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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Film und Baukunst: Zu einigen Filmen von Manoel de Oliveira

Ein sichtlich betrunkener Nachtwächter torkelt durch die Gassen eines heruntergekommenen Viertels in Lissabon. Mit jedem Schritt über die grob gepflasterten Treppen, meint man ihn Fallen zu sehen. Jedes Mal hält er aber die Balance, bekommt eine Mauer, ein Geländer zu greifen. Er kramt in seiner Tasche, holt einen Flachmann hervor, genehmigt sich einen weiteren Schluck, während es langsam hell wird. Dieser Nachtwächter tritt zu Beginn von Manoel de Oliveiras A Caixa auf, einem schwierig einzuordnenden Film, zwischen Schmierenkomödie, Milieustudie und griechischer Tragödie. Im weiteren Verlauf des Films spielt der Nachtwächter keine Rolle mehr, doch abgesehen davon, dass diese Anfangsszene brillante Slapstick-Einlagen zeigt, hat sie noch eine andere wichtige Funktion. Sie vermisst den Ort des Geschehens, durchwandert die engen, ansteigenden Gassen dieses Viertels, dass der Film nie verlassen wird. Die hohen, aber schmalen Häuser, der Handlauf in der Mitte des gepflasterten Wegs, die Torbögen und Durchgänge, die das Ende der Gasse darstellen und sich hin zu einem anderen Lissabon öffnen, das der Film vollkommen ausschließt.

Oliveira und die Orte

Es kommt nicht von ungefähr, dass ein Film von Manoel de Oliveira mit so einer filmischen Kartographie eines bestimmten Ortes beginnt. Orte sind für Oliveira sehr wichtig, das können Häuser, Stadtviertel oder ganze Städte sein, allen voran natürlich seine Heimatstadt Porto, in der die meisten seiner Filme spielen und der er mit Porto da minha infância einen eigenen Film gewidmet hat. Aber mehr noch als das Aufspüren, das Kennenlernen und das Auswählen eines Ortes, haben Oliveiras Filme eine unbestimmte Qualität diese Orte in Szene zu setzen. Entscheidender noch, als der Umstand, dass A Caixa mit einer Vorstellung eines Ortes beginnt, ist die Art und Weise, wie Oliveira ihn vorstellt: Das leichte Schwanken der Kamera, die dem Nachtwächter folgt, das langsame Durchtasten des engen Raums der Häuserschlucht, die Menschenleere, die langsam der morgendlichen Hast weicht, der die leicht heruntergekommenen Häuserfassaden trotzen.

Die Art der Inszenierung wiederum hat mit Oliveiras Verbindung zur Architektur zu tun. Orte, Bauwerke, Architektur, Filme: Patrick hat einmal einen Vortrag zu diesem Themenkomplex in den Filmen von Oliveira am Beispiel von Visita ou Memórias e Confissões gehalten. An anderer Stelle hat er nochmal über denselben Film geschrieben. Ich möchte seine beiden Texte als Grundstock nutzen, um auf andere Stellen in Oliveiras Filmographie hinweisen, in denen Architektur eine bedeutende Rolle spielt.

Es gibt viele Meinungen darüber, wie sich das Kino zur Architektur verhält. Helmut Färber hat vor Jahren einmal ein Buch darüber geschrieben, was sie verbindet (und trennt). Peter Kubelka spricht oftmals über Architektur, dass sie eigentlich nur in der Bewegung wahrgenommen werden kann und dass deshalb ein Film, um Architektur fassbar zu machen, das Umherschweifen des Blicks nur durch eine rasche Abfolge von Einzelbildern simulieren kann. Konträr dazu funktionieren manche Filme aus dem Genre des Architekturfilms, wie etwa die Architekturstudien von Heinz Emigholz, die lange, statische Einstellungen aneinanderreihen. Andere Architekturfilme wiederum, beispielsweise jene von Lotte Schreiber oder Sasha Pirker, bemühen sich eher darum die Atmosphäre eines Bauwerks einzufangen, als seine äußere Erscheinung filmisch zu reproduzieren.

Architektur, Filme

Manoel de Oliveira macht keine Architekturfilme. Aber es fällt ins Auge, wie prominent manche Bauwerke in seinen Filmen in Szene gesetzt werden, und wie anders das bei ihm aussieht, als bei anderen Filmemachern, immer scheint er genau die richtigen Punkte eines Gebäudes und die richtige Perspektive darauf zu finden, um seinen Geist zu erschließen. Im Fall von Visita ou Memórias e Confissões funktioniert beinahe der ganze Film nach diesem Muster. Das langsame Annähern von außen, schweifende Blicke durch die Innenräume. Oliveira kannte dieses Haus sehr gut, er hatte fast vierzig Jahre darin gelebt, und er wusste, wo er die Kamera positionieren muss, um den richtigen Eindruck davon zu vermitteln.

Chafariz das Virtudes von Manoel de Oliveira
Chafariz das Virtudes von Manoel de Oliveira

Für den Viennale-Trailer 2014 filmte er den Brunnen Chafariz das Virtudes in Porto. In einer einzigen Einstellung zeigt er nur die beiden wasserspeienden Köpfe am Fuß des barocken Brunnens, der einige Meter hoch ist. Eine Detailaufnahme eines Bauwerks, die keiner Ergänzung bedarf.

