Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Musicals, Filme und Musical-Filme

Mei­ne Bezie­hung zu Musi­cal-Fil­men ist nicht die ein­fachs­te. Sie bie­ten mir lei­der sehr oft zu wenig Raum. Im Ver­such, mög­lichst vie­len, auf die ein oder ande­re Wei­se spek­ta­ku­lär insze­nier­ten Num­mern – und ich spre­che hier nicht nur von Aus­stat­tung und außer­ge­wöhn­li­chen Kame­ra­fahr­ten – Num­mern Platz zu geben, ver­wan­delt sich der Film in eine Abfol­ge von Lie­dern, die bes­ten­falls tief­ge­hen­de Moment­auf­nah­men, schlimms­ten­falls emo­tio­na­le Vor­schlag­häm­mer oder gar eine Check­box auf der Song-to-do-Lis­te sind. An und für sich ist die­se Dis­kon­ti­nui­tät ja nichts Schlim­mes, im Gegen­teil, aus dra­ma­tur­gi­scher Sicht ist sie durch­aus span­nend, bie­tet theo­re­tisch Raum für Lücken und Brü­che zwi­schen den gro­ßen mono­li­thi­schen Song-For­ma­tio­nen, die aus dem Oze­an des Gesamt­films ragen. Nur all­zu oft bleibt die­ser Oze­an eine Pfüt­ze, die Lücken und Brü­che am Grund minu­ti­ös mit Bret­tern abge­deckt, damit auch nie­mand hin­ein­fällt und alle das Ziel errei­chen. Und da stellt sich mir dann immer die Fra­ge: War­um das Gan­ze als Musi­cal? Wenn die Struk­tur des Fil­mes so in sich zusam­men­fällt, dass kei­nem der bei­den Tei­le genü­gend Raum, Zeit oder Auf­merk­sam­keit gege­ben wird, um sich völ­lig ent­fal­ten zu kön­nen, war­um dann das Gan­ze? Wür­de der Film nicht von einer ande­ren Form pro­fi­tie­ren? Die­se Annah­me trifft frei­lich nicht auf alle Musi­cal-Fil­me zu, aber lei­der vor allem auf die­je­ni­gen, über die man zufäl­lig stol­pern kann; und eine sol­che Annah­me kann oft­mals dazu füh­ren, dass man sich mit Scheu­klap­pen ins Kino begibt, immer gera­de aus­schaut in der Hoff­nung, das Ende bald zu erbli­cken und dann schließ­lich ent­täuscht ist, weil man nichts von der fabel­haf­ten Umge­bung gese­hen hat. Und sie führt auch dazu, dass man die Scheu­klap­pen nicht abnimmt, wenn man durch das Kino­pro­gramm schaut und dass man dadurch viel­leicht eine Erfah­rung ver­passt, wel­che einem die Scheu­klap­pen förm­lich vom Gesicht bläst. Des­halb wird es mal Zeit, die­se Scheu­klap­pen abzu­neh­men und genau­er hin­zu­schau­en und hin­zu­hö­ren und auch etwas zur Sei­te zu schau­en um zu sehen, was abseits von Hol­ly­wood in den letz­ten Jah­ren an Musi­cal-Fil­men her­vor­ge­bracht wurde.

