Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Die weiße Wand: Aftersun von Charlotte Wells

»Wozu ins Kino gehen, wenn sich die selben Filme auch zu Hause streamen lassen?« Bei Aftersun handelte es sich um einen Film, der, ausgezeichnet von einigen Festivals, in eher schlecht besuchte Programmkinos wanderte, wo er erst allmählich zu seinem Publikum fand. Nun ist er auf MUBI zu sehen und die Frage, für wen dieser Film ist oder sein könnte, stellt sich nicht mehr wirklich. Denn dort geht er auf, kein anderer Film entspricht womöglich besser dem, was sich MUBI unter Film – nicht Kino – vorstellt. Man sucht nach dem ganz besonderen, einmaligen – aber ständig wiederholbaren – Erlebnis, dessen Ausgang schon zu Beginn klar ist. Mit der glänzenden, selbstverliebten Oberfläche lässt sich zwar in einen Spiegel schauen, aber keine Erfahrung mit etwas Anderem machen.

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Leicht dahingeredet heißt es gelegentlich, ein Film wäre »relatable«. Doch was soll damit gesagt sein? Der Anglizismus gibt sich vermeintlich unverbindlich. Es lässt sich dabei vermuten, man könne etwas nachvollziehen oder sich mit dem Gesehenen identifizieren. Wahrscheinlich bedeutet es aber viel eher, man will etwas auf sich beziehen, womit in aller Regel nicht die ganze Erfahrung gemeint ist, denn genau daran würde es scheitern, sondern ein eklektischer Teil, der sich einigermaßen schmerzfrei ins eigene Gesamtbild fügt. Es wird ein Bild ausgesucht, das schön aussieht, keine Angst macht, – eigentlich ist es leer – und sich mit den eigenen Gefühlen anfüllen lässt. Zu einem Film zu »relaten« klingt mutig, zeigt aber nur eine Feigheit an, zwei widersprüchliche Bilder nebeneinander stehen zu lassen. Das eigene und das des Films. Stattdessen wird jedes Detail aufgeladen, mit dem krampfhaften Versuch, etwas verstehen zu wollen, was sich letztlich nicht verstehen lässt.

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Aftersun begleitet zwei Menschen, den jungen Vater Calum mit seiner Tochter Sophie, die an einem paradiesischen Ort wie Gestrandete landen. Sie passen nicht hinein und fragen sich unausgesprochen, wo und warum sie sich überhaupt hier befinden. Der Film zeigt über einige Tage die vergehende Zeit und Langeweile in einem türkischen Ferienressort. Gerade so scheint das Geld zu reichen. Vater und Mutter leben getrennt, die geteilte Zeit zwischen Tochter und Vater steht also unter einem gewissen Druck. Beide Menschen stehen an einer Schwelle in ihrem Leben. Die Tochter, nicht mehr ganz Kind, trotzdem noch nicht adoleszent. Der Vater, nicht ganz erwachsen, immer noch unzugänglich jungenhaft. Beide finden in der sorglosen Welt des Urlaubsparadieses keinen richtigen Platz. Aber statt anzuecken, aufzubegehren, die Maske herunterzureißen, geht die gemeinsame Zeit dahin. Zwar versucht jeder für sich allein in zwischenmenschlichen Begegnungen davon zu schwimmen, doch am Ende werden sie wieder aufeinander zurückgeworfen.

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Das erste Bild in Aftersun lässt zunächst nicht viel erkennen, es mutet rätselhaft an. Wackelige Camcorder-Aufnahme, schlierig und mosaikhaft. Die Stimmen der beiden Protagonisten sind zu hören. Dann ist Calum vor dem Balkonfenster im Hotelzimmer zu sehen. Im Gespräch dreht es sich um den bevorstehenden Geburtstag des Vaters. Das Bild stoppt und gibt sich als Bildschirm zu erkennen, in dem sich eine Person spiegelt. Durch Vorspulen werden andere Aufnahmen des Urlaubs sichtbar, dazwischen flackern dunkle Bilder einer Tanzfläche auf. Getrennt und verbunden durch zwei Großaufnahmen ist Sophie erst als erwachsene Frau zu sehen und schließlich wieder als zwölfjährige Tochter in einem Reisebus. Schon mit dem Beginn des Films wird hier der Versuch unternommen, Schichten – Materialschichten – ineinander zu verwickeln.

