Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan

Es gehört normalerweise zur Politik von „Jugend ohne Film“, Filme mit ihrem Originaltitel zu benennen beziehungsweise, bei Sprachen, die nicht westliche Schriftzeichen verwenden, den englischen Verleihtitel. Im Fall des Berlinale-Gewinners „Feuerwerk am helllichten Tage“ müssen wir aber eine Ausnahme machen, da der deutsche Titel hier zum einen deutlich näher an der Übersetzung des Originaltitels ist und zum anderen deutlich näher am Film. Denn zum einen prasselt ein regelrechtes Feuerwerk der Wendungen und Überraschungen auf den aufmerksamen Zuschauer ein und zum anderen steht das Feuerwerk am helllichten Tage für Orte und Ereignisse im Film und vor allem für dieses andauernde Gefühl, dass da etwas ist, was man sieht, aber nicht völlig erkennen kann. Das politische Potenzial dieses chinesischen Films ist auf ein ungutes Gefühl verlagert. Damit manövriert sich Diao Yinan so gut es eben geht vorbei an der Zensur seines Landes und macht einen Film, indem es immer noch einen doppelten Boden zu geben scheint bis wir von unserem Verhältnis zu den Bildern selbst sprechen können, das nie ganz sicher ist.

Black Coal, Thin Ice

Der Film erzählt von einer Mordserie in einer trostlosen Arbeitsgegend im Norden Chinas. Es gibt die Neonlichter, die wir aus chinesischen Filmen kennen, aber sie sind spärlich und sie stehen oft als trostlose Dekorationen in den Ecken der grauen Innenräume. Die Handlung beginnt im Jahr 1999 mit der Entdeckung einer zerstückelten Leiche und führt mit fünf Jahren Verspätung auf die Spur einer Frau, die in einem Reinigungsgeschäft arbeitet. Zuvor erlitt Polizist Zhang Zili ein Trauma, da bei der versuchten Verhaftung eines Verdächtigen zwei Kollegen erschossen wurden. Ganz im Stil alter Noir-Klassiker, versucht er seine Sorgen zunächst mit Alkohol in den Griff zu bekommen. In einer beeindruckenden Szene entdecken wir den zerstörten Mann im Jahr 2004 wieder. Wir verlassen einen Tunnel mit einer POV-Einstellung von einem Moped. Wir wissen nicht, wessen POV wir sehen. Plötzlich liegt da Schnee auf der Straße, ein kleiner Schock. Rechts taucht ein Mann am Straßenrand auf. Er liegt völlig betrunken neben seinem Motorrad. Unser POV fährt an ihm vorbei, verlangsamt dabei sein Tempo und dreht langsam um. Erst jetzt erfahren wir, dass es sich um das Jahr 2004 handelt, eine Grafik zeigt es uns an. Wir fahren noch kurz im Kreis und halten dann. Der POV ist jener eines Unbekannten, der das Motorrad des Mannes am Straßenrand stehlen wird und ihm dafür sein Moped überlässt. Wie wir inzwischen erwartet haben, ist der Mann am Straßenrand unser Protagonist. In der Folge rutscht er wieder in die düsteren Welten der Verbrechensbekämpfung und lernt eine gerade durch ihr scheinbare Unscheinbarkeit unberechenbare Femme Fatale kennen: Wu Zhizhen. Sie ist die Hauptverdächtige.

Immer wieder fließen die Übergänge kaum merklich, aber doch fatal durch den Film. Die Zeit ist eine Frage bei Diao Yinan. Nacht und Tag verschwimmen. Der Winter droht, eine ewige Jahreszeit zu werden. Auch der Zeitsprung von 1999 auf 2004 ist ein in sich gekehrtes Gefängnis. Durch den neuen Präsidenten und die damit einhergehenden politischen Veränderungen hat Diao Yinan sicherlich eine bewusste Entscheidung für einen solchen Zeitsprung gewählt, aber er verkehrt sich in einen nostalgischen Existentialismus und ein Überdauern der Zeit, denn unter dem Schutt verbergen sich noch Verbrechen genau wie unter den Bäumen und in den Erinnerungen. Der Film steckt voller vergrabener Dinge, die zwar von der Zeit gezeichnet werden, aber dennoch nie ganz an ihr vorbeihuschen können. Ganz so wie das Moped schon an dem Mann vorbeigefahren ist, aber dann doch noch einmal umdreht. Die Handlungen selbst ereignen sich oft als Zufälle. So geschieht der Mord an den beiden Polizisten zu Beginn nur durch einen Zufall, da die Pistole des Verbrechers aus seiner Jacke vor seine Füße fällt und auch die Ermittlungsarbeit von Zhang ist geprägt von intuitiven Aktionen und spontanen Einfällen und Beobachtungen. Sämtliche Nebenfiguren und Schauplätze sind derart deformiert, dass man irgendwann dem eigenen Blick nicht mehr traut. In einer Dusche bei Arbeitern der Kohlefabrik duscht ein Mann mit T-Shirt über den Kopf gezogen, ein anderer liegt nackt mitten im Raum. So blicken wir auch immer wieder durch angelaufene Fenster, Spiegel oder in Dutch-Angle Perspektiven (ein weiterer Noir-Verweis) auf das Geschehen. Die Wäschereinigung selbst wird nie in derselben Einstellung zweimal gezeigt. Jeder Establishing-Shot des Gebäudes liefert eine neue Perspektive und vielleicht auch eine neue Wahrheit. Wahrscheinlich geht es zu weit das eindrücklichste Mordinstrument des Films, nämlich Kufen von Schlittschuhen, als eine solche neue Perspektive zu betrachten. Schließlich ist es nicht nur eine Zweckentfremdung eines Gegenstandes, sondern dieser Gegenstand befindet sich gewöhnlich unter unseren Füßen, jenseits unserer Blicke. Einmal sehen wir dann, was ein Kollege von Zhang nicht sieht. Ein klassischer Suspense-Moment als ein potenzieller Mörder sich hinter dem Rücken des Polizisten auf einen Angriff vorbereitet in einer rot-beleuchteten Ecke am Rand der Welt.Die Einstellung ist wie so oft im Film eine tableauartige 2er-Einstellung in einer Halbtotale. Handlungen vollziehen sich immer im Raum, nie nur für die Kamera.

