Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

The Song of the Sea von Tomm Moore

Filmfest Hamburg Diary: Tag 7: The Song of Saul

„Ham­burg ist nicht nur eine Stadt, Ham­burg ist eine Ein­stel­lung.“ – Some ran­dom guy

Der Deut­sche ist als pünkt­li­cher Mensch bekannt (man möch­te sagen «ver­schrien»). Das ist prin­zi­pi­ell eine durch­aus löb­li­che Eigen­schaft, doch treibt sie hier recht selt­sa­me Blü­ten. Zwar schät­ze ich es, wenn nicht Ver­spä­tun­gen mei­ne sorg­fäl­tig getak­te­ten Plä­ne über den Hau­fen wer­fe, doch einen Film gar mehr als fünf Minu­ten vor ange­kün­dig­tem Beginn anlau­fen zu las­sen, schießt dann doch etwas über das Ziel hin­aus. So waren gera­de die ers­ten Sekun­den aus Saul fia zu sehen, als ich pünkt­lich um 16:55 zur 17-Uhr-Vor­stel­lung in den abge­dun­kel­ten Kino­saal trat. Nicht nur, dass das für mich per­sön­lich sehr ärger­lich war, die Anzahl der Zuspät­kom­men­den (die es immer gibt) erhöh­te sich dadurch beträcht­lich (genau genom­men, kamen sie, wie ich auch, gar nicht zu spät) und die ers­ten fünf­zehn Minu­ten im Saal waren dem­entspre­chend unruhig.

Son of Saul von László Nemes
Saul fia von László Nemes

Saul fia wur­de seit sei­nem Erschei­nen, wahr­schein­lich zu Recht, von eini­gen Sei­ten für sei­ne markt­schreie­ri­sche Ästhe­tik und sei­ne Behand­lung der heik­len Holo­caust-The­ma­tik kri­ti­siert. Saul fia ist auf kei­nen Fall ein Meis­ter­werk, Fil­me­ma­cher wie Alain Res­nais oder Clau­de Lanz­mann haben sich des The­mas auf eine Art und Wei­se ange­nom­men, die László Nemes nicht erreicht. Soll­te man ange­sichts die­ser gewich­ti­gen Vor­ar­beit damit auf­hö­ren, den Holo­caust fil­misch zu ver­ar­bei­ten? An man­chen Stel­len wirkt der Film ohne Zwei­fel wie „ein Kon­zept­film, der nicht an sei­nem Kon­zept inter­es­siert ist, son­dern am Effekt die­ses Kon­zepts“, wie Patrick es for­mu­liert hat. Was Nemes unter­nimmt ist gewagt und sei­ne Moti­ve sind alles ande­re als klar, doch unge­ach­tet des­sen ist Saul fia eine span­nen­de Grat­wan­de­rung zwi­schen Mensch­lich­keit und Unmensch­lich­keit, die nicht immer gelingt, aber es trotz aller Zwei­fel ver­mag, drän­gen­de Fra­gen auf­zu­wer­fen. Der Film ist ein Schmelz­tie­gel aus mora­li­schen Fra­gen über Reli­gi­on, Fami­lie, Gewalt und Krieg; alle die­se Fra­gen wer­den an der Figur des Saul Aus­län­der durch­ex­er­ziert, der als Platz­hal­ter und Iden­ti­fi­ka­ti­ons­ob­jekt fun­giert. In der rest­li­chen Insze­nie­rung mag sich Nemes um Rea­lis­mus bemü­hen, Saul Aus­län­der ist der auf­ge­setz­te Kata­ly­sa­tor, den man ent­we­der akzep­tiert, oder auch nicht. Er erlaubt es Nemes, sich rela­tiv frei durch das KZ-Set­ting zu bewe­gen und den­noch einen Fokus­punkt zu behal­ten. Die Lei­chen­ber­ge zeigt er nur ver­schwom­men, und ver­traut dabei auf ein kul­tu­rel­les Gedächt­nis, das mit die­sen Bil­dern gesät­tigt ist, POVs setzt er dann ein, wenn Saul aus sei­ner Rol­le als Platz­hal­ter fällt und als Mensch auf­tritt: wenn er sei­nen toten Sohn ent­deckt, wenn er den jun­gen im Wald anlä­chelt. Klar hat das auch mit einer gestei­ger­ten emo­tio­na­len Bezug­nah­me zu tun, aber Saul fia geht weit dar­über hin­aus, den Holo­caust nur emo­tio­nal greif­bar zu machen (ergrif­fen wird man davon rela­tiv schnell – das schaff­te sogar Rober­to Benig­ni), son­dern unter­nimmt den Ver­such ihn intel­lek­tu­ell fass­bar zu machen. Das schafft er zuge­ge­be­ner­ma­ßen nur stel­len­wei­se, aber er ver­sucht es auf eine muti­ge und ande­re Art und Wei­se, wes­halb ich dem Film im Gegen­satz zu Patrick eini­ges abge­win­nen konnte.

