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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Der Sessel im Gartenbaukino

Gartenbaukino, innen / Detailaufnahme von gepolsterten Kino-Klappsesseln (Lucca Chmel / Robert Kotas, 1961) Quelle: ÖNB, Bildarchiv Austria, CHM 2338.

Man kennt ihn. Nach einer halben Stunde, also etwa nach Ende des ersten Aktes, macht er sich bemerkbar. Manchmal aber auch schon direkt nachdem man Platz genommen hat. Jedenfalls immer dann, wenn man es sich gerade richtig gemütlich machen will. Ein hölzerner oder vielleicht stählerner Balken drückt sich allmählich durch das Polster auf den Rücken, während gleichzeitig die Knie davor an die Rückwand des vorderen Stoßen. Das alles, nachdem der Kampf um die Armlehne befriedet wurde. Mit ein wenig Glück hat man freie Sicht. Meistens jedoch verdeckt ein Hinterkopf einen nicht unwesentlichen Teil des Bildes. Wenig später schafft es noch ein Nachzügler in den Saal. Missmutig erhebt sich eine Gruppe, von zehn Personen. Eine unruhige Mischung aus Peinlichkeit und Empörung macht sich breit. Doch bald sind die Wogen wieder besänftigt. Irgendwie gehört das ja auch dazu.

Das letzte Mal als ich das Vergnügen mit den Sesseln des Gartenbaukinos hatte, liegt schon ein paar Monate zurück. Ich sah mir den neuen Film von Hong Sang-soo, Domangchin yeoja während der Viennale an. Es war eine Spätvorstellung und ich hatte an diesem Tag gearbeitet, war also entsprechend müde. Dankbarer Weise ließen mich der Sessel nicht schlafen, vielleicht war es aber auch der Kaffee, den ich zuvor noch trank. Der Saal war nahezu leer, geradezu ausgebrannt. Er vermittelte den Eindruck, als hätte auch er unter den Strapazen des Festivals gelitten. Die vielen Menschen, die mir noch im Foyer entgegen strömten, hatten ihren Abdruck hinterlassen. Sang-soos Film endete im Kino. Es war ebenso leer, wenngleich steriler als das, in dem ich mich befand. Ein paar Tage später unterhielt ich mich mit Kollegen über den Film. Ich kam nicht umhin, mich über die Sitze zu beschweren. Lächelnd stimmte man mir zu.

Seitdem ist einiges geschehen. Die sterile, gähnende Leere aus Sang-soos Film hat gänzlich auf die Säle der Stadt umgegriffen. Der Angst, die die Kinolandschaft noch im Frühjahr 2020 erfüllte, ist einer Resignation gewichen. Es ist still geworden und die Zukunft ungewiss. Doch nicht für das Gartenbaukino. Ein paar Wochen nachdem die Kinos wieder schließen mussten, las ich eine Meldung, welche die Renovierung dieses altehrwürdigen Kinos ankündigte. Wie automatisch versuchte ich mich zu erinnern, wie es aussah, um dieses Bild für mich zu behalten. Ich hatte Sorge es nicht mehr wiederzuerkennen.

Ist es denn wirklich so schlimm um das Kino bestellt, dass das notwendig ist? Gibt es denn nichts wichtigeres für das Kino als eine Renovierung? Womöglich ist es doch notwendig. Auf Facebook startete vor einiger Zeit ein Aufruf nach Bildern der Sessel aus den 1960er Jahren. Nun ist März 2021 und von den siebenhundertsechsunddreißig Sesseln fehlt jede Spur.

Stattdessen öffnet das Haus seine Pforten für eine Pressekonferenz, welche die Planungsschritte der Sanierung vorstellt. Auf der Bühne stehen verloren ein paar Buchstaben der alten Leuchtreklame, dahinter mit Abstand Geschäftsführer Norman Shetler, die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, Staatssekretärin für Kunst und Kultur Andrea Mayer und der Architekt Manfred Wehdorn. Nach den obligatorischen Zahlen hat Wehdorn das Wort. Er schildert das Konzept der Sanierung. So wolle man das Kino wieder in den ursprünglichen Zustand der 1960er Jahre versetzen. Damals, als die Zeiten nach den ‚schlimmen Kriegsjahren‘ endlich wieder ‚gemütlicher‘ wurden. Jene ‚schlimmen Kriegsjahre‘, von denen auch in den persönlichen Annalen des Gartenbaukinos, zwischen „Einbau der Tonanlage“ 1930 und „Übernahme der Kino-Konzession durch die KIBA (Kinobetriebsanstalt Ges.m.b.H)“ 1947 jede Spur fehlt. Man will zurück zu dem Kino, das Robert Kota 1954 umgestaltete. Dieser Robert Kota, der an einigen Projekten ab 1933 von Carl Wittmann (baute Theaterinnenausstattungen für Propagandazwecke und erhielt nach Ende des Zweiten Weltkriegs Berufsverbot) mitwirkten. [1] Es soll schließlich alles werden, wie es einmal zu Zeiten von Robert Kota war – damals, in der guten alten Zeit. Alles soll wieder in dem festlichen Ambiente und Glamour erstrahlen. Und das alles bis zur kommenden Viennale – „Das geht nicht anders!“

