Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Diagonale 2015: Über die Jahre von Nikolaus Geyrhalter

In vie­len ame­ri­ka­ni­schen Fil­men der jün­ge­ren Zeit wur­de gezeigt wie Men­schen mit etwas ein­falls­lo­sen und nüch­ter­nen Rat­schlä­gen im Ange­sicht ihrer Arbeits­lo­sig­keit bedacht wer­den. Da heißt es dann: Ver­su­chen Sie die­sen neu­en Lebens­ab­schnitt als eine Chan­ce zu begrei­fen. Eine sol­che Chan­ce, die natür­lich weit viel­schich­ti­ger und unde­fi­nier­ter ist, als man sich das theo­re­tisch vor­stel­len kann, wird aller­dings erst durch die ver­ge­hen­de Zeit offen­bar. Oft ergrei­fen die Men­schen auch nicht eine Chan­ce, son­dern die Chan­ce ergreift die Men­schen. In Niko­laus Geyr­hal­ters Über die Jah­re wer­den einem die­se Zeit und vor allem ihre Wir­kung auf ver­schie­de­ne Indi­vi­du­en auf ein­fühl­sa­me und doch größ­ten­teils beob­ach­ten­de Wei­se nahe­ge­bracht. Der Fil­me­ma­cher dreh­te in Form einer Lang­zeit­stu­die 10 Jah­re lang mit unter­schied­li­chen Arbei­tern der Anderl Fabrik, einer alten Tex­til­fa­brik, die 2004 Kon­kurs anmel­den muss­te. Geyr­hal­ter besuch­te die ehe­ma­li­gen Arbei­ter über eine Deka­de in unter­schied­li­chen Rhyth­men und beglei­te­te so ihre per­sön­li­chen und beruf­li­chen Ent­wick­lun­gen. Dabei gelingt es ihm durch die Par­al­lel­füh­rung unter­schied­li­cher Figu­ren etwas über ein sozia­les Gefü­ge, eine poli­ti­sche Ent­wick­lung und vor allem über das Wesen von mensch­li­chen Exis­ten­zen zu erzählen.

Das Her­aus­ra­gen­de an der Arbeit von Geyr­hal­ter ist sei­ne Nähe zu den Figu­ren. Mit der Zeit gewinnt man auch als Fil­me­ma­cher das Ver­trau­en der Prot­ago­nis­ten und als Zuse­her geht man einen ganz ähn­li­chen Weg. In die­sem Sinn ist der Film am Ran­de auch eine Reflek­ti­on über mensch­li­che Nähe­be­zie­hun­gen. Dies wird vor allem auch durch die Prä­senz des Fil­me­ma­chers selbst deut­lich, der Fra­gen stellt, ange­spro­chen wird und sich ein­mal lachend inmit­ten von Scha­fen fin­det. Am Spür­bars­ten wird die­se Nähe in den Gesprä­chen, die Geyr­hal­ter mit den Frau­en und Män­nern führt. Oft führt er die­se Gesprä­che tat­säch­lich an Arbeits­plät­zen oder im All­tag. Sie gehen aus den Bewe­gun­gen einer Rou­ti­ne her­vor und schei­nen fast bei­läu­fig, in man­chen Fäl­len gar zufäl­lig zu ent­ste­hen. Dadurch ver­mei­det er zum einen die Tal­king Heads Gefahr, erzählt aber zum ande­ren auch noch etwas über das Wei­ter­ge­hen, die Fort­set­zung des Lebens, die in den trau­ri­gen Flos­keln der alter­na­tiv­lo­sen Men­schen zu einer Art Ret­tungs­an­ker wird. Immer gibt es etwas, eine Bewe­gung, ein Ereig­nis. Es ist Geyr­hal­ters Gespür zu ver­dan­ken, dass er die­se Flos­keln als zugleich trau­rig und schön wahr­nehm­bar macht. Mit fei­nen Reak­tio­nen wie dem län­ge­ren Hal­ten einer Ein­stel­lung, dem Schnitt im rich­ti­gen Moment und pas­sen­den Fra­gen ver­mag Geyr­hal­ter vor allem in der ers­ten Hälf­te sei­nes drei­stün­di­gen Werks zu begeis­tern. Dabei erschei­nen Feh­ler, Stär­ken, Schick­sals­schlä­ge, Nai­vi­tät und Weis­heit unter dem­sel­ben Licht einer Mensch­lich­keit, die von den Figu­ren aus­geht und in vol­lem Bewusst­sein vom Fil­me­ma­cher umarmt wird. Natür­lich immer mit der öster­rei­chi­schen Distanz einer leich­ten Iro­nie an ange­brach­ten Stellen.

