Text: Leonard Geisler
Es beginnt mit einer britischen Fernsehdoku über Buster Keaton. Ich lerne, dass es den Kameramännern Keatons strikt verboten war, eine Einstellung ohne sein ausdrückliches „Cut!“ zu beenden. Das Schiefgehen der Einstellung verheißt schließlich eben die Überraschung, das Aufreißen des Realen, das der Slapstick durch kleinteilige Kalkulation zu erschwitzen sucht. In einem inzwischen weltberühmten Gag aus The Three Ages klappt Keaton den hölzernen Verschluss einer Dachluke um, sodass diese über den Rand der Hausfassade ragt und er sie als Sprungbrett nutzen kann, um auf das gegenüberliegende Dach zu gelangen. Der Film dokumentiert die winzigen Passanten im Hintergrund der Szenerie, altmodische Autos auf der nicht geblockten Straße, die Kürze von Keatons Sprung, sein Aufschlagen an der gegenüberliegenden Hausfassade, seinen fehlenden Halt, seinen Sturz in den Abgrund, hinaus aus dem Bildrahmen – hinein in das im Off aufgespannte Sicherheitsnetz.
Keaton integrierte den gescheiterten Sprung in seinen Film und schrieb das Drehbuch um. In der filmischen Erzählung erreicht seine Figur das gegenüberliegende Dach nie. Stattdessen folgen wir ihrem Fall, dem Schiefgehen der Einstellung, und den daraus abgeleiteten Kuriositäten. Komödie bedeutete für Keaton: physische Aktion, die Wunder der Kausalität. Ein weiteres Beispiel für sein Insistieren auf die beständige und dokumentarisch festgehaltene Reibung des produktionstechnischen Plans mit dem Rohmaterial der Wirklichkeit findet sich in The General. Keatons Figur stürzt in den Truckee River und wird von den Stromschnellen fortgerissen. Für diesen Stunt war ein Draht an seinem Rücken befestigt – zu seiner eigenen Sicherheit und um seine Geschwindigkeit für die Kameraschwenks zu regulieren. Der Film dokumentiert das Reißen des Drahts, das plötzliche Fortgespültwerden des Körpers entlang der emporragenden Felsen, die Ahnung von Panik in Keatons Mimik, das Rascheln der Blätter und den Gleichmut der Natur angesichts individueller Tragödien.
Keatons Produktionsapparat war darauf ausgelegt, für den Gewinn eines flüchtigen Blicks auf die Wirklichkeit, eine Wette auf die Versehrtheit seines Köpers abzuschließen. Daher konnte nur Keaton selbst der Hauptdarsteller seiner Filme sein. Ein Leben lässt sich nur herschenken, niemals einfordern. In der britischen Dokumentation berichtet ein Weggefährte Keatons, wie er ihn fragte: „But weren’t you ever hurt in any of these things?“ Keatons Antwort: „Oh, all the time. You see this thing here at the top of my head? Well, I got that from Seven Chances. [zieht die Hose hoch] You see this thing on my leg, you see this scar here? You know I got that one from Sherlock Jr. You see this one here? [zieht das Hemd hoch] Well, I got that from Battling Buttler. It was something from every film on his body.”
Nicht viel später schaue ich ein Video von Jackie Chan in einer Talkshow. Er begrüßt die Interviewerin, macht etwas Smalltalk, zeigt ein, zwei Kampfsportgesten. Schließlich wird ein Skelett auf Rollen ins Bild gezogen. Etwa ein Dutzend Stücke pinkfarbenes Tape markieren dort die major injuries seiner Filmkarriere. Chan begutachtet das Skelett und korrigiert die Verortung eines schweren Knochenbruchs, den er sich nicht auf der linken, sondern der rechten Schädelseite zugezogen habe. Einige Jahre später fordert Chan den Talkshow-Moderator Conan O’Brien auf, eben dieses Loch in seinem Kopf zu berühren, das er sich in Jugoslawien beim Dreh von Armour of God zuzog. Der Ast eines Baums brach durch, Chan stürzte fünf Meter in die Tiefe, schlug mit dem Kopf auf einem Stein auf und ein Stückchen Knochen bohrte sich in seine Hirnmasse.
