Ayka von Sergei Dvortsevoy ist ein Film über eine Frau, die versucht, ihrer Welt davonzulaufen, aber nicht begreift, dass diese Welt eine ist, die man zu Fuß oder mit dem Bus nicht verlassen kann, sondern nur mit Geld. Ein Film, der in Cannes erst sehr spät gezeigt wurde, zu einem Zeitpunkt, an dem man meist selbst erschöpft ist vom ständigen Schauen und durch die Gegend laufen und eigentlich nicht mehr auf große Entdeckungen eingestellt ist. Ein Film über Dringlichkeit, der selbst enorm dringlich ist. Ein Versuch, den Überlebenswillen marginalisierter Menschen in den toten Winkeln einer Großstadt im Verbund mit seinen mannigfaltigen Gegenkräften filmisch zu vermitteln.
Ayka gestaltet sich als unablässige Vorwärtsbewegung mit nur wenigen Verschnaufpausen. Es beginnt mit der Flucht vor einer moralischen Verantwortung. Die Titelheldin hat soeben ein Kind in die Welt gebracht. Jetzt muss sie stillen, sagt die Schwester. Ayka will nicht. Sie stiehlt sich aufs WC, verriegelt die Tür, reißt, tritt, schlägt, bricht das Fenster auf (mit der Gewalt einer Verzweifelten oder bodenlos Ehrgeizigen), stürzt ins Freie, wo der Schnee alles umklammert hält, und beginnt zu rennen. Irgendwann klingelt ihr Telefon, wieder und wieder, sie hebt zunächst nicht ab, es ist Zeit, aber sie hat keine, muss sich erst welche besorgen, bloß wo?
Aykas atemloses Voranpreschen durch ein winterliches Moskau, wie ich es im Kino so noch nicht gesehen habe, hält den Kamerablick gebannt. Gedreht wurde auf 16mm und zum Teil mit einer kleinen Digitalkamera, das Bildformat ist 16:9, fühlt sich aber an wie 4:3. Manchmal wackeln die Bilder unschön, man spürt jeden Schritt. Die Textur ist rau, „dokumentarisch“, aber nicht ohne ästhetischen Anspruch, das städtische Umfeld unwirtlich und wüst. Wie ein unfreies Radikal stromert Ayka in ihrem dunkelblauen Anorak durch diese schwarzgrau stöhnende Chaosdimension. Sie hat einen Tunnelblick, weil ihr das, was sie sieht, sonst den (Aus-)Weg versperren könnte. Und weil es ihrer Welt an Raum mangelt. Wenn Moskau ein Haus ist, kriecht Ayka durch die Lüftungsschächte.
Die Protagonistin ist jung, kommt aus Kirgisistan und lebt illegal in der russischen Hauptstadt, ebenso wie tausend andere Aykas. Mit manchen von ihnen teilt sie sich eine notdürftig parzellierte Mini-Wohnung. Solidarität gibt es hier nicht, im Gegenteil. Kinderfotos stehen auf einem Sims. Ayka fegt sie weg: „Das ist mein Platz!“. Immer wenn man glaubt, der Film könnte nicht mehr beengender werden, wird er es doch. Aykas „Zimmer“ ist ein Abteil aus Vorhängen. Weil die Kamera immer auf ihr pickt, auf ihrem Hinterkopf oder ihrem Gesicht, überträgt sich die klaustrophobische Grundstimmung sukzessive auf den Zuschauer. In ihrem dunklen Schlafnest nimmt Ayka gierige Schlucke aus einem Milchkanister, tankt sich auf für den nächsten Marathon. Sie muss, sie muss, sie muss.