Großartig auch die Szene am Grabmal des Schriftstellers Camilo Castelo Branco am Ende von O dia dos desespero. Mit nur wenigen Einstellungen rahmt Oliveira hier den Film über den Schriftsteller, dessen Roman Amor de Perdição er einige Jahre zuvor verfilmt hatte. Das Grabmal als Monument, das einerseits die sterblichen Überreste des Autors beherbergt, und andererseits den Film abschließt.

In der Bovary-Variation Vale Abraão spielen gleich drei Häuser eine zentrale Rolle. Romesal ist das Geburtshaus von Ema, auf dessen Terrasse die Protagonistin als 14-Jährige den vorbeifahrenden Autolenkern den Kopf verdreht und Unfälle verursacht; nach ihrer Hochzeit zieht sie nach Vale Abraão, dem Herrenhaus der Familie ihres Ehemanns; nachdem die Ehe sie langweilt und frustiert, flüchtet sie sich schließlich nach Vesúvio, dem Wohnsitz von Fernando Osorio, einem Freund der Familie und Emas halbgeheimen Liebhaber. Während der Film Romesal und Vale Abraão zumeist von innen zeigt, bekommt Vesúvio seinen ersten Auftritt in einer großzügigen Totale. Freistehend, am Ufer des Douro ist es minutenlang in einer statischen Einstellung zu sehen, während eine Stimme aus dem Off die Vorkommnisse im Inneren schildert. Ein starker erster Eindruck für einen Ort, der anders als die beiden vorangegangenen Häuser kein Ort der Ruhe, der Heimeligkeit, der Familie ist, sondern einer des Abenteuers, des Geheimen, das ausgespäht werden will.

Alle diese Momente haben kein einendes Element, anhand dessen man die Beziehung von Oliveira zur Architektur kurz und knapp charakterisieren könnte. Jedes Gebäude, so scheint es, verlangt seine eigene Inszenierungsstrategie: das bewundernswerte ist aber – Oliveira scheint immer die richtige zu finden, scheint immer den richtigen Sinnzusammenhang zu finden, in dem er die Bauwerke präsentiert. Diese Sinnzusammenhänge entstehen durch eine bunte Mischung von Motiven aus anderen Künsten für die Oliveira im Laufe der Jahre eine ausgefeilte Kombinatorik gefunden hat.

Es gibt wenige Filmemacher (Straub-Huillet zählen sicher dazu), die so präzise und souverän mit den Ideen anderer umgehen, Material aus anderen Künsten in ihre Filme einfließen lassen, und daraus einen eigenen Stil entwickeln. So wie sich ein Text über Oliveiras Verhältnis zur Architektur verfassen lässt, so könnte man auch darüber schreiben, wie er literarische Stoffe umsetzt, etwa die langen Voice-over-Passagen in Vale Abraão, O dia dos desespero, oder Amor de Perdição, einem Film, der wie wenige das Gefühl des Romanlesens evoziert und dabei trotzdem dem Filmischen total verhaftet bleibt. Oder aber man könnte über den auffälligen Einsatz von (klassischer) Musik schreiben, am prominentesten vielleicht jene von Felix Mendelssohn in O Passado e o Presente. Interessant ist auch die Beziehung von Oliveiras Filmen zum Theater, etwa die Operettenszene in Porto da minha infância, in der Oliveira selbst einen portugiesischen Operettenstar seiner Jugend verkörpert oder seine Adaption von José Regios gleichnamigem Theaterstück in Benilde ou A Virgem Mãe – Luís Miguel Cintra, der selbst in einigen von Oliveiras Filmen mitgespielt hat, hat dieses Themenfeld für Cinema Comparat/ive abgedeckt.

Der große „Borger“

Cintra spielt in A Caixa die Rolle des blinden Mannes, dem die namensgebende Büchse gehört, mit der er Almosen sammelt. Er sitzt vor einem der Häuser, die die enge Gasse säumen, die Oliveira so unnachahmlich in Szene setzt. Eine Häuserschlucht in einem Armenviertel, der er mit ebenso viel Respekt begegnet wie den majestätischen Villen im Dourotal. Die Bälle, die in diesen Herrenhäusern für die Oberen Zehntausend abgehalten werden, finden ihre Entsprechung in der surrealistischen Ballettsequenz in A Caixa, in denen die heruntergekommenen Gassen zur Theaterbühne werden. Auch hier gilt: die Architektur entfaltet sich durch die Zusammenführung mit „geborgten“ Elementen anderer Künste.

Oliveira ist der große „Borger“ der Filmgeschichte. Film als Kunst gestaltet sich bei ihm als eine (keineswegs willkürliches) Sammelsurium aus äußeren Einflüssen, die er zu einem feinen Muster verwebt. Tanz, Theater, Literatur und eben Architektur sind seine Referenzpunkte. Die mediale Vermittlung über den Film nimmt er sehr ernst, so ernst, dass sich daraus ein ganz eigener Stil entwickelt, der sehr viel mit intellektueller Überforderung zu tun hat. In Filmen, die scheinbar stringent einer Erzählung folgen, tut sich ein Meer aus Bezügen auf – und genau darin liegt die filmische Qualität Oliveiras: das Vermögen des Films andere Künste in sich aufzunehmen und zusammen mit ihnen zu wachsen.