The Song of the Sea von Tomm Moore
The Song of the Sea von Tomm Moore

Die Ver­tei­di­gung von Saul fia liegt mir weni­ger am Her­zen, als über den wun­der­ba­ren Song of the Sea zu schrei­ben. Der Film stammt aus der Feder des Iren Tomm Moo­re, der, wie schon in sei­nem letz­ten Film The Secret of Kells, sei­ne Qua­li­tä­ten als Geschich­ten­er­zäh­ler beweist. Wie die meis­ten gro­ßen Ani­ma­ti­ons­fil­mer, ver­mag es Moo­re sich gleich­zei­tig an ein kind­li­ches und erwach­se­nes Publi­kum zu rich­ten. Sou­ve­rän berei­tet er die kom­ple­xe kel­ti­sche Sagen­welt auf. Das kommt nicht nur den Kin­dern zugu­te, son­dern auch jenen Zuse­hern, die nicht mit die­ser Kul­tur ver­traut sind. Moo­re kommt dabei zugu­te, dass sich phan­tas­ti­sche und tra­gi­sche Ele­men­te in die­sen Mythen von vorn­her­ein die Waa­ge hal­ten. Die­se Ele­men­te struk­tu­riert Moo­re um die Figur des Ben. Er ist der Sohn des Leucht­turm­wär­ters Conor und seit dem Ver­schwin­den sei­ner Mut­ter vor sechs Jah­ren etwas ver­lo­ren. Sei­nen Vater hat die­ser Ver­lust denk­bar schwer getrof­fen und er ver­hält sich seit­her abwe­send und zeigt mehr Zunei­gung für sei­ne Toch­ter Sai­or­se, die der Mut­ter wie aus dem Gesicht geschnit­ten ist. Als die bei­den Geschwis­ter just zu Hal­lo­ween zu ihrer Groß­mutter zie­hen und Ben sei­nen gelieb­ten Hund Cú zurück­las­sen muss, zer­fällt sei­ne hei­le, wenn auch brü­chi­ge Welt end­gül­tig zu einem Scher­ben­hau­fen. Er will nach Hau­se zurück­keh­ren, sieht sich aber schon bald mit weit grö­ße­ren Pro­ble­men kon­fron­tiert, denn es stellt sich her­aus, dass sei­ne Schwes­ter (wie auch sei­ne Mut­ter), eine Sel­kie ist, der es obliegt eine böse Eulen­he­xe zu stop­pen, die magi­schen Krea­tu­ren ihre Gefüh­le ent­zieht und sie zu Stein ver­wan­delt. Ben ist durch die Geschich­ten sei­ner Mut­ter gut mit den Prot­ago­nis­ten der Sagen­welt ver­traut, spä­tes­tens zu die­sem Zeit­punkt, wird Sai­or­se zum eigent­li­chen Zen­trum der Hand­lung. Der Film nimmt hier eine düs­te­re Wen­dung, die anfäng­li­che kind­li­che Unzu­frie­den­heit mit der Groß­mutter und die Angst vor dem Ver­las­sen des Zuhau­ses wird durch weit grö­ße­re Gefah­ren rela­ti­viert. Die schrof­fe Sze­ne­rie der iri­schen Küs­te frei­lich, sorg­te schon von Beginn an für eine bedroh­li­che Atmo­sphä­re. Viel obliegt in einem Film die­ser Art dem Zei­chen­stil. Moo­re löst dabei die wil­de und unge­bän­dig­te Land­schaft in vor­wie­gend run­den, wei­chen For­men auf. Der Kon­trast zwi­schen Bedro­hung und Gebor­gen­heit, sowie dem Frem­den und der Fami­lie dient als Leit­mo­tiv, dass sich inhalt­lich wie for­mal durch den Film zieht. The Song of the Sea ist zugleich bedrü­cken­der Gru­sel­film, wie herz­er­wär­men­des Fami­li­en­dra­ma. Ein Film, der nicht auf Schock- und Spek­ta­kel­wert abzielt, um Kin­der (und Erwach­se­ne) zu unter­hal­ten, son­dern eine Gefühls­welt schafft, mit der sie sich iden­ti­fi­zie­ren kön­nen und die sie auf posi­ti­ve Art und Wei­se mit unan­ge­neh­men Fra­gen konfrontiert.