Ziel sei es in erster Linie die Technik zu erneuern und die Räume zu restaurieren. Dieses Vorhaben am denkmalgeschützten Objekt soll so gewissermaßen ein Paradebeispiel für die Zukunftsfähigkeit des Kinos sein, gleichwohl haben nicht alle Wiener Kinos dieses Privileg. Aber sieht so die Zukunft des Kinos aus? Leider behält Lars Henrik Gass womöglich schneller recht, als uns lieb ist, wenn er fordert, dass man das Kino nur in die Zukunft retten kann, indem man es zum Museum erklärt. Aber muss die Zukunft des Kinos in der Vergangenheit liegen? Das Kino ausgerechnet in einer Zeit zurückzuführen, als es noch nicht um seinen gesellschaftlichen Stellenwert bangen musste, lässt einen gewissen Zynismus durchscheinen, der vor der Realität die Augen verschließt und sich in eine sorgenlose Vergangenheit flüchtet. Es heißt von Seiten Shetlers, es zähle der Komfort. Der Komfort, der leider zu gut nach Wien passt, wo Kino nur für die Privatangelegheit der eigenen nostalgischen Sehnsüchte dient, wo Moderne nicht gelebt wird, sondern fetischisiert wird. Mir scheint, bald schon soll der Film beginnen, bevor der Projektor überhaupt angeschaltet wurde. In eben dieser glorreichen besungenen Zeit der 1960er Jahre hielt Christian Metz in den Cahiers du Cinéma fest:

„Die Summe der Eindrücke teilt sich nach Henri Wallon bei der Projektion eines Filmes in zwei völlig voneinander getrennte Reihen, die ‚visuelle Reihe‘ (d.h. den Film, die Diegese) und die ‚propriozeptive Reihe‘, d.h. das Bewusstsein vom eigenen Körper – und damit das der realen Welt –, das nur noch eine schwache Rolle spielt (nämlich dann, wenn man sich in seinem Sessel bewegt, um eine bessere Lage zu finden)“[2]

Gerade jetzt vermisse ich diesen unbequemen Sessel, der auf den Rücken drückt und einem mitteilt, dass man immer noch in irgendeinem Kino sitzt. Wenn man Filme wieder „kollektiv“ schauen und vor allem im Kino „streiten“ will, wie es Andrea Mayer in Aussicht stellte, dann sind die neuen Sitze wohl kaum eine Hilfe dafür, es sei denn, sie meinte mit „streiten“ gemütlich plauschen oder lästern. Eher will man, eine „Bindung“ zum Publikum herstellen. Diese Bindung gibt es, soviel Spätmoderne darf sein, bei Startnext zu erkaufen, kostet 360€ und sichert einem eine Sesselpatenschaft, die darin besteht, seinen Namen mit einer Plakette für fünf Jahre an einen Kinosessel anzubringen. Dies wird stolz am Ende der Pressekonferenz verkündet. Danach flimmert über den ORF-Livestream von der Pressekonferenz die Projektion des Kampagnen-Teasers auf der riesigen Leinwand des Gartenbaukinos  – ein bisschen wie das Ende in Sang-soos Film. Wo einst vor ein paar Monaten die Wiener Unterwelt vergangener Tage zu sehen war, sieht man nun zusammengetrommelt die Größen des österreichischen Films, um dort mit ihren Erinnerungen für das Kino herzuhalten, als wären sie Zeitzeug_innen einer längst vergangenen Epoche. Ob „Gartenbau Forever“ ein glücklicher Slogan für den Aufbruch in die Zukunft ist, wage ich zu bezweifeln. Es bleibt am Ende doch alles, wie es war.

[1] https://www.gartenbaukino.at/das-kino/die-geschichte-des-kinos.html. Im Online-Geschichtslexikon der Stadt Wien finden sich leider auch nur spärlich Information. Die einzige Notiz über die ominösen Jahre, war „eine Gedächtnisfeier für den verewigten Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß“. (https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Gartenbaukino)

[2] Christian Metz, „Zum Realitätseindruck im Kino“ in Semiologie übers. v. Renate Koch, München, Fink 1972, S. 30. Orig.: „A propos de l’impression de réalité du cinéma“ in Cahiers du Cinéma, Paris, de l’Étoile. – Nr. 166-167, Mai-Juni 1965, S. 75-82.