Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Räume in der Zeit von Alejandro Bachmann

Film Lektüre: Räume in der Zeit. Die Filme von Nikolaus Geyrhalter herausgegeben von Alejandro Bachmann

„Wo sich Krie­ge, Umwelt­ka­ta­stro­phen und der tech­ni­sche Fort­schritt wie­der­keh­rend und fort­lau­fend einen Weg bah­nen, da ver­schwin­det der Mensch lang­sam aus der Welt“, heißt es im Umschlag­text von Räu­me in der Zeit. Die Fil­me von Niko­laus Geyr­hal­ter, der soeben im Son­der­zahl Ver­lag erschie­ne­nen ers­ten Mono­gra­fie über den öster­rei­chi­schen Fil­me­ma­cher. Schon ein Durch­blät­tern des Buchs zeigt, dass es sich hier­bei um ein sorg­fäl­tig kon­zep­tio­nier­tes Werk han­delt, dass sei­nem Gegen­stand um nichts nach­steht. Lan­ge Bil­der­stre­cken laden zwi­schen den Text­bei­trä­gen zum Ein­tau­chen in die Bil­der­welt­ern Geyr­hal­ters ein und sol­len gleich­be­rech­tigt neben den sie­ben Text­blö­cken ste­hen. Man kann einer sol­chen Bebil­de­rung in einem Werk über Film immer kri­tisch gegen­über ste­hen, in die­sem Fall macht sie jedoch Sinn. Geyr­hal­ters Stil eig­net sich durch die fron­ta­le, zen­tral­per­spek­ti­vi­sche Aus­rich­tung sei­ner beweg­ten Bil­der wie kaum ein ande­rer zur Repro­duk­ti­on mit­tels Filmstills.

Das Jahr nach Dayton von Nikolaus Geyrhalter
Das Jahr nach Dayton

Her­aus­ge­ber Ale­jan­dro Bach­mann, der für das Buch eine beein­dru­cken­de Rie­ge an Autoren ver­sam­melt hat, macht im ers­ten von vier län­ge­ren Essays den Anfang. Unzäh­li­ge Ideen, die in sei­nem Bei­trag Erwäh­nung fin­den, zie­hen sich wie ein roter Faden durch das Buch: das Ver­hält­nis von Nähe und Fer­ne, von Men­schen und Orten, von Raum und Zeit. Bach­mann nennt Geyr­hal­ters Kino ein Kino der Spu­ren, Spu­ren die Men­schen in der Welt zurück­ge­las­sen haben. Sei­en es Rei­fen­spu­ren im Saha­ra­sand wie in 7915 km, Spu­ren von Pan­zer­ket­ten am Trup­pen­übungs­platz Allent­steig, Spu­ren von Radio­ak­ti­vi­tät im ukrai­ni­schen Pri­pyat oder Spu­ren des Krie­ges im Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na der Neun­zi­ger­jah­re. Ich hat­te bei Geyr­hal­ters Fil­men immer das Gefühl, dass er sich mehr für Orte und Räu­me, als für Men­schen inter­es­siert, aber es sind eben die Ver­än­de­run­gen der Orte durch den Men­schen, des­sen Spu­ren, für die er sich am meis­ten inter­es­siert. Es geht bei Geyr­hal­ter also immer um das Ver­hält­nis vom Men­schen zu einem spe­zi­fi­schen Raum (und auch zu einer spe­zi­fi­schen Zeit).

Vol­ker Pan­ten­burg schließt in sei­nem Bei­trag in gewis­ser Wei­se an das „Kino der Spu­ren“ bei Bach­mann an, wenn er von einem „Kino des Danach“ schreibt. Geyr­hal­ter, so Pan­ten­burg, besu­che Orte nach­dem etwas vor­ge­fal­len ist, etwas sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen hat, sei es Bos­ni­en nach dem Ver­trag von Day­ton, Pri­pyat nach dem Unfall von Tscher­no­byl oder Dör­fer West­afri­kas nach­dem die Dakar-Ral­lye sie pas­siert hat. Beson­de­res Augen­merk legt Pan­ten­burg auf die Mon­ta­ge, für die Geyr­hal­ter in fast allen sei­nen Fil­men auf die Diens­te sei­nes lang­jäh­ri­gen Cut­ters Wolf­gang Wider­ho­fer zurück­greift. In der Mon­ta­ge sei den bei­den der Über­gang von einer Sze­ne zur ande­ren auf der Mikroebe­ne immer genau­so wich­tig, wie das Ver­hält­nis der Schnit­te zum Gesamt­ein­druck. Die Fil­me set­zen aus einer Abfol­ge von Mikro­er­zäh­lun­gen (wie in Das Jahr nach Day­ton, Pri­pyat, 7915 km oder Über die Jah­re) oder einem Ablauf von bestimm­ten Pro­zes­sen (Unser täg­lich Brot, Donau­spi­tal, Abend­land) eine grö­ße­re Geschich­te zusam­men – eine moder­ne Inter­pre­ta­ti­on dia­lek­ti­scher Mon­ta­ge könn­te man sagen (und tat­säch­lich wird Geyr­hal­ter im Buch an meh­re­ren Stel­len mit Dzi­ga Ver­tov in Ver­bin­dung gebracht).