Brave Cinephile fragen sich wahrscheinlich schon: Moment mal, das kenn ich doch! Das ist doch wie Rosetta von den Dardenne-Brüdern, sogar der Name klingt ein bisschen ähnlich! Sehr gut, setzen. Und klar, das ist kein Zufall, das ist Absicht. Mir kamen in Cannes viele negative Spontanreaktionen auf Ayka unter. Manche davon monierten den überdeutlichen Bezug zum Dardenne-Klassiker, weil sie sich von Dvortsevoy nach seinen kraftvollen Dokumentarfilmen, nach seinem vielversprechenden Spielfilmdebüt Tulpan, etwas Eigenständigeres erwartet hätten. Andere taten den Film schlicht als billiges „Ost“-Imitat Rosettas ab. Ich kann das nur bedingt nachvollziehen. Für mich verhält sich Ayka zu Rosetta nicht wie eine Kopie, auch nicht wie ein Remake, sondern am ehesten wie eine Cover-Version. Und ebenso wie in der klassischen Musik unterschiedliche Interpretationen ein und derselben Partitur Unterschiedliches hervorbringen, können auch Cover ein und desselben Songs einen originären, vom Original weitgehend unabhängigen Charakter annehmen. Ein etwas aparter Vergleich: Wenn Rosetta „Electricity“ von Captain Beefheart ist, wäre Ayka dessen Neuvertonung durch Racebannon.
Alles an Ayka ist extremer – allem voran die Feindseligkeit und (buchstäbliche) Kälte der Welt. Ayka hat keine Bezugspersonen und wird von ihren peripheren Bekanntschaften kaum wahrgenommen. Nicht aus Herzlosigkeit, sondern weil sie selbst allesamt Gehetzte sind, als würde ihnen permanent der Boden unter den Füßen weggezogen: Das Leben als wackliges Laufband. Immer, wenn Ayka (die den Vorteil hat, gut Russisch zu sprechen) versucht, eine Verbindung zu jemandem herzustellen, der sozial über ihr steht und ihr vielleicht helfen könnte, sind diese Menschen bereits in andere Geschäfte verwickelt, müssen Aufträge erfüllen und Kunden bedienen, die ihrerseits höher gestellt sind in der Klassenhierarchie. Dvortsevoy schafft die Ahnung einer geschichteten Welt, in der es nur Bühnen und Hinterzimmer gibt. Meist befinden wir uns hinter den Kulissen, nur selten erhascht man einen Blick auf das schillernde, glücksverheißende Geschehen auf dem Proszenium. Und durch Zufall können sich Wurmlöcher auftun, die wie beim Leiterspiel Abkürzungen nach oben bieten, wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Ein Automechaniker kann nichts für die arbeitsuchende Ayka tun, aber eine unzufriedene Geldadlige, die auf ihren Wagen wartet, bietet ihr spontan einen Job an.
Auch Ayka befindet sich im fortgeschrittenen Abgestumpftheits-Stadium. Sie kann sich nichts anderes leisten, mit dem Abgrund lässt sich nicht verhandeln. Konkurrentinnen werden attackiert, Leiden anderer ignoriert. Das Baby, ist es schon vergessen? Aykas Verschalung erscheint als Direktresultat ihrer Umwelt. Wenn der Schnee nicht stürmt, wiegt er schwer auf den Schultern der Verlorenen. Er verwandelt die Gnadenlosigkeit der Metropole in einen Naturzustand. Ein Wahnsinnsbild: Orangefarbene Schneepflüge donnern mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Straßen, wie eine Panzerkolonne oder eine Herde wildgewordener Bisons, das matschige Weiß machtvoll spaltend, niederwalzend und zur Seite schleudernd, apokalyptische Eisbrecher auf Autopilot. Wie fast alle guten Kinobilder ist es Symbol und Wirklichkeit in einem. Ayka, die auch Schnee schaufeln muss, aber leider nur ein Mensch ist, stützt sich ab, versucht, etwas Luft zu holen – Luft, die ihr auszugehen droht. Eine Vorarbeiterin ruft ihr zu, sie sei hier nicht zum Däumchendrehen.
Ein weiterer Vorwurf gegen Ayka, der mir in Cannes begegnete, war jener, es handle sich bei Dvortsevoys Film um „misery porn“. Ein Label, das ich selbst schon Filmen aufgestempelt habe, womöglich zu Unrecht. Hier scheint es mir jedenfalls vollkommen unangebracht. Es greift nur, wenn man an der Oberfläche bleibt. Ja, Ayka handelt von Armut, von Menschen, denen überwiegend Schlechtes widerfährt und die von anderen schlecht behandelt werden. Aber keine Sekunde lang ist der Film exploitativ oder melodramatisch. Für Melodramatik hat er schlicht keine Zeit. Schicksalsschläge werden hingenommen und abgeschüttelt, dann geht es weiter im Takt. Nie hat man das Gefühl (bedingt durch sorgfältiges Casting und den generellen Vorwärtsdrall des Films, der einem kaum die Gelegenheit gibt, emotional in Einzelszenen reinzukippen), die bösen Taten und Worte einzelner Personen würden von einer inhärenten Bösartigkeit ausgehen, sondern stets von einem größeren, systemischen Zusammenhang – den sprichwörtlichen Gegebenheiten, deren Ahnung jede Pore der Diegese durchdringt.