Musical 1

So zum Bei­spiel bei 8 Femmes von Fran­cois Ozon. Ein Who­dun­nit als Musi­cal-Melo­dra­ma. Ein Film, in dem jeder Schritt, jede Stoff­fal­te, jede Licht­re­flek­ti­on, jede Ges­te bist zum kleins­ten Heben der Augen­braue genau sitzt. Völ­lig durch­kal­ku­liert und durch­cho­reo­gra­phiert von Anfang bis zum Ende. Acht Frau­en in einem Haus, in wech­seln­den Kon­stel­la­tio­nen in wech­seln­den Zim­mern, jede hat ihren exak­ten Platz, jede hat ihre Scre­en­ti­me, jede hat ihr Lied, jedes Lied hat sei­ne zwei Stro­phen (mit einer drei­stro­phi­gen Aus­nah­me zum Fina­le) und sei­nen Refrain. Eine stren­ge Struk­tur, die so offen­sicht­lich ist, dass jeg­li­cher Ver­such sie zu ver­ber­gen im Vorn­her­ein zum Schei­tern ver­ur­teilt ist, und daher ver­sucht es Ozon erst gar nicht erst. Da wird dann auch mal für einen Song der Tag zur Nacht, oder es wird zu einer beschwing­ten Melo­die ein­fach mit­ge­tanzt (selbst­ver­ständ­lich per­fekt cho­reo­gra­phiert) und nach einer gelun­ge­nen Vor­stel­lung eif­rig von den Mit­schau­spie­le­rin­nen applau­diert. Wir als Zuschau­er stol­pern von Situa­ti­on zu Situa­ti­on, die Hand­lung wird zur Neben­sa­che, der Film zu einem sinn­li­chen Genuss­erleb­nis. Man ver­liert sich im Grün von Cathe­ri­ne Deneu­ves Kleid, bewun­dert das edle Inte­ri­eur der Vil­la und freut sich mit Isa­bel­le Hup­pert über ihr auf­ge­dreh­tes Spiel. In solch einem Kon­text gibt es natür­lich kei­ne Lie­der-Mono­li­then im Film-Oze­an mehr, genau­er genom­men gibt es gar kei­nen Oze­an mehr. Das stän­di­ge Auf- und Abtre­ten der Figu­ren treibt den Film zwar an, die flie­ßen­de Ganz­heit eines Oze­ans bleibt ihm aller­dings ver­wehrt. Dies klingt nun alles sehr ober­fläch­lich und das ist es im Grun­de auch, aber, weil wir ja unse­re Scheu­klap­pen abge­nom­men haben schau­en wir dann doch etwas genau­er hin. Der Film betont sei­ne „Gemacht­heit“, als Musi­cal ver­stärkt er sie gera­de­zu noch: das Her­aus­tre­ten aus dem „nor­ma­len“ Sprech­mo­dus hin zum Gesang macht die Struk­tu­rie­rung offen­sicht­lich. Eine Struk­tur, in die wir uns ger­ne fal­len las­sen um ein­fach zu genie­ßen, was da auf uns zukommt. Doch die­ser Zustand des Genie­ßens ist ein tücki­scher, denn er macht uns die wich­ti­gen Din­ge des Lebens ver­ges­sen, genau­so, wie die acht Frau­en immer wie­der den Mord­fall ver­ges­sen, der sie eigent­lich in dem Haus zusam­men­ge­führt hat. Ein Ver­ges­sen, für das sie am Ende bestraft wer­den, genau­so, wie wir Zuschau­er am Ende für unser Ver­ges­sen bestraft wer­den, wenn uns am Ende, beim fil­misch insze­nier­ten Curtain Call plötz­lich auf­fällt, dass nie­mand applau­diert und nie­mand sich ver­neigt, dass die Beloh­nung für all das schö­ne Spiel, all die schö­nen Kos­tü­me, die schö­ne Aus­stat­tung und die ver­lo­cken­den Melo­dien aus­bleibt und am Ende doch alles ins unbe­frie­di­gen­de Lee­re verläuft.