In den Filmcredits findet sich, wie in zahlreichen Filmen Chans, das Bildmaterial seiner schiefgegangenen Stunts. Der Film dokumentiert Chans Sprung, das Durchbrechen zweier Äste, die strahlende Sonne, sein Fallen, den Schreck des Kameramanns, der das Objektiv ruckartig zum Waldboden neigt und davoneilt. Es folgen dokumentarische Bilder von Chan im Halb-Bewusstsein auf einer Bahre, einen weißen Verband ans rechte Ohr gedrückt, um das Austreten des Blutes zu stoppen, die besorgten Gesichter seiner Crew. Dann wieder Chan, regungslos, die Augen geschlossen, nun durch das verdunkelte Fensterglas eines davonfahrenden Vans, ein bisschen wie bei Schneewittchen. Der Mensch, der die Bilder dokumentierte, nahm in Kauf, einen Sterbenden zu filmen, ebenso wie die Kameramänner es taten, als sie 60 Jahre zuvor den davontreibenden Keaton im Truckee River aufzeichneten. Als Chan 2016 den Ehrenoscar für sein Lebenswerk entgegennimmt, schließt er seine Dankesrede mit folgenden Worten: „After 56 years of filmindustry, making more than 200 films – I break so many bones – finally, this is mine.“
Ich erinnere mich an einen weiteren Talkshow-Auftritt: Tom Cruise, Rebecca Ferguson, Henry Cavill und Simon Pegg werben für Mission: Impossible – Fallout. Das Gespräch beginnt damit, dass Cruise erklärt, sein rechtes Fußgelenk sei noch immer gebrochen, aber dass er dennoch, trotz des Arbeitsunfalls, stoisch weiterdrehe: „We have a release date, so we gotta keep going.“ Anschließend wird der schiefgegangene Stunt aus drei Kameraperspektiven auf den Monitoren des Talkshow-Studios abgespielt. Zuerst eine Kamerafahrt, die Cruise dabei folgt, über das Dach eines sich im Bau befindlichen Hochhauses zu rennen, über einen Abgrund auf das gegenüberliegende Häuserdach zu springen und mit dem Oberkörper an der Kante des Dachs aufzuschlagen. Das Publikum im Studio stöhnt auf, als es sich der Höhe des Sprungs gewahr wird. Die zweite Einstellung, eine Totale, zeigt denselben Stunt im Profil. Als Cruise aus dieser Perspektive auf der Dachkante aufschlägt, ist das Kreischen etwas schriller. Daraufhin warnt der Moderator das Publikum, dass das folgende Material nichts für schwache Gemüter sei: „I mean a bone doesn’t pop out, but it’s an odd angle for anyone’s foot to be in.” Es handelt sich um einen vergrößerten Bildausschnitt der Totalen, die stockend – Bild für Bild – zeigt, wie Cruises rechter Fuß vollständig an der Hauswand aufsetzt als wäre sie der Bürgersteig, das Gewicht seines Körpers seinen Fuß an die Wand drückt und das Gelenk überdehnt, sodass seine Fußspitze beinah sein Schienbein berührt.
Das Publikum stöhnt, kreischt und lacht. Rebecca Ferguson ruft dem Moderator zu: „Do it again.“ Die dritte Kameraperspektive wird schließlich mit den Worten angekündigt: „Here is why Tom Cruise is payed the big bucks.” In der Frontalperspektive des gegenüberliegenden Dachs sehen wir, wie Cruise auf die Kamera zugeflogen kommt, an der Dachkante aufschlägt, können an seiner schmerzverzerrten Mimik den Moment des Gelenkbruches ablesen, und sehen, wie er sich dennoch aufs Dach zieht und an der Kamera vorbeihumpelt. Der Gelenkbruch hat es letztendlich in den Film geschafft.
Das seltsame Muster der Verhaltensweisen von Keaton, Chan und Cruise wirft die Frage auf, weshalb der Actionstar geneigt ist, sich mit seiner Selbstverstümmelung zu brüsten. Die Antwort findet sich in der filmischen Funktion des Stunts, der gleichzeitig drei verschiedenartige Zwecke verfolgt. Erstens generiert der Stunt in seinem Verweisen auf die Physik den Effekt des Dokumentarischen. Er ist für den Actionfilm, was der Samenerguss für den Porno ist: ein Rest körperlicher Wirklichkeit im künstlichen Ganzen. Zweitens rechtfertigt er die soziale Ordnung insofern er belegt, dass die Filmstars auch wirklich arbeiten, körperlich arbeiten, ihren Körper verpfänden an die Industrie. Das gebrochene Fußgelenk attestiert Cruises Recht auf die big bucks. Es erinnert an die rumänischen Menschen der Arbeiterklasse in Radu Judes Do Not Expect Too Much from the End of the World, denen von einem österreichischen Unternehmen 500 Euro dafür in Aussicht gestellt werden, die Verletzungen und Langzeitfolgen ihrer Arbeitsunfälle für einen Aufklärungsfilm zur Arbeitssicherheit filmen zu lassen. Auch der Actionstar lässt die Malträtierung seines Körpers für (sehr viel) Geld filmen und reiht sich ihnen so scheinbar ein. Drittens zahlt das Publikum dem Actionstar seine trotz allen Anstrengungen nicht wegzuleugnende Differenz dadurch zurück, dass es sich zumindest an der Sichtbarkeit seiner Arbeit ergötzt. Der Actionstar sieht dies ein und akzeptiert sein Martyrium.