Manche Filme wirken, als wären sie aus ihrer Zeit gefallen. München – Berlin Wanderung von Oskar Fischinger aus dem Jahr 1927 scheint einen anderen Filmemacher schon vorwegzunehmen. Man kann sich beim Sehen des Filmes kaum davon abhalten, an die Filme von Jonas Mekas zu denken.
Der Film dokumentiert eine dreieinhalbwöchige Wanderung von München nach Berlin, die Oskar Fischinger unternahm. Er könnte als eine Art travelogue, also als Reisefilm bezeichnet werden. Doch der Film arbeitet nicht mit den üblichen Methoden dieses Genres. Die meisten Reisedokumentationen sind länger als dieser Film, der nur dreieinhalb Minuten dauert. Viele dieser Filme haben eine erklärende Stimme, dieser Film erklärt sich nicht. München – Berlin Wanderung wirkt dabei weniger, wie eine genaue Dokumentation, sondern eher, wie die Erinnerung an diese Reise. Die Bilder flackern nur kurz auf, bevor sie wieder verschwinden. Sie brennen sich direkt in unser Unterbewusstsein. Der Film überfällt und überrumpelt. Man will sich jedes Bild einprägen, doch die schiere Flut überwältigt. Es bleibt nur ein Gefühl. Man weiß, dass ein Mensch etwas gesehen hat. Fischinger hat auf seiner Wanderung Dinge gesehen und er hat Zeugnis davon abgelegt. Wir jedoch können nur noch erahnen, was das Gesehene wirklich war, nur noch einen Eindruck davon bekommen. Es existiert nur noch als eine Folge von Erinnerungsbildern, die vor uns aufblitzen und wieder verschwinden.
Oskar Fischinger ist eigentlich als ein Filmemacher der Bewegung des absoluten Filmes bekannt. Er wird oft zusammen mit Walter Ruttmann und Hans Richter genannt. Dieser Film ist ein untypischer Einzelfall. Erst Jahrzehnte später wurde fortgesetzt was er angefangen hat. Diese schnelle Abfolge von Porträts und Landschaften findet man in den Filmen von Jonas Mekas wieder, den dieser Film angeblich inspiriert haben soll. Wer München – Berlin Wanderung gesehen hat, wird nicht überrascht sein. Er wirkt wie eine Blaupause.
Einige Motive und Bilder bleiben hängen oder wiederholen sich: Das erste Bild zeigt Zugschienen, die sich in die Ferne ziehen. Schienen, die für diese Reise nicht verwendet wurden, welche zur Gänze zu Fuß stattfand. Dann sehen wir immer wieder: Dörfer, Kirchen, Häuser, Blumen und weite Wiesen. Fischingers Kamera trifft auch auf verschiedene Tiere: Schafe und Ochsen, Hunde und Katzen. Doch am stärksten prägen sich die Menschen ein, die wir im Film sehen. Sie posieren für Porträts, die kurz aufleuchten, bevor auch sie, wie alle anderen Bilder, wieder verschwinden: alte Bauern grinsen, junge Mütter stehen mit ihren Kindern vor ihren Häusern , ein kleines Mädchen hält eine Katze in ihren Armen und scheint sich vor der Kamera zu fürchten. Eine Frau wird aus mehreren Blickwinkeln gefilmt. Die Bilder erscheinen in schneller Abfolge. Wir sehen diese Menschen auch bei der Arbeit. Zwischen den Menschen sehen wir immer wieder die schon besagten Dörfer und Gebäude, die Tiere und Landschaften. Das letzte Bild zeigt Wolken im Himmel. In nur dreieinhalb Minuten sehen wir all diese Dinge.
Die Form hinterlässt den Eindruck, dass man gerade die Erinnerung eines Anderen sehen würde. Man stellt sich vor, dass so der Film aussehen muss, den man sieht, wenn man stirbt und das Leben vor einem vorbeizieht.