Die Vittorio De Sica-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum ist bereits im vollen Gange und wir werden bei Jugend ohne Film wieder ein genaueres Auge darauf werfen. Es wird nicht nur eine Auswahl der Regiearbeiten des italienischen Filmemachers, sondern auch viele seiner Schauspielauftritte gezeigt. Denn in erster Linie war De Sica ein Schauspieler, eine Kultfigur, der als oberflächlich charmanter, augenzwinkernder Taugenichts die Herzen der Frauen eroberte. Miracolo a Milano ist jedoch einer seiner großen, wenn auch (wie vieles von De Sica) etwas vergessenen Filme. Ein Film, der ziemlich deutlich zeigt, dass man De Sica mit dem einfachen Label des Neorealismus nicht besonders nahekommen wird. Denn der Film ist ein katholisches Fantasymärchen, eine humanistisch-linke Metapher für einen Klassenkampf, ein Experiment bezüglich der Ästhetisierung von Armut, ein Unterhaltungsfilm und ein sozialrealistisches Drama.
Der Film basiert auf Totò il Buono, einem Roman des langjährigen Kollaborateurs von De Sica, Cesare Zavattini, der selbstverständlich auch das Drehbuch schrieb. Im Kern schlägt derart heftig der Humanismus, dass man ihn manchmal mit einer verklärten Puderzuckerhaltung verwechseln könnte. Es geht um Totò, der als kleiner Junge in einem Salatfeld gefunden wird und nach dem Tod seiner Ziehmutter in ein Waisenhaus gebracht wird. Als er dieses verlässt, besteht für ihn das ganze Leben aus Fröhlichkeit. Wie ein unter Drogen stehender Engel läuft er durch die verdreckte Wohnungsknappheit seines Landes. Trotz des betont metaphorisch, lockeren Tons erinnert hier noch vieles an den Neorealismus seines Ladri di biciclette oder Sciuscià. Es sind Schwenks und Parallelfahrten durch die Armut hindurch. Das Casting ist außerordentlich, denn all diese Gesichter sind wahre Gesichter, sie erzählen zwischen all der Lockerheit von existenziellen Dramen. Ihr Lächeln weint, ihre Körper schreien und ihre Augen beten. Mit Totalen fängt De Sica immer wieder den Menschen vor seinem sozialen Hintergrund ein. Doch schon bald setzen immer mehr Fantasyelemente in die Handlung ein. Totò landet mit all seinem Optimismus in einer Barackensiedlung vor Mailand. Er freundet sich mit all den Vergessenen und Verlorenen an und strukturiert das Leben dort, sodass die Heimat der Armut sich in ein rauschendes Fest des Glücks verwandelt. Zunächst sind die Fantasyelemente subtil, ein magischer Realismus, der sich in kurzen Augenblicken offenbart. Er findet sich in Sonnenstrahlen, die nur an bestimmten Stellen Wärme spenden, an einem zu dünnen Mann, der von Luftballons weggetragen wird und immer wieder auch in der Haltung von Totò selbst, der mehr ein biblischer Heiliger ist als eine realistische Figur. Dann wird auch noch Öl unter der Erde gefunden.
Dieses Öl sprießt wie Fontänen des fließenden Glücks in den Rausch der Bewohner der Vorstadt. Doch ein gieriger Politiker stellt sich in den Weg der Bewohner, die immer wieder betonen, dass sie eigentlich nur einen Ort zum Wohnen brauchen. Denken sie überhaupt an das Geld und die Bedeutung des Öls? Er kommt mit einem großen Aufgebot und profitiert auch von einem Verräter in den Reihen der Barackensiedlung. Es beginnt ein absurder Krieg, der an die Asterix-Comics erinnert, denn in Form einer magischen Taube, die Totò von seiner Großmutter aus dem Himmel bekommt, verfügen die Armen über ihren ganz eigenen Zaubertrank, der es dem Staat lange Zeit unmöglich macht, in die Siedlung einzudringen. Der Film geht sehr weit in seiner Metaphorik, die De Sica kaum versteckt. Ganz im Gegenteil, er kann seine Botschaften gar nicht deutlich genug loswerden. Er selbst hat geäußert, dass der Film für ihn ein bloßes humanistisches Märchen gewesen sei, ohne jegliche politische Haltung oder Botschaft. Das mag man ihm sogar glauben, aber so sehr er sich bemühen würde, auch er könnte keinen nicht-politischen Film drehen. Zudem gibt es auch humanistische Botschaften, die man subtiler und filmischer erzählen kann als dadurch, dass die Hauptfigur die Schwächen der Kranken oder Kleinen imitiert, um ihnen zu sagen, dass sie alle gleich sind. Der Kollektivgedanke, der vom Film nur an zwei Stellen durchbrochen wird, wirkt zudem aus heutiger Sicht überholt. Einzig in einem weinenden Polizisten und dem einen und wie so oft bei De Sica exemplarischen Verräter finden sich gegen den Strom schwimmende Geister, die es dort viel häufiger geben müsste, um etwas vom Leben zu erzählen. Nun wollte De Sica nicht unbedingt einen realistischen Film machen, aber er hat den Realismus nicht genug aus seiner Sentimentalität entfernt, um Miracolo a Milano als reine Fantasie zu sehen.
Zu den besonderen Momenten im Film gehören neben der äußerst präzisen und manchmal extravaganten Inszenierung jene kleinen Beobachtungen am Rand, wie ein älterer Mann, der sich nicht eingestehen kann, dass er in der Lotterie gewonnen hat oder ein kleines Kind, das an einem Seil befestigt, als Türglocke herhalten muss. Die Lebendigkeit und die Aufbruchsstimmung, die De Sica durch seinen Wechsel aus schnellen Fahrten und Bewegung im Bild herstellt, sind beeindruckend. Dabei bleibt die Kamera immer ganz nah an den Bewegungen der Figuren. Sie bewegt sich nie von sich aus und dadurch entsteht ein Gefühl, das uns in das Geschehen mitnimmt statt darauf zu blicken, Dadurch fehlt natürlich auch eine Distanz, die uns diesen illusionierenden Blick als solchen offenbart. Stattdessen geht es um das reine Spektakel, das sich zwischen der Realität und der Fantasie bewegt. Neben Jean Vigo, René Clair, Jia Zhang-ke und Charlie Chaplin gibt es wenige Regisseure, die sich derart mutig in diese Ästhetik einer Dazwischenheit gewagt haben. Allerdings fehlt De Sica zu den genannten Vorbildern Bescheidenheit. Bei ihm entstehen die Fantasie und der Humanismus nicht aus der filmischen Realität. Vielmehr drückt er ihn auf und durch jede Szene hindurch, damit jeder versteht, was er da macht. So vermag Miracolo a Milano uns kaum zu berühren. De Sica bewegt sich hier in einer abstrakten Welt, die viele mit der Realität verwechseln und in einer realen Welt, die völlig abstrakt scheint.