Ber­tolt Brecht schrieb über die Oper, dass sie ein „Genuss­mit­tel“ sei und als sol­ches nur den Genuss zum The­ma machen kann. Die­sen Gedan­ken kann man wei­ter­füh­rend auch auf das Musi­cal aus­wei­ten und er ist sicher­lich im Fal­le von 8 Femmes auch zutref­fend. Doch noch stär­ker mani­fes­tiert sich die­ses Prin­zip des über­mä­ßi­gen Genus­ses in Tsai Ming-liangs The Way­ward Cloud. Das Erle­ben des Genus­ses wird dort in den Mit­tel­punkt gerückt, wenn ein kal­ter Schluck Was­ser inmit­ten der anhal­ten­den Dür­re, die Keh­le benetzt, dann lässt uns Tsai Ming-liang laut­stark dar­an teil­ha­ben. Es wird eine Klang­ku­lis­se auf­ge­baut, in der jeg­li­che Hand­lung um ein hun­dert­fa­ches ver­stärkt wird: das Zer­quet­schen einer Melo­ne, das Zusam­men­pral­len zwei­er Kör­per beim Sex, selbst das selt­sam höl­zer­ne Klap­pern der Schuh­soh­len in einem Gang aus Beton. Die Spra­che ist in dem Film auf ein abso­lu­tes Mini­mum redu­ziert, der Gehör wird so für die Wahr­neh­mung der ver­schie­de­nen Sounds sen­si­bi­li­siert. Und die­se Sounds sind all­ge­gen­wär­tig: Bau­lärm, der von der Stra­ße in eine Woh­nung schwappt, das Sum­men eines lau­fen­den Kühl­schranks, das Brut­zeln von Öl in der Pfan­ne; es ist inten­siv und intim über jeg­li­che Schwel­le des Wohl­be­fin­dens hin­aus. Ein­zig wäh­rend des Sin­gens schwei­gen Stadt und Kör­per. Das For­mat des Musi­cals wird hier genutzt, um eine Kon­trast­wir­kung zu erzeu­gen. Nicht nur auf der Ebe­ne des Tons: da wird der Prot­ago­nist plötz­lich zu einem Meer­mann oder einem Rie­sen­pe­nis, Geschlech­ter wer­den getauscht und die gan­ze Stadt tanzt, bestückt mit Regen­schir­men, mit. Es ist erstaun­lich und irri­tie­rend, in wel­chen Momen­ten und wor­über da gesun­gen wird: ein selt­sam pathe­tisch-melan­cho­li­sches Lie­bes­lied beim nächt­li­chen Bad im Was­ser­tank oder ein Song über erek­ti­le Dys­funk­ti­on beim unter­bro­che­nen Por­no­dreh. The Way­ward Cloud ist stän­dig dar­auf aus, die Zuschau­er von sich selbst abzu­sto­ßen, sei es durch den Ein­satz der Musi­cal-Num­mern, als auch durch das Gegen­über­stel­len von Genuss und Elend. Brecht schreibt über eine Sze­ne aus sei­ner Oper Auf­stieg und Fall der Stadt Maha­go­n­ny, in der sich Herr Schmidt zu Tode isst, dass der eigent­li­che Kon­flikt im Wis­sen des Zuschau­ers dar­über bestün­de, dass andern­orts zur sel­ben Zeit jemand an Hun­ger ster­ben könn­te. In die­sem Gegen­satz wird der Genuss plötz­lich absto­ßend und so ist es auch in Tsai Ming-liangs Film, wenn für die Was­ser­zu­fuhr wert­vol­le Was­ser­me­lo­nen als Sex­spiel­zeug ver­wen­det wer­den, wenn es kaum gelingt Was­ser auf­zu­trei­ben, um die Illu­si­on einer funk­tio­nie­ren­den Dusche für den Dreh eines Por­nos auf­recht zu erhal­ten und wenn die­ser Dreh nicht unter­bro­chen wird, selbst wenn die Dar­stel­le­rin schon tot ist. Beim Betrach­ten des sich lan­ge auf­bau­en­den Orgas­mus‘, der das „Lie­bes­paar“ des Films am Ende des Films zusam­men­bringt, gibt es beim Publi­kum wohl kei­ne ähn­li­chen Höhe­ge­füh­le, in kei­ner Wei­se, auch kein musi­ka­li­sches Fina­le. Die Klüf­te zwi­schen Musi­cal-Pas­sa­gen und dem Rest des Fil­mes, zwi­schen Publi­kum und Prot­ago­nis­ten, sie blei­ben ungeschlossen.