Über die Jahre  Geyrhalter

Eine gro­ße Ruhe geht von Über die Jah­re aus und das ist durch­aus bemer­kens­wert, da er sich mit unru­hi­gen Zei­ten befasst. Der Film setzt nicht zu gro­ßen phi­lo­so­phi­schen oder poli­ti­schen Ges­ten an, son­dern strebt viel­mehr nach einer beob­ach­ten­den Poe­sie der klei­nen Din­ge. Dabei erreicht der Film den­noch einen fast bibli­schen Höhe­punkt der Hoff­nungs­lo­sig­keit als die Flut einen wei­te­ren Schick­sals­schlag für eine der Fami­li­en bereit hält. Es geht um das Bewusst­wer­den von Wer­ten und inne­ren Über­zeu­gun­gen, die in einer nur vor­der­grün­di­gen Ein­fach­heit unheim­li­che Stär­ken und Schön­hei­ten offen­bart. Wenn einer der Män­ner sich in sei­ner Arbeits­lo­sig­keit plötz­lich fin­det mit dem Aus­gra­ben von Baum­wur­zeln oder klei­nen Gedich­ten, dann ist das schlicht beein­dru­ckend. Geyr­hal­ter fin­det in den Bruch­stel­len von Men­schen ihre Wahr­heit: In ihrem Zögern, ihren Ver­spre­chern, ihrem Zit­tern. Zeit­sprün­ge wer­den mit lan­gen Schwarz­blen­den ange­kün­digt, was den Ein­druck einer flie­ßen­den Bewe­gung verstärkt.

Über die Jahre von Nikolaus Geyrhalter

Wie so oft sind die Wen­dun­gen des Lebens weit­aus extre­mer als jene, die in einem fik­tio­na­len Film glaub­haft wären. Den­noch hat Über die Jah­re ein gro­ßes Pro­blem, denn die Will­kür der gewähl­ten 10 Jah­re ver­trägt sich kaum mit der Offen­heit des Lebens, die vom Film so betont wird. Abders for­mu­liert: War­um hat die­ser Film ein Ende? Geyr­hal­ter fin­det kei­ne geschick­te Lösung für einen Rah­men oder einen Bogen bezie­hungs­wei­se ist er nicht mutig genug die Offen­heit als sol­che bestehen zu las­sen. So beginnt er im letz­ten Drit­tel des Films plötz­lich mit Fazit­fra­gen wie: Waren die letz­ten 10 Jah­re gute oder schlech­te Jah­re? Hier über­fährt die berech­tig­te Empa­thie dann die sonst so prä­zi­se Welt­wahr­neh­mung des Fil­me­ma­chers. Auf der einen Sei­te ist dies ver­ständ­lich und auch dem natür­li­chen wach­sen der Bezie­hun­gen zwi­schen dem Fil­me­ma­cher und sei­nen Figu­ren geschul­det, auf der ande­ren Sei­te besticht gera­de die ers­te Hälf­te des Films dadurch, dass Geyr­hal­ter stets exakt den rich­ti­gen Abstand zwi­schen der Kame­ra und den Men­schen hat, einen Abstand, der ihm zugleich eine nüch­ter­ne, unpar­tei­ische Distanz und eine emo­tio­na­le Wär­me ermög­licht. Am Ende lässt er sich gar zu einem Rea­li­ty-TVar­ti­gen Moment hin­rei­ßen, wenn eine ehe­ma­li­ge Arbei­te­rin auf einem Holz­turm zusam­men mit ihrem Mann in Trä­nen aus­bricht, weil ihr Sohn vor eini­ger Zeit ums Leben gekom­men ist. Es steht außer Fra­ge, dass die­se Din­ge pas­sie­ren und das es auch abso­lut berech­tigt ist, sie im Film zu haben. Aller­dings spre­chen wir hier von einer Ethik der Infor­ma­ti­on und da Geyr­hal­ter durch­aus sehr nar­ra­tiv arbei­tet, stellt sich die Fra­ge, war­um er die­se Infor­ma­ti­on in einem sol­chen Gefühls­aus­bruch mit­tei­len muss­te, die bei genaue­rer Betrach­tung sei­ne gan­ze ellip­ti­sche Form, ja sogar die Zeit selbst mit einem Ereig­nis füllt, dass uns ein Grau­en dar­bie­tet statt wie sonst das Grau­en in der Sprach­lo­sig­keit und dem Ver­ge­hen der Zeit selbst zu finden.

Viel­leicht ist die Fra­ge über­haupt, wo man in einem sol­chen Film, der so nah am Leben ist und immer wie­der von der Kon­ti­nui­tät die­ses Lebens erzählt, auf­hö­ren will. Der Film müss­te eigent­lich ewig wei­ter­ge­hen, um zu einem Ende zu kom­men. Dar­in lie­gen sei­ne unheim­li­che Kraft und sein irgend­wie unbe­frie­di­gen­des Ende.