Text: Leonard Krähmer
Kleine und große Fluchten ziehen sich durch diesen Film. In Paris wird in fremden Betten geschlafen; die einsamen Küsten der Normandie versprechen Zuflucht vor eifersüchtigen Ehemännern; die Korrespondenten in der Pariser Zeitungsredaktion sind aus der Ferne für China, Mexiko und andere entlegene Weltregionen zuständig. Ins afrikanische Exil entsendet Pierre, der Chefredakteur der Nouvelles Hebdo, in Ungnade gefallene Untergebene. Einer kehrt zurück und mit ihm ein Stück dunkle Vergangenheit: Alex, der mit Anne verheiratet ist, was der Film erst sehr spät preisgibt und damit durcheinanderbringt, was ohnehin nur dem Anschein nach geordnet war. Anne lebt nun mit Pierre zusammen, geht aber mit Franz Fischer fremd (sein Name fällt oft; wie überhaupt alle Männer in dieser Ménage-à-mindestens-trois, wohin sie auch kommen, ständig nach Anne rufen, meist ohne Antwort), der auch in der Redaktion arbeitet, aber nicht weiß, ob seine Profession Reporter oder doch Schriftsteller ist. Welche Sorte Bücher er schreibt, bleibt vage – der neue Roman jedenfalls soll zunächst Voyage du cœur, dann Musique du feu heißen. In seiner Privatwohnung wird er in der zweiten Szene des Films von einem Journalisten interviewt, der den Lehrerberuf an den Nagel gehängt hat, weil er von den Kindern nicht genug lernen konnte. Schon davor, in der ersten Einstellung des Films, ist Franz Fischer aufgewacht, neben ihm im Bett liegt eine blonde Frau, aber nicht Anne, sondern Constance. Die Szene wiederholt sich später im Film, wie gespiegelt (ein Film voller Spiegel!), dann liegt tatsächlich Anne neben ihm. Er erzählt einen bemerkenswert unspektakulären Traum, aus dem er sanft erwacht sei. Auch der Film ist von somnambuler Unbestimmtheit, ins Zwielicht gehüllt.
Chasse Gardée von Jean-Claude Biette macht es einem nicht leicht, seiner Handlung zu folgen. Was nicht tragisch wäre, aber mir scheint, dass es dem Film sehr wohl aufs Erzählen ankommt. Um ein konventionelles (Genre-)Gerüst zum Einsturz zu bringen – darauf kommt es ihm in letzter Instanz wohl eher an – braucht es schließlich zuerst ein Gerüst. Offenbar soll man sich das eigenhändig zusammensetzen aus den unzähligen Verweisen, die einen literarisch-intellektuellen Überbau suggerieren. Anne probt ein Theaterstück von Racine (natürlich darf das Theater bei Biette nicht fehlen), Jeanne d’Arc und Shakespeare tauchen nicht nur prominent in Dialogen auf, stilistisch steht der Film Noir Pate.
Wer hier nicht durchsteigt, bleibt außen vor. Das Jagdgebiet ist gut abgesteckt, verwehrt Unbefugten, also unzureichend Belesenen, den Zutritt. Was aus dem Inneren nach außen dringt, ist die mit Verrat und Intrigen angereicherte Luft, die diese Bilder atmen; sogar ein ominöser Geist suche das Hotel in der Normandie heim, heißt es einmal. „Bevor der Schnee fällt“, liest Constance aus einem Manuskriptfragment ihres Liebhabers in gebrochenem Deutsch vor. Auch die Kälte der Bilder wird spürbar, sie hängt in der zu großen Übergangsjacke von Rüdiger Vogler, im Wind am Strand, in den Dialogen und Blicken, die mit wenig Humor und viel melodramatischer Gravitas auskommen. Unzugänglichkeit hat auch eine andere Seite, sie betrifft Biettes Werk im Allgemeinen, aber Chasse Gardée im Speziellen: Der Film liegt mir in äußerst fragwürdiger Qualität vor, die vielleicht mehr als nötig im Unklaren lässt. Ich fische nicht nur metaphorisch im Trüben. Am unteren Bildrand wabern schemenhaft Spuren eines VHS-Digitalisats in Regenbogenfarben. Was sich im Hintergrund oder in der Bildtiefe abspielt, entzieht sich meinen Augen weitgehend. Ein Sonnenuntergang sieht plötzlich aus, wie von William Turner gemalt (Jacques Tourneur gehört übrigens auch zum Referenzkatalog), aber das Meer könnte genauso gut eine Wüste sein.
Vielleicht ist diese prekäre Form des Sehens für einen Film, der vor sich selbst zu fliehen scheint wie seine Figuren voreinander, genau richtig. Einmal jedoch kommen sie zusammen, zum Diner – es wird überhaupt viel gegessen und gekocht, nur selten gemeinsam. Dankenswerterweise ist das nah gefilmt, die Gesichter einzeln im Bildrahmen isoliert, sie prosten einander zu, die Blicke und schwertgewordenen Gläser kreuzen sich, während die Montage munter mitkreuzt, als imitiere sie das allseitige Misstrauen im Raum. Das Tischgespräch plätschert banal vor sich hin und ist doch hochgradig symbolisch aufgeladen: „Es wird Zeit, sich die Finger schmutzig zu machen.“ Später meint Franz, der die ganze Zeit redet, Worte spielten eigentlich keine Rolle, nein, Gesichter müsse man lesen. Weder mir noch den Figuren will das so richtig gelingen. Deswegen wirft man sich vor, in Rätseln zu sprechen. Und nachdem kurz vor Ende ein Schuss fällt – spätestens jetzt sind die Finger schmutzig, obwohl niemand verletzt wird –, bleibt ein Shakespeare-Zitat lakonisch im Raum stehen: Viel Lärm um Nichts?