Musical 2

Auch wenn der Ein­satz von Musi­cal-Num­mern in 8 Femmes und The Way­ward Cloud sehr unter­schied­lich wirkt, so bricht er doch in bei­den Fäl­len die fil­mi­sche Struk­tur auf und dient in gewis­ser Wei­se auch einem Durch­bre­chen der vier­ten Wand. Anders ist es mit Musi­cal-Fil­men, in denen Musik­schaf­fen­de selbst im Mit­tel­punkt ste­hen. Hier wird oft die Musik selbst zum The­ma: Die bei­den Meer­jung­frau­en in Cór­ki Dancin­gu von Agnieszka Smoc­zyńs­ka, sind zum Sin­gen gebo­ren und weil sie jung und hübsch sind fin­den sie schnell eine Anstel­lung als Act in einem Nacht­club, doch ihr Gesang hat eine beson­de­re Wir­kung, er kann die Men­schen um sie her­um ihrem Wil­len unter­wer­fen. Musik ist hier wegen ihrer emo­tio­na­len Wir­kung eine mäch­ti­ge Waf­fe, der Film ist gefüllt mit Sze­nen von Men­schen, die sich von Musik mit­rei­ßen las­sen, deren Bewe­gun­gen von Musik im Tanz gelei­tet wer­den. Der eng­li­sche Film­ti­tel von Cór­ki Dancin­gu lau­tet „The lure“, und das ist es auch, was Musik sein kann: ein Köder. Musik ver­eint und ani­miert, aber sie kann Men­schen auch gleich­schal­ten und zu Mit­läu­fern wer­den las­sen. Für die Meer­jung­frau­en ist Gesang ihre ein­zi­ge Aus­drucks­form, es ist auch die Art ihrer Kom­mu­ni­ka­ti­on, sie kön­nen die­se Spra­che ent­schlüs­seln und ver­ste­hen, alle ande­ren kön­nen sie nur erfüh­len, selbst dann, wenn sie in mensch­li­cher Spra­che sin­gen. Es ist ein span­nen­des Bild des Musik­schaf­fen­den als poten­ti­el­ler Mani­pu­la­tor, das hier gezeich­net wird. Dabei zeigt sich die Ver­bin­dung zwi­schen der Meer­jung­frau­en­spra­che und der Musik auch auf sti­lis­ti­scher Ebe­ne. Der Syn­thie-Pop, den die bei­den pro­du­zie­ren, ent­hält immer wie­der Samples ihrer eige­nen Spra­che, die sich orga­ni­sche in den syn­the­ti­schen Klang ein­bet­ten. So erklärt sich auch die Wir­kung der Musik auf das Publi­kum. Und trotz die­ser extre­men Wir­kung bleibt die Musik für die bei­den am Ende immer noch ein­fach ein Aus­druck ihrer selbst. Die­sen Aus­druck zu ver­lie­ren bedeu­tet gleich­zei­tig auch den Ver­lust der eige­nen Iden­ti­tät und so kommt es auch in Anleh­nung an Hans Chris­ti­an Ander­sen bei einer der Schwes­tern zum Ver­lust der Spra­che, wodurch sie ihr Ver­der­ben gestürzt wird.

Musik oder Gesang als Aus­druck des Selbst zu ver­ste­hen ist eine durch­aus pro­ble­ma­ti­sche Annah­me, vor allem wenn es um die The­ma­tik von Inter­pre­ta­ti­on, Cover und Pla­gi­at geht. So ist es zwar aus wirt­schaft­li­cher Sicht durch­aus ver­ständ­lich, dass sich Hed­wig in Hed­wig and the Angy Inch von ihrem ehe­ma­li­gen Lieb­ha­ber betro­gen fühlt, als die­ser mit den von ihr geschrie­be­nen Lie­dern erfolg­reich wird, doch darf man aus ideo­lo­gi­scher Sicht die Fra­ge stel­len: Macht er sich die Musik durch die Inter­pre­ta­ti­on nicht zu eigen? Doch für Hed­wig ist die Sache