Angeschwemmt von Nikolaus Geyrhalter
Ange­schwemmt

Über­rascht war ich den Namen Tom Gun­ning zu lesen, der mir eher durch sei­ne Arbei­ten zum frü­hen Kino bekannt ist. Er beschäf­tigt sich mit Unser täg­lich Brot und ver­knüpft den Film mit Dar­stel­lungs­prin­zi­pi­en der Stumm­film­zeit – expli­zit nennt er die sowje­ti­schen Kon­struk­ti­vis­ten und Fritz Langs Metro­po­lis. Im Spe­zi­el­len geht es ihm um die spe­zi­fi­sche Form der Sicht­bar­keit von Maschi­nen („Maschinen-Porno(grafie)“), die Unser täg­lich Brot mit die­sen Fil­men gemein­sam hat. Geht man noch wei­ter zurück in der Zeit, fin­den sich auch Par­al­le­len zu vor-nar­ra­ti­vem Kino, das mehr dar­an inter­es­siert ist zu zei­gen als zu erzäh­len. Unser täg­lich Brot ist für Gun­ning eben­falls mehr dar­an inter­es­siert eine Form von Spek­ta­kel (sei es fas­zi­nie­rend oder absto­ßend) zu zei­gen, als zu nar­ra­ti­vi­sie­ren: ein span­nen­der Gedan­ke, lei­der geht der Text jedoch nicht über Unser täg­lich Brot hin­aus und ver­säumt damit grö­ße­re Struk­tu­ren im Schaf­fen Geyr­hal­ters aufzudecken.

Im letz­ten der vier län­ge­ren Essays setzt Bert Reb­handl eben­falls bei Unser täg­lich Brot an, kommt aber schon bald zu einem ähn­li­chen Schluss wie Vol­ker Pan­ten­burg: „Erst wenn man sie [Geyr­hal­ters Fil­me] auf das impli­zi­te Gan­ze hin befragt, das sich in ihnen spie­gelt, geben sie ihren Sinn preis.“ Dabei geht er jedoch noch einen Schritt wei­ter: Nicht nur auf der Ebe­ne der ein­zel­nen Fil­me bezie­hungs­wei­se der ein­zel­nen Schnit­te müs­se die Ver­bin­dung von Mikro- und Makro­ebe­ne berück­sich­tigt wer­den, son­dern der Blick aufs Gesamt­werk müs­se eben­falls immer gewahrt wer­den. Reb­handl unter­nimmt also einen kon­zi­sen Park­ur­lauf durch Geyr­hal­ters Oeu­vre in der die ein­zel­nen Fil­me sehr schön zuein­an­der ins Ver­hält­nis gesetzt wer­den. Man könn­te Reb­handls Fazit etwa so para­phra­sie­ren: Es ist der ste­te Kampf zwi­schen Kon­kre­tem und Abs­trak­tem, der die Beson­der­heit von Geyr­hal­ters Fil­men ausmacht.

Abendland von Nikolaus Geyrhalter
Abend­land

Auf die­se vier Essays fol­gen zwei Inter­views, eines mit Geyr­hal­ter selbst, das ande­re mit Wolf­gang Wider­ho­fer, die in vie­ler­lei Hin­sicht die The­men der ande­ren Tex­te auf­grei­fen und aus Pro­duk­ti­ons­sicht reflek­tie­ren. So bezieht sich Wider­ho­fer zum Bei­spiel auf die Fra­ge nach künst­le­ri­schen Ein­flüs­sen bei Unser täg­lich Brot unter ande­rem auf jene Fil­me­ma­cher, die auch Gun­ning in sei­ner Ana­ly­se vor­schlägt. Im letz­ten Text­block ist schließ­lich noch jedem der zwölf Fil­me von Geyr­hal­ter ein kur­zer Essay gewid­met. Danach lohnt es sich jedoch wei­ter­zu­blät­tern, denn auf den letz­ten Sei­ten ver­birgt sich ein klei­ner Schatz: neben einer Samm­lung an Bespre­chun­gen zu Geyr­hal­ters Arbei­ten, fin­det sich dort eine umfang­rei­che Biblio­gra­fie zu Doku­men­tar- und Essayfilm.

Es ist gut und wich­tig, dass Niko­laus Geyr­hal­ter nun eine Mono­gra­fie gewid­met wur­de und ein wei­te­rer Schritt in der publi­zis­ti­schen Auf­ar­bei­tung des groß­ar­ti­gen öster­rei­chi­schen Doku­men­tar­film­schaf­fens der letz­ten Jahr­zehn­te. So befin­det Bach­mann: „Weil sie es beto­nen, fas­zi­niert an den Fil­men Niko­laus Geyr­hal­ters genau das was am Kino ohne­hin das Span­nends­te – weil nie ganz auf­zu­lö­sen – ist: jener (nur schein­ba­re) Wider­spruch zwi­schen sei­nem Poten­zi­al, die Welt auf­zu­zeich­nen und den Mög­lich­kei­ten des for­ma­len, künst­le­ri­schen Ein­griffs – Dich­tung und Wahrheit.“