Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Draufhalten – Gedanken zum home video

Vor ein paar Wochen, bat ich meine Eltern mir ein paar der Videokassetten zu schicken, von denen ich wusste, dass sie schon seit vielen Jahren ungesehen und verstaubt in irgendeinem Karton darauf warteten, gänzlich vergessen zu werden. Meine Eltern waren etwas überrumpelt davon und fragten skeptisch, was ich damit vorhabe. Wenige Tage später bekam ich ein kleines Paket zugesandt, in dem sich zwei Video-8-Kassetten befanden.

I.

Video hatte mich als Kind und Jugendlicher schon immer angezogen. Ich bin mir allerdings nie wirklich klar geworden, warum überhaupt. Zwar könnte ich behaupten, dass die Technik wie ein Spielzeug für mich war, wie ich damals wohl selbst glaubte, jedoch war ich nie wirklich virtuos. Die Welt durch die Kamera zu beobachten war womöglich aufregender. Menschen verhielten sich plötzlich anders, wenn sie bemerkten, dass sie gefilmt wurden. Jener Eindruck ist schwer zu fassen, für einen Moment schien das Gesehene erst wirklich präsent zu werden – das Bild verwickelte sich ins Geschehen. Seltsamerweise hat diese Faszination im zunehmenden Alter nachgelassen. So etwas wie eine Scham vor den Bildern beschlich mich. Vor allem Bilder, die nichts mehr mit mir und wie ich mich selbst sah zu tun hatten. Aber von einer ebenso unklaren Anziehungskraft war seit ein paar Monaten wieder mein Interesse daran geweckt. Doch ging diese nicht mehr wie früher von einer gewissen Naivität mit der Technik aus. Es war die Frage, was sich in diesen Videos finden lässt und warum diese entstehen. Nebulös hingen mir die Umrisse der Bilder noch im Gedächtnis, doch ein eindeutiges Motiv ließ sich nicht festmachen.

Da lagen sie schließlich vor mir. Zwei Kassetten, beide weit über 20 Jahre alt, mit großer Wahrscheinlichkeit hatte in dieser Zeit auch niemand ihren Inhalt gesehen. Sie waren mit einigen sorgfältig geschriebenen Wortfetzen versehen. Mir fiel es immer schwer, die Schrift meiner Eltern zu entziffern. Sie war weder schnörkelig noch ungenau, aber sie war mit einer Strenge und nüchternen Makellosigkeit versehen, die mir fremd schien. Meiner Mutter hatte mir noch bevor sie das Paket verschickte, berichtet, dass es sich dabei wohl um Aufnahmen aus der Kindheit meiner Schwester und mir handelte. Ich wusste dabei nicht recht, was sie damit meinte und versuchte mich zu erinnern, welche Rolle Video in unsere Familie spielte. Ein wichtiges, für mich immer geheimnisvolles Gepäckstück, gemeinsamer Familienurlaube mit den Geschwistern meiner Mutter, waren Taschen, in denen Fotoapparate und Videokameras transportiert wurden. Irgendwann verschwanden sie. Erlebnisse wurden festgehalten, doch wie mein Bezug zu ihnen, verloren sie allmählich den Wert gesehen zu werden. Einzig Geschichten und immer reicher an Ausschmückungen werdende Anekdoten blieben, aber die Videos selbst als Beweisstücke verstaubten in den Wohnzimmergarnituren nebst den anderen unbenutzten Geräten.

Mit ein wenig Recherche konnte ich herausfinden, wie man die Videos über einen Computer digitalisieren kann. Auf YouTube und in einigen Foren stieß ich schnell auf eine kleine eingeschweißte Gemeinde. Meist Menschen zwischen 30 und 40, die bereits eine Familie gegründet hatten. Sie waren dabei nur selten von einer erkennbaren Neugierde getrieben, eher könnte man meinen, dass viele von einer gewissen Sehnsucht heimgesucht wurden. Sie schienen zu wissen, was sie taten. Die Bilder hielten für sie keine Überraschungen bereit. Das, was sie sahen, glich einem endlosen Stapel von Erinnerungen, den es in stoisch-beamtischer Pedanterie zu bearbeiten galt. So fand auch ich mich wieder, wie ich Kabel in Buchsen stöpselte, verzweifelt stundenlang nach geeigneter Software suchte und dabei ganz vergessen hatte, warum ich das überhaupt tat. Erst als ich merkte, dass ich nicht zu einem Ergebnis kam, begriff ich, wie besessen ich in der Technik versank. Frustriert und auch ein wenig überrascht von mir selbst, ließ ich die Dinge ruhen, setzte einen Kaffee auf, rauchte und ging nach draußen.