klar, für sie ist Musik die ein­zi­ge Mög­lich­keit, ihre schmerz­haf­te Geschich­te zu erzäh­len. Musik ist für sie ein Mega­phon für die Men­schen, die in der brei­ten Mas­se sonst unter­ge­hen. Hed­wig ist die Ver­kör­pe­rung der Que­er-Bewe­gung, die sich in den 80ern und 90ern vor allem in der musi­ka­li­schen Sze­ne Aus­druck ver­schafft hat. Zeig­te sich in Cór­ki Dancin­gu die Gefähr­lich­keit der ein­neh­men­den Natur von Musik, so zeigt sich in dem Film von John Came­ron Mit­chell (der selbst die Haupt­rol­le spielt), wie Musik eine Mas­se von Indi­vi­du­en ver­ei­nen kann, die als Ein­zel­men­schen unge­hört blie­ben. Dies ist aller­dings nur die hei­le Welt, in der wir uns zu Beginn des Fil­mes bewe­gen. So gibt es auch in die­ser Mas­se aus Indi­vi­du­en immer eini­ge, die sich vor die ande­ren Stel­len, schließ­lich ist das Mega­phon Musik nicht groß genug, damit alle zugleich hin­ein­schrei­en kön­nen und wäh­rend eini­ge auf der Büh­ne sich frei aus­drü­cken, blei­ben ande­re im Publi­kum und haben nur die Mög­lich­keit sich dem anzu­schlie­ßen oder sich abzu­wen­den, Musik und nun mal mit­rei­ßend, man lässt sie zu oder ver­schließt sich ganz; so zeigt es zumin­dest der Film – for the sake of argu­ment, gewis­ser­ma­ßen. Jedes Lied von Hed­wig ist unwei­ger­lich mit einer ihrer Erin­ne­run­gen ver­knüpft, eine Ver­ge­gen­wär­ti­gung ihrer Lebens­ge­schich­te. Und so struk­tu­riert sich der Film auch: der gegen­wär­ti­ge Hand­lungs­strang zeigt vor­nehm­lich Auf­trit­te von Hed­wig und ihrer Band, wäh­rend in Rück­blen­den vor, nach und wäh­rend der Lie­der auf Hed­wigs Ver­gan­gen­heit ein­ge­gan­gen wird, als Zuschau­er erlebt man eben jene Ver­ge­gen­wär­ti­gung bild­lich mit, wel­che sich auch in Hed­wigs Gedan­ken ergibt. Mit­chell bedient sich dabei für jedes Lied eines ande­ren Insze­nie­rungs­stils: mal imi­tiert er einen Kon­zert­mit­schnitt, es gibt Zei­chen­trick­clips und Musik­vi­de­os mit Karaōke-Text­ein­blen­dun­gen. Als eben­so viel­sei­tig erweist sich der musi­ka­li­sche Stil des Films: von Rock, über Coun­ty bis zu Pop bedient Hed­wig alle Fel­der, schließ­lich ist sie auch eine Per­son, die sich nicht ein­ord­nen las­sen will. Da wer­den selbst die eige­nen Lie­der im Film in kom­plett ver­än­der­tem Stil mehr­mals neu­in­ter­pre­tiert, wodurch Hed­wig die von mir anfangs gestell­te Fra­ge selbst beant­wor­ten. Und als sie sich bei ihrem letz­ten Auf­tritt die Perü­cke vom Kopf und die Klei­der vom Leib reißt fragt man sich plötz­lich, war­um man Hed­wig bis zu die­sem Punkt nur in Drag und nie­mals ohne Kos­tüm gese­hen hat. Wozu dient die Ver­klei­dung? Zum Selbst­schutz, weil man sich durch das Dar­brin­gen der eige­nen Musik als Medi­um des Selbst ver­wund­bar macht? Oder ist weist es doch dar­auf hin, dass am Ende Musik als selbst­stän­di­ge Enti­tät doch nicht nur rei­nen Aus­druck der eige­nen Gefühls­welt ist?