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Filmbildern lebt eine besondere Strenge inne. Mit ihnen wird nicht nur eine Erzählung – der einmalige Lichteindruck – transportiert, sondern auch Tradition. Formprinzipien, die sich auf das handwerkliche Können beziehen. Es mag befreiend sein, die Regeln hinter sich zu lassen und zu vergessen, um eine eigene Sprache zu kreieren. Das könnte heißen, es ist vielleicht gar nicht notwendig, die Regeln zu kennen, um erzählen zu können. Man muss sich eigentlich nur einverstanden zeigen, sich einlassen. Einverstanden mit dem, was erzählt wird. Trotzdem entscheidet schon die Wahl der Mittel und Materialien die Frage, was gezeigt werden kann und was nicht. Oft wird in Hinblick darauf Material und Materialität verwechselt. Wie etwas aussieht, lässt sich zwangloser beschreiben, als das, was zu sehen ist. Entscheidend ist jedoch, dass für einen Film beides bedeutsam ist.

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Im Laufe des Films entsteht eine Spannung zwischen den unterschiedlichen Materialschichten. Die Videobilder entsprechen Erinnerungen an die zurückliegende Zeit der Beziehung zwischen Vater und Tochter. Die zwölfjährige Tochter ist als Beobachterin der Bilder erwachsen geworden. Womöglich steht sie auf derselben Schwelle in ihrem Leben, an der sich ihr Vater im Urlaub einst befand. Verrätselt drängt sich die Frage in den Vordergrund, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Es blitzt eine Begegnung zwischen dem erwachsenen Vater und der erwachsenen Tochter auf einer Tanzfläche auf, gehüllt in Stroboskop und Schwarz. Die Tochter begibt sich mit den Aufnahmen der Videokamera durch die Welt der Erinnerungen, hin an einen unmöglichen Ort, an dem ein unmögliches Wiedersehen stattfindet. Der schwebende Zustand des von Sonnenbrand gezeichnetem Gleichlaufs verdichteet sich zu einem ekstatischen Moment. Alles soll sich aufklären, rein werden. Von der monotonen Dunkelheit ins grelle Licht, dort wo jedoch keine Sonne mehr scheint. Irgendwas muss hervorgebracht werden, zu dem das einzelne Filmbild offenbar nicht im Stande ist.

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Aftersun ist ein nahezu unbewegter Film. Zwar gibt es eine diffuse Anziehungskraft und etwas Abstoßendes an ihm, doch der Film entzieht sich und will sich vorerst nicht verständlich machen. Also etwas, dem man nur die schönen und schlechten Seiten aufzeigen muss, damit man eine Kritik schreiben kann. Vieles verliert sich in Andeutungen. Zeitweise verschwindet Calum. Er geht nachts ins Meer oder balanciert auf der Brüstung des Hotelbalkons. Immer wieder findet sich Sophie mit ihrem Vater so in merkwürdigen Situationen wieder. Doch der Grund oder Anlass seines Verhaltens bleibt unbenannt. Eigentlich lässt sich mit dem Film nicht abrechnen. Zum Glück, will man sagen bis zuletzt, denn man glaubte, dass es der Film genau darauf absieht. Doch der Film verspielt das gewonnene Vertrauen in die Unsprachlichkeit des Konflikts zwischen Vater und Tochter. Was unklar blieb, muss nun benannt werden. In einer erregenden Montage schwingt sich der Film mit dem Ende zur Lösung seines zum Anfang gestellten Rätsels auf, gleichzeitig wird damit jeder selbstgesetzte Sinn mit einer triumphalen Geste im Gefühlsbad ertränkt.

