Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Die Tür zum Himmel: Le Sel des Larmes von Philippe Garrel

« Ecou­te cet­te mélo­die qui court ent­re les nuits, écou­te le temps qui pas­se, le vent qui nous enlace, ce fro­id qui nous tra­cas­se » (Jean- Lou­is Aubert, Va où ton cœur te dit)

Es gibt Fil­me, die mun­tern einen auf, ein­fach weil sie schön sind, auch wenn sie trau­rig sein mögen. Nach­dem man Imi­ta­ti­on of Life oder The Bridges of Madi­son Coun­ty gese­hen hat, spürt man in sich eine Art emo­tio­na­le Zufrie­den­heit: ja, das Kino ist schön, das Kino ist gross – und die Lie­be gibt es, auch wenn sie schmerzt und zer­bricht. Sel­te­ner sind die Fil­me, von denen man sich wünscht, nach­dem man sie gese­hen hat, man hät­te sie nie gese­hen – obwohl, oder viel­leicht gera­de, weil sie schön sind, weil ihre zu stark strah­len­de Schön­heit einer dunk­len Wahr­heit unter­liegt, die einen gera­de­aus ver­letzt und zer­bricht.“ [Frei umfor­mu­lier­ter Aus­schnitt aus einem gelausch­ten Gespräch zwi­schen zwei nicht iden­ti­fi­zier­ten Zuschaue­rin­nen vor einer Film­vor­füh­rung an der Ciné­ma­t­hè­que, Juni 2018]

In den Fil­men von Phil­ip­pe Gar­rel geht es weni­ger dar­um, einen in die eksta­ti­sche Stim­mung der Lie­be zu ver­setz­ten, als viel­mehr um die Sehn­sucht nach die­ser Eksta­se. Am Ende von L’Enfant secret oder J’entends plus la gui­t­are, gibt es nichts außer die­ses Vaku­ums, das schon immer vor und nach der Lie­be exis­tier­te. Selbst das anschei­nend glück­li­che Ende in L’Ombré des femmes oder L’Amant d’un jour fühlt sich fra­gil an, als wäre die­ses Glück das Ver­spre­chen einer Geschich­te, die nie wirk­lich geschrie­ben wor­den wäre, bezie­hungs­wei­se geschrie­ben wer­den würde.

In sei­nem letz­ten Film, Le Sel des Lar­mes, erzählt der Fil­me­ma­cher von die­sem Ver­spre­chen und der Kehr­sei­te die­ses Ver­spre­chens wie sel­ten zuvor. Im Mit­tel­punkt der Erzäh­lung steht Luc (Logann Antu­o­fer­mo), ein wort­kar­ger Jun­ge aus der Pro­vinz, der in Paris ankommt, um die Auf­nah­me­prü­fun­gen der berühm­ten Éco­le Boul­le abzu­le­gen. Gera­de der U‑Bahn ent­stie­gen, trifft er auf die schüch­ter­ne Dje­mi­la (Oula­ya Amam­ra). Die zufäl­li­ge Begeg­nung zwi­schen den zwei jun­gen Men­schen, im fast expres­sio­nis­ti­schen Schwarz­weiss von Rena­to Ber­ta, wirkt elek­trisch : „Das Gesicht Dje­mi­las, die über­rascht zu sein scheint, plötz­lich auf einer Bus­fahrt mit dem schö­nen Frem­den zu sein, strahlt trotz des Gegen­lich­tes – eine Spe­zia­li­tät Rena­to Ber­tas – eine Viel­falt von Aus­drü­cken aus, die sich lang­sam von den dunk­len Augen­rin­gen aus erstre­cken.“ [Char­lot­te Garson, „Ce pays en noir et blanc“ – Cahiers du Ciné­ma n° 767]. So ist es eben im Kino: etwas Elek­tri­zi­tät genügt, und gleich kann (man) eine Geschich­te begin­nen. Nur ist das Kino dem Leben nicht gleich­zu­stel­len, und umge­kehrt: eine uner­war­te­te Aus­sa­ge von einem Fil­me­ma­cher, der einst mein­te, er besä­ße anstel­le eines Her­zen eine Kame­ra im eige­nen Leib. Das wird Luc aller­dings spä­ter noch ler­nen müs­sen, ein­mal als Gene­viè­ve (Loui­se Che­vil­lot­te) ihm plötz­lich ankün­digt, sie erwar­tet ein Kind von ihm und zum zwei­ten Mal mit Bet­sy, der Frau mit der Luc spä­ter im Film in einer Bezie­hung ist (Sou­hei­la Yacoub), die ihm eine Art Lie­bes­drei­eck auf­er­legt. Der Film sei­nes Lebens setzt sich vor sei­nen Augen fort, doch Luc ver­passt das: als er sich von Dje­mi­la unter einem Baum ver­ab­schie­det, weiß er nicht, dass die­ser Abschied end­gül­tig ist, und wenn er am Ende auf ein­mal erfährt, dass sein Vater gera­de ver­stor­ben ist, kann er nur in der Abs­trak­ti­on sei­ner selbst ver­schwin­den – hin­ter einer Tür, der Tür zum Bade­zim­mer, in den Him­mel schauend:

« Luc alla dans la salle de bains et, com­me il voy­a­it le ciel à tra­vers la lucar­ne, il se ren­dit comp­te que, puisqu’il ne croya­it pas en Dieu, son papa n’était pas au ciel – mais tout sim­ple­ment ne serait plus jamais là. »

Luc ging ins Bade­zim­mer und, als er den Him­mel durch die Lukar­ne sah, wur­de er sich des­sen bewusst, dass, da er nicht an Gott glaub­te, sein Vater nicht im Him­mel war – son­dern ein­fach nicht mehr da sein würde.“

