Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Das Gewicht der Bilder: Uski Roti von Mani Kaul

Uski Roti von Mani Kaul gehört zu den größten Filmen über das Warten. Der erste Spielfilm des indischen Filmemachers hebt das Gefüge der äußeren Welt in eine betörende und vernichtende Möglichkeitsform, die zwischen zwei unterschiedlichen Objektiven (28mm und 135mm) eine Ambiguität erzeugt, die das Warten einer Ehefrau auf ihren Mann, der als Busfahrer arbeitet, an einer Haltestelle, als Rückbild einer gescheiterten Beziehung, patriarchalen Struktur, Gewalt, Verzweiflung, Sehnsucht, als gesellschaftliches Drama und inneres Delirium zugleich greifbar macht.

Zerbrechlichkeit: es gibt Filme, deren Bilder sind abgesichert, festgezurrt wie ein Kindersitz im Auto und es gibt Filme, bei denen spürt man, dass es die Bilder auch nicht geben könnte (so wie in der Liebe, in der gilt: je intensiver der Augenblick desto stärker die Angst, ihn zu verlieren). Uski Roti gehört zu zweiter Kategorie. Ohne diese oder jene Geste, dieses Wort, diesen Blick wäre all das nicht passiert. Darum könnte es in Filmen gehen: um alles.

Gewicht: jeder Blick, jede Bewegung zählt. Man entscheidet sich, etwas zu zeigen oder es nicht zu zeigen. Ob man aus dem Bild geht oder im Bild bleibt, kann über Leben und Tod entscheiden. Wenn man ein Bild wieder sieht, ist etwas passiert, wenn man etwas nicht sieht, entsteht Druck an den Rändern des Bildes. Alle Bilder enthalten ein Geheimnis, alle Bilder existieren für sich selbst und nicht nur in einem fortlaufenden Strom. Wenn Bilder miteinander sprechen, dann, weil sie beide als Bilder ganz und gar existieren. Kein Bild möchte uns etwas erzählen oder verkaufen, alle Bilder des Films möchten etwas zeigen.

Hände: manchmal wird alles mit Händen erzählt, wir blicken zu wenig auf die Hände, wir bewegen sie nur ständig wie unfreiwillige Motoren; was aber, wenn die Motoren aussetzen, wenn es kurz kein Pflücken, Nähen, Essen gibt? Wenn die Hand ruht, ist das bei Mani Kaul als würde das Herz aussetzen. Der Vergleich mit Bresson wurde nicht nur von ihm bemüht. Kaul schwenkt vom Gesicht eines Menschen zu den Händen, als würde er von einem Baum zum gefallenen Laub schwenken. Dann gibt es aber auch Hände, die Körper berühren. Übergriffige, bedrohliche Männerhände auf schmalen Frauenschultern. Hände, die Geld und Schnaps halten, Hände, die jederzeit zuschlagen könnten. Die Kraft von Händen liegt darin, dass sie zu allem fähig sind. Es gibt Filme, in denen Hände ins Bild reichen, als würden sie darauf warten, dass wir ihnen etwas geben.

Augen: sie geben zugleich vor, wohin man blickt (oder blicken möchte) als auch, was in den Blickenden geschieht. Wie bei Katzen in der Nacht spricht aus ihnen zugleich das Feuer eines möglichen Angriffs wie auch die Angst verletzt zu werden. Wenn Augen zittern könnten, würden sie es in diesem Film tun. Sie tun es, ich habe es gesehen.

Dunkelheit: manches sieht man nicht, weil es sich abwendet, weil es nicht erzählt werden kann. Die Figuren drehen sich dann in die Dunkelheit, als wäre sie das bildliche Pendant des Schweigens. Der Ton kommt aus der Nacht des Bildes, er macht sichtbar, was man nicht sehen kann. Man fragt sich, wie man überhaupt Filme ertragen kann, die von Tagen erzählen, wenn doch alles in der Nacht geschieht (auch bei Tag kann es wie Nacht sein im Kino).

Warten: Kaul interessiert sich für die Erfahrung von vergehender Zeit. Was gleichzeitig passiert, was gleichzeitig passieren könnte, was davor und danach passierte, was passieren würde, wenn die Zeit endete. Es gibt Filme über den Anfang der Zeit (sie betonen die Bedeutung von Zeit; Countdowns, tickende Uhren,…) und Filme über das Ende der Zeit (solche, in denen wir nicht mehr wissen, was Zeit ist). Uski Roti gehört zu zweiter Kategorie. Das Warten wird von nichts bedeckt, es ist ganz nackt. Alles setzt dabei aus und für wenige Momente, die dieser Film zeigt, wird etwas sichtbar, das man kaum beschreiben kann: das, was hinter der Zeit liegt, unter der man sich normal jeden Tag begräbt.