Später am Tag: ein kurzes Telefonat mit meinem Onkel. Die Worte herzlich aber knapp, lange Zeit hatte wir keinen Kontakt. Auf einmal sehe ich endlich ein erstes Bild des Videomaterials, dank seiner Hilfe. Für einen Moment verstumme ich – bin aus dem Gespräch und meinen Gedanken gerissen. Ich bedanke mich etwas verlegen, verspreche ein baldiges Wiedersehen und lege auf. Leise surren die Geräte monoton vor sich hin. So vergehen 4 Stunden, in denen beide Kassetten nacheinander überspielt werden.

II.

Ein erstes Bild: Am unteren rechten Bildrand überdeckt ein Datum das Motiv. Ein Kind – meine Schwester – sitzt in der Küche auf einem Stuhl. Es ist gespenstisch still. Im Hintergrund ist ein Radio kaum wahrnehmbar zu hören, das den Raum mit weihnachtlicher Musik bespielt. Eine Frauenstimme flüstert leise. Es muss meine Mutter sein, doch ihre Stimmfarbe ist mir seltsam unbekannt. Die Harmonie der Szene verbreitet einen geradezu elegischen Dunst, ausgelöst von der unbekümmerter Simplizität, sogleich wirkt sie beklemmend. Es gibt nur zwei Protagonisten im Raum – das Kind und die Kamera. Die Szene, nur ein vorübergehender Moment, deren Verlauf nicht vorhersehbar scheint. Sie steht wie ein gehäuseloses Diorama für sich, sie kennt weder Anfang noch Ende. Ganz unvermittelt: ein Schnitt – meine Schwester sprach eines ihre ersten Worte. Sofort versucht mein Vater aus ihr die Worte, zur Bewahrung eines Beweises, nochmals hervor zu bringen. Es ist merkwürdig: nie wird ein Kind in diesem Moment verstehen, was hier gerade passiert und doch ist man jenem dabei nicht fern. Die sprunghafte Aufmerksamkeit des Kindes gleicht der Kamera, die ihr gegenüber ist. Alles ist verlockend, jede Erfahrung neu, nichts verstellt den Blick. Eine Kerze auf dem Tisch weckt die Aufmerksamkeit des Kindes. In den Augen leuchtet Faszination, die augenblicklich in der Erfahrung des brennenden Schmerzes durch die Hitze auf der Handfläche erlischt. Regungslos blickt die Kamera darauf. Eigentümlich verkörpert sich die gleiche Faszination des Kindes im Bild der Kamera. Meine Mutter nimmt die Hand meiner Schwester, versorgt spielerisch den Schmerz. Später wird sie zustimmend flüstern als meine Schwester suchend direkt in die Kamera blickt: „Papa mach’ aus, wir wollen nicht gefilmt werden!“.

Einige Minuten später auf dem Band: Meine Schwester steht im Wohnzimmer, ihr Gesicht dicht vor der Kamera, sie deutet auf die Linse und bemerkt einen piepsenden Ton. Im Hintergrund sind die Töne einer laufenden Fernsehsendung zu hören, der Tisch ist gedeckt. Meine Schwester verschwindet kurzerhand aus dem Bild. Meine Mutter lehnt sich entspannt am Boden sitzend über die Seite des Sessels, während sie auf den Fernseher blickt. Für einen kleinen Moment beobachtet die Kamera sie unbemerkt. Dann wendet sie den Kopf über die Schulter und lächelt verschmitzt. Der Blick durchdringt die Kamera, er scheint etwas erkannt zu haben, das sich unserer Aufmerksamkeit entzieht. Fluchtartig wendet sie ihren Kopf leicht beschämt zurück, als wäre ein Geheimnis entdeckt worden.