Musical 3

Einen völ­lig ande­ren Weg, näm­lich den einer deper­so­na­li­sier­ten Musik bzw. eines deper­so­na­li­sier­ten Gesangs, schlägt Lon­don Road ein. Im Film von Rufus Nor­ris wer­den Sprach­samples frei von Per­son zu Per­son ver­scho­ben, wie­der­holt, gebro­chen. Die Spra­che wird so zum The­ma des Films, die Spra­che mit all ihren beson­de­ren Eigen­hei­ten, mit Akzen­ten, Füll­lau­ten und ‑wör­tern, mit fal­scher Gram­ma­tik und Syn­tax. Was im nor­ma­len Sprach­ge­brauch authen­tisch wirkt, wird ohne spür­ba­ren Über­gang im Gesang plötz­lich fremd; und dann beginnt man sie zu hin­ter­fra­gen, die Spra­che. Wie authen­tisch sind mei­ne Wor­te? Wie viel Ich ist in mei­nen Wor­ten? Die Form des Gesag­ten bestimmt unbe­dingt sei­nen Inhalt mit, ver­än­dert sei­ne Wir­kung. Und die­se Form ist kei­ne selbst­ge­wähl­te; sie ist vor­ge­ge­be­nen, von mei­ner Her­kunft, von mei­nem Umfeld, von den Medi­en. Und mit der Spra­che ver­än­dert sich auch die Gebär­de: Die klei­nen Ges­ten, die mit der Spra­che ein­her­ge­hen und so wie sie auch unbe­wusst wahr­ge­nom­men und ver­viel­fäl­tigt wer­den. Durch die Kame­ra um ein Viel­fa­ches ver­grö­ßert, durch die Musik cho­reo­gra­phiert wer­den auch sie sicht­bar, wer­den auch sie zum Gegen­stand des Hin­ter­fra­gens. Durch die Form des Musi­cals wer­den hier gesell­schaft­li­che Mecha­nis­men von Beein­flus­sung und Nach­ah­mung auf­ge­deckt und am Ende bleibt vom per­sön­li­chen Aus­druck nicht mehr viel übrig. Die Spra­che ist nur eine Wie­der­ho­lung des­sen, was man auf der Stra­ße oder in den Medi­en auf­schnappt, weder die Wor­te, noch die Melo­die, in der sie gesun­gen wer­den, sind indi­vi­du­ell. Am stärks­ten tritt dies in einem Kanon der Nach­rich­ten­spre­cher in der Mit­te des Films. Die Wahl die­ser stren­gen Form ist rela­tiv unge­wöhn­lich für ein Musi­cal, betont in Lon­don Road aber noch­mals stär­ker die Fra­ge nach der Gene­se von Spra­che und Aus­druck, schließ­lich baut der Kanon auf die strengs­te Art der Imi­ta­ti­on auf. Die­se Imi­ta­ti­on gibt denen, die von ihr Gebrauch machen, ein Gefühl von Zusam­men­ge­hö­rig­keit und Sicher­heit, im Schut­ze der Imi­ta­ti­on darf ich alles sagen, denn ich bin ja nicht der Ein­zi­ge. Aber im Schut­ze die­ser Imi­ta­ti­on ver­liert mein Aus­druck auch sei­ne Indi­vi­dua­li­tät, denn alle wer­den gleichgeschaltet.

Es ist schwie­rig, eine abschlie­ßen­de Bemer­kung zu die­sen ein­zel­nen Fil­men zu machen, weil wir hier von musi­ka­li­scher Form und Aus­druck brin­gen, bleibt eine gewis­se Unklar­heit, eine Ambi­va­lenz, die der Musik inhä­rent ist, immer erhal­ten. Die­se Unklar­heit ist es aber schluss­end­lich, die den Reiz eines Musi­cal-Films aus­macht. Die Musik ver­än­dert unse­ren Blick auf die Din­ge und macht uns dadurch offen für neue Erfah­run­gen, ohne jemals ein­deu­ti­ge Ant­wor­ten zu bie­ten. Macht man sie sich im Film zunut­ze, kön­nen wahr­haft span­nen­de Wer­ke her­vor­ge­bracht wer­den. Im zeit­ge­nös­si­schen Kino zeigt sich in die­sem Gen­re eine Viel­falt an For­men und Sti­len, des­sen Ver­tre­ter dadurch mehr sind, als ein­fach nur Fil­me mit Musik und Gesang. Es ist nur wich­tig genau hin­zu­schau­en und hin­zu­hö­ren. Und so hat es sich am Ende aus­ge­zahlt, die Scheu­klap­pen abzu­neh­men, denn dadurch eröff­net sich die vol­le Band­brei­te an For­men und Aus­drü­cken, zu denen Musi­cal-Fil­me fähig sind.