Black Coal, Thin Ice3

„Feuerwerk am helllichten Tage“ entfaltet eine Sogwirkung als Fest des Neo(n)-Noir-Thrillers. Fast in jede Szene packt der Regisseur einen kleinen oder großen Twist und vor allem seine Raumsprache ist beeindruckend. So offenbart fast jeder Raum im Film noch ein Geheimnis. Dieses wird manchmal durch Blicke aufgelöst, beispielsweise als Zhang und Wu in einem Riesenrad sitzen und erst nach einiger Zeit klar wird, was man von dort sehen kann und warum sie überhaupt dort sitzen. Zum anderen natürlich durch Bewegung der Figuren wie als sich plötzlich ein kleiner Weg abseits der Eislauffläche offenbart oder durch die Flucht aus einem Restaurant in einen Tanzkeller. Schließlich werden die Räume auch durch Montage und die effektiven Kamerabewegungen, die oft der Logik des Blicks (= Logik des Kinos) folgen, dynamisiert. Immer wenn man glaubt, dass man einen Raum wahrgenommen hat, gibt es einen Schnitt oder eine Bewegung, die einen alles anders sehen lässt. Das fesselnde Ende des Films steckt voller solcher Momente bis man nur noch festhalten kann, dass man nie alles sehen wird. Oder? Sinnbildlich dafür steht eine bemerkenswerte Einstellung in einem Zug. In der Tiefe des Bildes ist durch den Übergang zwischen zwei Wägen, der hintere Wagen zu sehen, der sich aufgrund der kurvigen Gleise immerzu dreht und somit immer wieder unseren Blick auf den Raum verändert. Ähnlich verhält es sich auch auf dramaturgischer Ebene mit den Figuren und ihren Relationen. Die Neigung des Films zu absurden Situationen (man hat das Gefühl, dass frühe Coen-Filme hier Pate standen) und Over-the-Top Momenten hilft dabei, die Unberechenbarkeit aufrecht zu erhalten. Wer hätte gedacht, dass es im Riesenrad zu einer Sexszene kommen würde? Wer hätte gedacht, dass Zhang einen Denis Lavant-Gedächtnis-Tanz hinlegt? Schwarzer Humor dringt immer in das größte Drama und plötzliche Spannung in eigentlich entspannte Szenen. Erwartungen werden in fulminanter Art pulverisiert und alles was einem bleibt, ist dabei zu sein.

Dabei setzt Diao Yinan im Casting und beim Setting auf eine sozialrealistische Alltäglichkeit, die seine Figuren zu irrelevanten Geistern werden lässt. Gefesselt an den Schnee, der heftig vom Himmel kommt, sind sie nicht strahlend, sie bekommen keine Highlights, sie stehen in der Landschaft, die immer ein wenig größer ist als sie selbst. Vielleicht geht dabei ein wenig Noir-Glamour verloren, weil die Faszination an der geheimnisvollen Frau eher aus einer Langeweile und Frustration geschieht, aber vielleicht liegt genau darin auch eine weitere große Qualität des Films. Ein Noir, der außer in einer Szene fast komplett auf Augen verzichtet, der die Zeit nicht mit dem Rauch aus den Mundwinkeln verlangsamt und der nicht schön sein will, sondern es einfach ist. Bei allter Nüchternheit dringt Poesie und ästhetische Schönheit trotzdem durch jedes Bild. Bei aller Kritik, der sich die Berlinale immer wieder stellen muss, sei gesagt, dass sie in diesem Jahrzehnt bei fünf Goldenen Bären, viermal große Filme ausgezeichnet haben, die einen solchen Preis auch absolut verdienen: „Bal“ von Semih Semih Kaplanoğlu, „Nader and Simin, A Separation“ von Asghar Farhadi, „Poziția Copilului“ von Călin Peter Netzer und 2014 „Feuerwerk am helllichten Tage“ von Diao Yinan. Cannes und Venedig scheinen mir keine solche Quote zu haben. Aber so richtig wird man das erst in 50 Jahren wissen.