Zudem ist kein Detail (und Ayka steckt voller Details) reiner Selbstzweck. Jedes Element dient der Gesamtkonstruktion und zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Realitäten, die dem Film zugrunde liegen. Dvortsevoys Dokumentarfilmer-Background ist deutlich spürbar – in der Genauigkeit der Ausstattung, in den Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks unterschiedlicher Figuren, im Verlauf bestimmter Szenen und nicht zuletzt im Gespür für profilmische Eindrücke mit starker Präsenz. Besonders Tiere haben es Dvortsevoy angetan. Eine ganz und gar nicht süße Einstellung dreier an den Zitzen ihrer Mutter hängender Hundebabys, die mit dem Anblick weinender Säuglinge aus dem Eröffnungsbild des Films korreliert, schreit besonders laut von der Leinwand herunter. Aykas Metaphorik mag oft plump sein, aber an Kraft büßt sie darob nicht ein. Vielleicht braucht sie sogar eine gewisse Derbheit und Urgewalt, um dem reißenden Fluss der Erzählung zu entkommen.
Ayka hat mir auch geholfen, besser zu verstehen, warum ich mit Saul fia von László Nemes Probleme hatte. Unabhängig davon, ob Dvortsevoy von Nemes inspiriert wurde oder nicht: Zwischen dessen Holocaust-Höllenritt und Ayka gibt es Parallelen. Die hypersubjektive Perspektive, der beengende Klammergriff der Kamera, die dumpfe Zielstrebigkeit der Hauptfigur, ihr rastloser Parcours durch eine Umwelt, die freilich nicht mit Ausschwitz verglichen werden kann, aber doch infernalische, alptraumhafte Züge trägt. Nemes versucht sich in Saul fia an der Vorstellung eines Orts, den sich das Kino in dieser Form vielleicht gar nicht vorstellen sollte, nähert sich seiner Annäherung über andere Annäherungen, und sichert sich permanent ab, indem er den Meta-Diskurs über filmische Holocaust-Figurationen in sein Narrativ einwebt. Sein Film, der viszeral und immersiv sein will (ohnehin schon streitbar in diesem Kontext), bekommt dadurch ironischerweise etwas Akademisches, Künstliches, auch seltsam Angeberisches. Vieles wirkt gesetzt, alle Gesten, die etwas bedeuten wollen, sind als solche erkennbar, besonders das Schlussbild. Ob Nemes mit den Zielen, die er sich gesteckt hat, einen besseren Film hätte machen können, sei dahingestellt.
Ayka hingegen erzählt von einer Welt, die Dvortsevoy zwar nicht selbst erfahren, aber fraglos selbst gesehen hat. Er bedient sich ähnlicher Mittel wie Nemes, doch es gibt keinen doppelten Boden: Der Film zeigt uns das, was er uns zeigen will, über weite Strecken mit unverblümter Direktheit – selbst das, was im Off bleibt. Trotzdem verweist er über die Spezifizität seiner Geschichte und seiner Bilder hinaus, ohne sich damit aufzudrängen. Ayka, eindringlich verkörpert von Samal Esljamova, ist singulär, konkret, nur sie und niemand sonst – aber auch ein pars pro toto. Und ihr Spießrutenlauf ist zweifelsohne der einer in Moskau ums Überleben kämpfenden Kirgisin – aber er handelt auch von allgemeinen Zuspitzungstendenzen der Gegenwart. Wenn man will (man muss natürlich nicht wollen), dann ist Ayka auch ein Film über Cannes. So oder so: Wenn die Titelheldin am Ende zusammenbricht, tut sie das nicht, weil der Filmemacher es so haben will, sondern weil es ganz einfach nicht anders geht.