Das zweite Band, diesmal auf einem Campingplatz im Mai, gemeinsamer Familienurlaub. Die Familie sitzt zusammen während eines lauen Abends auf Klappstühlen rings um Tische. Die Kinder spielen, Erwachsene tauschen Geschichten aus, planen den nächsten Tag. Schnitt. Die Kamera befindet sich gegenüber meiner Mutter, sie wirkt müde. Zoom. Meiner Mutter schaut wieder verlegen in die Kamera, sie lächelt. Für einen kurzen Moment herrscht Stille, bis das Gespräch um sie herum fortgesetzt wird. Ihr Augen verlieren die Kamera. Die Kamera schwenkt zu ihrer lesenden Sitznachbarin. Schnitt. Mein älterer Cousin hält mich in den Armen. Wir beide schauen gemeinsam in die Kamera. Mein Vater kommentiert dies kichernd mit einem Phrase, die ich so nur von ihm kenne. Er filmt uns.

Wieder einige Minuten später auf dem zweiten Band, es ist ein Silvesterabend. Im Wohnzimmer sitzt ein befreundetes Paar meiner Eltern auf dem Sofa, meine Mutter zwischen ihnen. Die Kamera befindet sich vom Geschehen unbeteiligt mitten im Raum. Abermals zoomt die Kamera auf das Gesicht meiner Mutter. Sie wirkt irritiert, versucht den Augenblick zu überspielen, vergewissert sich, was geschieht. Wieder nur ein Ausschnitt, dessen Einbettung nicht nachvollziehbar scheint. Die offenbare Willkür des filmischen Eingriffs überschattet die Zeit davor und danach. Anders als bei einer Fotografie, die sich zwar als Abgeschlossen präsentiert, aber erst in sich die Hervorbringung eines Moment birgt, der stets unabgeschlossen ist, bleibt das Video seltsam passiv. Seine mutmaßliche Realität steht nicht in Frage, denn sie legitimiert sich durch die Bewegung. Es ragen jedoch aus diesem steten Fluss der Evidenz Irritationen heraus. Bilder und Töne, die klandestin, den Lauf der Dinge still stellen. Sie erstrecken sich über den Horizont des Visuellen.

III.

Die beschriebenen Bilder mögen banal sein, denn sie sind allgemein bekannt. Wenn nicht in der eigenen Familie, dann sind sie durch das Fernsehen und die Unterhaltungsindustrie seit den 1980er Jahren perpetuiert worden. Das Bewegtbild scheint sich dabei in eine reine Gebrauchsform als Dokument des Alltäglichen zu verwandeln. Filmanalytisch wäre zwar auch diesen Bildern beizukommen, doch bleibt dabei etwas unscharf. Die Naivität lässt sich nicht beschreiben, sie liegt viel mehr zwischen den Bildern. So sind die Aufnahmen einerseits von einer auktorialen Intention geprägt, andererseits verlieren sie ihre Aufmerksamkeit für das filmische Motiv, sobald sie selbst Teil der Szene werden. Wie Sand, der durch Hände rinnt, muten diesen Bilder an, ohne Anfang und Ende. Die Bilder sind nicht montiert, folgen keiner Handlung, aber keines ist überflüssig oder redundant. Reflexionen über das home movie sind nicht neu, sie sind vermutlich ebenso alt, wie das das Medium selbst. Gleichwohl weisen sie stets eine gewisse Aktualität auf: so wie Anfang und Ende, ist dem Video Vergangenheit und Zukunft vorgeblich unbekannt. Man könnte meinen, das Video sei in gewisser Hinsicht Ausdruck des Gegenwärtigen, nichts Utopisches oder Unberechenbares ließe sich darin entdecken, indem es sich der Zeit unwidersprochen – konformistisch – andiene.

Video zeichnet sich in besonderem Maße als Zentrifuge des Familiären aus. So bildet das Fernsehgerät ein Epizentrum des mittelständischen Wohnzimmers, um welches sich herum die Sitzordnung auflöst. Unverrückbar steht es im Raum wie eine Trophäe des bescheidenen Wohlstands. Weltumspannende Ereignisse konzentriert auf seine Fläche. Wo im Kino Abkapselung herrscht, erfordert das Fernsehen Teilhabe. Das massenfähig gewordene Video steht dahingehend für die Kehrseite. Intime Erlebnisse, festgehalten auf Video, bilden nur eine Oberfläche von einer Notwendigkeit, die dieser Bilder hervorbringt – sie erzwingt. Sie sind dabei untrennbar mit ihrer Geschichte verbunden. Trotz ihrer unbedeutenden, alltäglichen Banalität können sie nicht vor der archivarischen Einordnung fliehen. Mit gestempeltem Datum untrennbar versehen, ist es als würden sich die Bilder aus der Zeitgeschichte speisen, sie geradezu sublimieren, Zeugenschaft ablegen.

