht. Es reihen sich Interviewausschnitte, die Yolanda befragen, an Gespräche zwischen ihr, den Müttern der Kinder und ihren Arbeitskolleg*innen. Es sind Bilder eines Alltags in diesem Viertel. Dem Schüler Lázaro, der sich besonders den schulischen Pflichten verwehrt, stattet Yolanda einen Hausbesuch ab. Es wird klar, dass Lázaro in einem Umfeld von Gewalt und Armut aufwächst. Die Mutter ist durch ihre Umstände nicht in der Lage zu arbeiten, die Väter ihrer Kinder sind alle verschwunden. Lázaro landet bei der Polizei, Yolanda geht ihn abholen und der Beamte erklärt, dass nach vielen Untersuchungen Lázaro nur ein Junge ist, der mehr Liebe und Aufmerksamkeit braucht. Der Film vermittelt die ineinandergreifenden Probleme von Bildung und sozialen Umständen einer in patriarchalen Strukturen verankerten Gesellschaft. Besonders deutlich wird das, wenn Yolanda ihre Gedanken darüber, was aus den jungen Mädchen wird, die keine schulische Karriere nach der sechsten Klasse verfolgen, äußert. Über ihr Voice Over legen sich Bilder der Gewalt gegen Frauen.

Der Film findet seine Form aus dem Alltag der Menschen, er fließt wie das Gespräch der Arbeitskollegen beim Domino am Samstag, zu dem sich Mario gesellt: Es ist nicht nur entspannte Nachmittagsbeschäftigung, sondern auch Anlass, um über die Themen zu reden, die sie wirklich interessieren. Die Männer der Dominorunde fragen Mario über Yolanda aus, necken ihn, sorgen sich, dass er eine Frau außerhalb der eigenen Klasse trifft und geben ihm Ratschläge, wie man damit umgehen soll – leidenschaftlich oder subtil, in einem Witz oder flüchtig im Nebensatz verpackt. Das Tempo wird vorgegeben vom Spiel, von der Energie der Figuren, von der Freude des Spielens. Sie kommen zusammen zum Domino, reden gleichzeitig über Politik, über Liebe und über die Revolution. Es ist die Leidenschaft zu reden, zu streiten, eine Gemeinschaft zu sein, die sie zusammenbringt, und nebenbei läuft das Spiel weiter.

Nicht in Ernst, Wut und auf Konfliktlösung fixiert lösen sich die Gespräche auf, sondern der Film zeigt, wie die Veränderungen der Revolution nie zu trennen sind von alltäglichen und persönlichen Konflikten. So findet De Cierta Manera eine Form zwischen Spiel und Diskurs, Privatem und Politischem, Realem und Fiktivem, ein Zusammendenken, das nicht in stilisierten Ikonographien verweilt. Und wie beim Domino geht es dabei laut zu, es ist zugleich die Freude am Aushandeln und am Spielen. Der Film beginnt mit dem Streit der Männer – Mario entscheidet sich zur Enthüllung der wahren Gründe der Abwesenheit seines Freundes von der Arbeit – und endet mit dem Streit zwischen Yolanda und Mario, der durch den Verrat an seinen Freund und Kollegen seiner männlichen Rolle nicht mehr gerecht wird. Er gibt Yolanda dafür die Schuld. Und doch holt er sie von der Schule ab und auf dem Heimweg geht die hitzige Diskussion weiter. Es geht nicht allein darum, dass man sich einig wird, sondern dass man gemeinsam weiter streitet, dass man zusammen weitermacht.

De Cierta Manera ist derzeit auf Arsenal 3 und Mubi als Stream zu sehen.

Weder zu Land noch zu Wasser: Human Flowers of Flesh von Helena Wittmann

Eine sechsköpfige Schiffsbesatzung auf dem Mittelmeer. Sie ziehen von Hafen zu Hafen. Es ist eine Reise ohne Anfang, ohne Ziel. Die Bilder der Reise zeigen poröse Grenzen und fließende Übergänge, zwischen Land und Wasser, Traum und Wirklichkeit, Geschichten und Gerüchten.


Die Hitze der Sonne konserviert die Menschen und ihre Umgebung, alles gibt sich ihrer warmen Ruhe hin. Zeit kondensiert zu einzelnen Momenten. Es sind Einstellungen der höchsten Konzentration, fragmentarisch zusammengeführt. Wie die Schiffsbesatzung – aus allen Himmelsrichtungen angereist, in ihren eigenen Zungen sich behutsam ausdrückend – fahren sie gemeinsam aufs Meer.


Körper und Hände bei der Arbeit auf dem Schiff. Ruhig atmend sieht man einen Mann in den Schlaf gleiten, irgendwo zwischen hier und dort. Das Einschlafen, eine kleine Reise. Irgendwo zwischen den Sprachen, mit denen sie sich verständigen, zwischen den Übersetzungen, den Fragmenten der Geschichten, die sie sich vorlesen, findet die Bewegung der Reise ihren Fortgang. Es sind Bewegungen, die einen Ort verlassen, um woanders anzukommen, aber die Überfahrt hat keine Richtung. Nur die kaum merklichen Schwellen zwischen hier und dort bleiben uns. So wie die Wellen den Felsen zu Sand abtragen, so vermischen sich die Worte und Klänge der Besatzung.


Das Wiegen des Schiffes wird zu einem Spiel von Licht und Schatten, ein Hin und Her. Und doch gehen die Menschen in diesem Dazwischen, auf diesem Schiff, in einer unmöglichen Intensität ihrem Leben nach. Das Schiff scheint ein unwirklicher Ort, weder zu Land noch zu Wasser, weder geträumt noch wachend. Ida (Angeliki Papoulia), die den Weg der Schiffsbesatzung vorgibt, geht sicheren Schrittes voran, ihre entschlossene Miene aber verweilt nur für einen Moment, die Richtung bleibt immer ungewiss. Ist es eine Irrfahrt oder eine Reise? So wie Ida immer eine neue Richtung wählt, sich gleichsam durch eine Leere zu bewegen scheint, so schwebt der Film. Ein Gefühl der Verlorenheit durchzieht die Bilder. Es ist eine Verlorenheit, die unvermeidbar ist, und daher umso gewollter. Ein Schauen ins offene Meer hinaus, ein sich öffnender Blick, ein verschwommener Blick, um sich nicht fokussieren zu können. In den kleinen Momenten reisen sie und Ida schaut hinaus auf Meer.