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Von der Regisseurin heißt es, für die letzte Szene habe sie sich von Chantal Akermans Film ‌La Chambre inspirieren, ja vielleicht sogar leiten lassen. Was man sieht, ist jedoch keine Referenz, keine Auseinandersetzung, sondern allenfalls schlechte Mimikry. Es wird das Video einer Verabschiedung am Flughafen gezeigt. Erneut sind die Stimmen der jungen Tochter und des Vaters, der die Kamera hält, zu hören. Das Video stoppt. Eine Verzögerung schleicht sich in den Lauf des Films. Dann gerät die Kamera in Bewegung, die bislang den Bildschirm filmte. Aus der Bewegung wird nun ein Schwenk. Mit einer vollen Umdrehung wird der ganze Raum, der bislang im Verborgenen blieb, durchmessen. Der objektive und anonyme Blick ähnelt dabei mehr dem Licht eines Leuchtturms, als dem blinden Tasten in einem lichtleeren Raum. Für einen Augenblick ist Sophie als erwachsene Frau zu sehen. Sie blickt durch die Kamera hindurch, als würde sie etwas Dahinterliegendes erkennen. Leise ist ein kreischendes Kleinkind zu hören. Die Kamera schwenkt weiter bis das Bild ganz von einer weißen Wand erfüllt ist. Unbemerkt findet eine Überblendung statt. Der Schwenk der Kamera endet in einem grell ausgeleuchtetem Flughafen-Gate. Calum steht erst nah zur Kamera und entfernt sich mit dem Camcorder in der Hand, bis er schließlich den Nicht-Ort durch eine Tür verlässt, die zur bereits genannten Tanzfläche führt.

Bei Akermans drehender Kamera fühlt man sich an eine Aufzählung erinnert: Alles, was sich im Raum um sie herum befindet, gilt es wahrzunehmen. Die Wiederholung legt eine zweite Schicht über den Raum. Es stehen nicht mehr nur die Dinge und ihre Anordnung im Vordergrund, sondern auch wie das Bild sie einfängt. Charlotte Wells Film bedient sich zwar der Bewegung, doch vom Motiv will er nicht viel wissen. Statt mit der Bewegung den Stillstand aufzulösen, drängt er nur wie besessen auf den erlösenden Moment hin, endlich eine Lösung für die zerstreuten Fäden des Films zu finden. Krampfhaft wird Sinn hergestellt, wo eigentlich keiner herrscht. Der Film fällt hinter sich selbst zurück und öffnet sich gefälliger Spekulation über die Auslassungen, um das Verlorene einzuholen. Doch dabei soll bloß nichts gedacht werden, das über die Grenzen des Films hinausgeht. Die Ausfüllung der Leerstelle muss sich im Rahmen dessen bewegen, was das Ende des Films vorgibt. Vielleicht hätte man das Kino mit gutem Gewissen vorher verlassen können. Zurück bleibt stattdessen Ernüchterung.

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Obwohl man es Aftersun nicht zwangsläufig ansieht, handelt es sich um ein autobiografisches, oder eher autofiktionales Werk. Was verändert das am Umstand dieser Auflösung? Macht es den Film gegen Kritik immun oder trägt es gar zum Verständnis bei? Womöglich weder das eine, noch das andere. Bezeichnend ist, dass sich eine eigensinnige Erzählperspektive und ein Hang zu trivialer Eindeutigkeit, in dem am Ende alles dasselbe bedeutet, nicht ausnehmen. Im Hinblick darauf lässt sich in Aftersun vor allem etwas über das gegenwärtige Verhältnis von Kino und Streaming erfahren. Streaming will die Filme ohne das Kino. Erleben bleibt in vorgefertigten Bahnen verhaftet und die Filmbeschreibungen halten, was sie versprechen. Kein zu viel, kein zu wenig. Wäre alles andere verspieltes Vertrauen?

Die Suche nach verlässlicher Eindeutigkeit gibt den Takt an. Doch ließe sich nicht auch ein Ort vorstellen, der sich nicht den täglichen Identitäts- und Existenzfragen aussetzt, dessen einziges Ziel die selbige Auflösung anstrebt, sei es für einen Moment, wie am Pool eines zweitklassigen Hotels? Dort, wo sich eine Andeutung nicht den Zwängen eines zu Ende gedachten Ziels unterwirft. Man könnte etwas aus dem Blick verlieren, ohne die Sorge es nicht mehr wiederzufinden. Liegt man zu lang, trägt man den Schmerz und die Peinlichkeit einer verbrannten Haut davon. Das Heimweh und der Gedanke an den Flug zurück, wollen davor schützen. Kino kann einer dieser Orte sein, auch dann, wenn man bleibt, obwohl man eigentlich hätte gehen sollen.

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Seit 17. März kann Aftersun nun über MUBI gestreamt werden. Mittlerweile erlaubt die Plattform keine Screenshots mehr und hinterlässt am Ende nur noch schwarze Kader.