Ein Bild der eigenen Familie zu sehen, wirkt überraschenderweise ungleich befremdend. Die Erinnerung, aufgeladen von eigenen Romantisierungen und Wünschen, trifft auf ein nicht zu leugnendes Bild vergangener Wirklichkeit. Keinesfalls sind die abgebildeten Menschen nicht zu identifizieren, im Gegenteil: es verwundert wie nah sie der eigenen Vorstellung kommen. Viel eher ist es diese unmerkliche Disruption, durch die narzisstische Naivität der Kamera, welche die eigene Wahrnehmung infrage stellt. Etwas über die Vergangenheit zu erfahren, die in diesen Bildern begraben liegt, ist somit vergeblich, denn sie sind nur ein trügerisches Dokument, obgleich ihrer anmutenden Glaubwürdigkeit. Es ist, als diene jedes Bild nur dazu, die neue Fiktion einer Familie zu bilden. Das Video gibt sich in dieser tautologischen Form selbst recht: „Ich filme, also bin ich.“ An dieser Fetischisierung des Blickes, der sich unbeteiligt wähnt, aber dennoch partizipiert, wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass sich das Video nicht recht gibt, sondern sich selbst überführt.

Denkt man an Video, dann spielt das Subjekt direkt dahinter selten eine Rolle. Wohl eher reizt uns das Gesehene. Fahle Farben, unscharfe Gesichter, pixelhafte Strukturen, helle Schlieren, schlechte Ausleuchtung, verzerrter Ton – all dies könnten ebenso Assoziationen sein. Nichts davon lässt uns dem Inhalt der Bilder näher kommen. Stattdessen gibt einen spürbaren Hang in der Popkultur dieses Objekthafte im Begriff einer ‚Ästhetik‘ zu verdingen. Ästhetik wird dabei zu einer Schrumpfform im Gewand bloßer Äußerlichkeit – eines sogenannten „Looks“ gemacht. Wohlwollend möchte man meinen, so ließe sich Distanz zum gefühlsschwangeren Einheitsbrei der saturierten, gestochen scharfen Adobe-Kulturindustrie dank Arri-Optik und Vollformat-Sensor schaffen. Doch anstatt Brechung wird ein narzisstisches Subjekt unter Zwang im Dienste objektiv-authentischer Totalität gefügig gemacht. In dieser Weise ließe sich tatsächlich von Ästhetik sprechen, einer proprietären Auto-Ästhetik, deren eigensinniger Blick zum Gegenstand gemacht wird.

Video, und dafür steht das sogenannte „home movie“ geradezu paradigmatisch, müsste in erster Linie hinsichtlich seiner spezifischen Teilhabe begriffen werden. Es als einen neutralen Gegenstand zu betrachten, macht es dagegen lediglich zum paradoxen Gebrauch der eigenen Selbstvergewisserung, Teil einer Geschichte zu sein, deren Historizität längst verdinglicht ist. Eine verbissene Suche nach repräsentativer ‚Wahrheit‘ der eigenen Vergangenheit im Material wird davon begleitet. Die proprietäre Auto-Ästhetik besitzt indessen darin ein janusköpfige, doppelte Gestalt. Im Moment der Irritation und Verstörung entrinnt das Video eigensinnig der Gewalt des Gegenwärtigen, indem es unbewusst eine Zukunft adressiert. Es ist nicht einfach so, dass die Toten beginnen auf einmal zu uns zu sprechen, viel mehr wird unter dem Mantel der konkreten Gleichförmigkeit ein Abstraktum enthüllt, das sich nur sinnlich erfahren lässt. Der Blick wendet sich auf einmal gegen das Material. Wenn ich die Aufnahmen anschaue, die meine Eltern von meiner Schwester und mir angefertigt haben, dann spielt das Abgebildete keine Rolle mehr. Es ist allerdings so, als würde ich einen naiven kindlichen Blick erfahren, mit dem man immer wieder neu sehen kann. Ich komme somit der Antwort auf die Frage einen Schritt näher, wie es ist, die Gegenwart durch das Okular oder Display einer Kamera zu begreifen. Dass auch nicht jedes Detail dieses Textes der Realität des tatsächlichen Materials entspricht, gibt zu verstehen, wie sich diese Erfahrung rätselhaft verschleiert darstellt.