An der letz­ten Sze­ne und der sehr ein­fach, fast nackt aus­se­hen­den Ein­stel­lung der geschlos­se­nen Tür, mit der der Film endet, merkt man wie geschickt Gar­rel im Umgang mit dem Voice­over ist – ein Merk­mal sei­ner letz­ten Fil­me –, denn obwohl der unsicht­ba­re Erzäh­ler noch vor der tat­säch­li­chen Ankün­di­gung das trau­ri­ge Ereig­nis mit­teilt, kann man erst nach die­sem aller­letz­ten Satz die bit­te­re Trost­lo­sig­keit kon­kret spü­ren, die den gan­zen Raum ein­nimmt, in dem Luc sich nun befin­det. Durch die­se Spal­te, die sich zwi­schen dem, was man rein visu­ell sehen kann, und dem, was nur lite­ra­risch ange­deu­tet wird, auf­tut, wird gera­de jener Raum umris­sen, der ganz am Ende des Weges der Haupt­fi­gur steht. Luc wird letzt­end­lich in der Ein­stel­lung ein­ge­sperrt: auf die­ses Schick­sal ver­wei­sen schon der von Luc und sei­nem Vater gebau­te Sarg sowie sein redu­zier­tes Modell (ein klei­ner Holz­kas­ten mit Ess­wa­ren und Ziga­ret­ten, den Lucs Vater sei­nem Sohn schickt).

Wie bei vie­len sei­ner Fil­me hat Gar­rel das Dreh­buch zu Le Sel des Lar­mes zusam­men mit – unter ande­rem – Arlet­te Lang­mann geschrie­ben, die lan­ge mit Mau­rice Pia­lat zusam­men­ge­ar­bei­tet hat. Das Leben der jun­gen Suzan­ne, von Sand­ri­ne Bon­n­aire im mythi­schen A nos Amours gespielt, beruht sogar direkt auf der Jugend der Dreh­buch­au­to­rin. Mehr als der Ein­fluss der Nou­vel­le Vague (etwa der Jean-Luc Godard von Une femme mariée, Mas­cu­lin Fémi­nin, Viv­re sa vie wegen des präch­ti­gen Schwarz­weis­ses, oder der Fran­çois Truf­f­aut von Bai­sers volés wegen der Erzie­hung der Gefüh­le-arti­gen Erzäh­lung) ist es gera­de das Kino von Pia­lat, das man etwas umge­stal­tet, ent­frem­det, weil in einer irgend­wie ruhi­ge­ren Form wie­der­ge­ge­ben – aber doch sehr deut­lich – in die­sem letz­ten Spiel­film von Gar­rel wie­der­fin­det. Denn wie bei dem Pia­lat von A nos amours und dem Pia­lat von Le Gar­çu, wird hier gleich­zei­tig von der Lie­be zwi­schen jun­gen Men­schen und von der Lie­be des Vaters erzählt, in einem Paris, der ganz anders aus­sieht als in den Fil­men der Nou­vel­le Vague. Nicht die tat­säch­li­che Stadt an sich zählt, son­dern der halb geträum­te, halb wach erleb­te Zwi­schen­raum zwi­schen den eige­nen Wün­schen und der rohen Wirk­lich­keit, zwi­schen der Haupt­stadt, den Vor­or­ten und der Pro­vinz, sei es im engen Hof vor der geöff­ne­ten Tür zur Stras­se, vor dem ein­sa­men Fens­ter in einem lee­ren Hotel­zim­mer, in dem man ewig auf die Lie­be war­ten könn­te, oder in der spar­ta­ni­schen Woh­nung, die man sich zu dritt teilt.

« Ce qui pré­oc­cu­p­ait Luc, à cet­te épo­que, c’est qu’il n’était pas sûr que l’amour exis­te, car ce qu’il avait con­nu avec Dje­mi­la, com­me ce qu’il avait con­nu avec Gene­viè­ve, il ne pou­vait après coup nom­mer cela l’«amour». Ou enco­re, s’il se deman­dait s’il avait con­nu l’amour, il était bien obli­gé de se dire que non, cela n’avait pas dépas­sé ses ambi­ti­ons, ni att­eint l’importance de l’amitié qu’il por­tait à son père. Mais un jour, Luc allait trou­ver devant lui une femme qui lui appa­raî­trait com­me son égale. »

Was Luc zu die­ser Zeit beschäf­tig­te war, dass er sich nicht sicher war, ob die Lie­be exis­tiert, denn sowohl das, was er mit Dje­mi­la erlebt hat­te, als auch das, was er mit Gene­viè­ve erlebt hat­te, konn­te er nach­her nicht als Lie­be bezeich­nen. Oder, als er sich frag­te, ob er der Lie­be schon begeg­net sei, konn­te er nicht umhin, zu dem fol­gen­den Schluss zu kom­men: nein, weder war es über sei­ne Bestre­bun­gen hin­aus­ge­gan­gen noch hat­te es die Stär­ke der Freund­schaft erreicht, die ihn und sei­nen Vater ver­band. Doch eines Tages wür­de Luc eine Frau ken­nen­ler­nen, die sich ihm als eben­bür­tig erwei­sen würde.“

Ob Luc die­se Frau wirk­lich ken­nen­lernt, bleibt unbe­ant­wor­tet. Viel wich­ti­ger ist es, dass die geschlos­se­ne Bade­zim­mer­tür etwas mehr ver­spricht, als sie tat­säch­lich zu ver­ber­gen scheint.