Heimsuchungen

Es folgt ein idealistischer Text, den einige wenige Personen womöglich verstehen können. Für alle anderen sei gesagt, dass es sich hierbei nicht um eine Fantasie handelt.

Wenn das Kino ein Haus wäre, wüssten wir nicht wie wir hinkämen. Wir wären schon da. Es ginge eine Treppe hinab wie in Céline et Julie vont en bateau von Jacques Rivette und dort irgendwo wäre es. Die Türen wären verschlossen. Man hätte das Gefühl: Hier war mal irgendwas, irgendwer. Man würde wissen wollen, was hinter der Tür ist. Man würde klopfen, durch Fenster spähen, um das Haus herumgehen. Man würde Dinge aus dem Haus hören. Irgendwann würde man merken, dass man gleichzeitig bereits im Haus sein würde. Man würde nach draußen blicken, den Wein riechen, die Wespen hören. Man würde alles sehen, ergriffen sein. Man würde es an der Tür klopfen hören und niemals würde man sich öffnen. Nichts davon würde im Konjunktiv geschehen. 

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Es hat mich immer begeistert wie sich in Céline et Julie vont en bateau, El espíritu de la colmena von Victor Erice und Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira drei ganz ähnliche, von Wein umgarnte Häuser als Ideen des Kinos manifestieren. Bei Rivette ist es eine rauschhafte Fantasie, nie greifbar, irgendwie riesengroß und winzig zugleich. Es gibt dieses Haus im Film, in dem plötzlich ein anderer Film abläuft. Das Kinohaus hat etwas Geheimnisvolles, deshalb liebt Rivette das Kino und das Kino liebt Rivette. Man schluckt Pillen und ist dort und wenn man rauskommt und sich nicht mehr erinnern kann, hat man Pillen im Mund, kleine bunte Pillen. Trotzdem sind die Türen verschlossen, sie öffnen sich plötzlich und unheimlich. Dieses Haus wird aufgesucht, man fragt danach, es steht irgendwie da. Es ist eine unbegreifliche Sache dieses Haus, immerzu lachen Céline und Julie, wenn sie weinen und sie weinen, wenn sie lachen. Es erinnert an Por primera vez von Octavio Cortázar, diese erste Begegnung mit dem Kino, diese Neugier auf etwas, das vielleicht eine Party ist, vielleicht ein Tanz. Die weit aufgerissenen, furchterregten Augen von Kindern, die Schreie am Anfang von Sombre von Philippe Grandrieux, Kinderschreie schrecklicher Angst, die nie genug bekommen können. Weit aufgerissen wie jene von Ana Torrent im Kino und dann zuhause in ihrem Haus in El espíritu de la colmena. In diesen Sekunden, in denen man die Augen nicht schließen kann, obwohl man will, altert man. In diesen Sekunden existiert Zeit. Man denkt an Ten Minutes Older von Herz Frank, ein Film in diesem Haus. Man will zurückkehren, man will immer wieder heimkehren in dieses Haus. Man ist nie wirklich dort.

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Bei Rivette erinnert die Szenerie im Inneren des Hauses mehr an Fernsehen als an Kino. Allerdings ist das eine sehr oberflächliche Betrachtung, die am Szenenbild, am Gestus des Gezeigten hängenbleibt. Vielmehr versteht man nie, was dort wirklich vor sich geht, es gibt ein in diese Oberflächlichkeit eingebautes Rätsel, das sich zum einen durch das Prinzip der Wiederholung entfaltet und zum anderen in kleinen Merkwürdigkeiten wie den tödlichen Blumen, die zu Bildern werden, die nichts und alles bedeuten wie so oft bei Rivette, Bilder, die zugleich in diesem Haus sind und sehr weit davon entfernt. Rivette ist ein Mann der Häuser, die das Kino sind. Labyrinthische Spiegeldecken wie in L’Amour par terre, große Türen und Rahmen ins Licht wie in La belle noiseuse, versteckte Schatten verbergen Gemälde und Schlüssel wie in La bande des quatre, es gibt immer etwas, was wir noch nicht gesehen haben, immer etwas tieferes, was durch den unerbittlichen Motor und Hauch der Zeit verdrängt und hervorgekehrt wird. Bei Rivette werden keine Geheimnisse freigelegt, sie befreien sich viel mehr und werden zu Bewohnern seiner Häuser, die man Filme nennt. Außerdem generiert sich für Céline und Julie in diesem Haus ein Zusammensein, ein Kinoerlebnis, denn es ist auch ein Ausgeliefertsein. Sie sitzen lachend zusammen und beginnen irgendwann gemeinsam in dieses Haus zu gehen, egal ob tatsächlich oder imaginär, gemeinsam die Pillen zu schlucken. Dann verschwinden sie und sind im Haus. Zwar gibt es eine Sequenz, in der klar wird, dass auch ein Ausstieg möglich ist, aber letztlich treibt es die beiden immer weiter in die Tiefe durch die Oberflächen hindurch. Das Kinohaus ist ein Haus der Wiederkehr, der Heimsuchung.

Das zeigt auch Manoel de Oliveira in seinem Visita ou Memórias e Confissões, in dem zwei fast unsichtbare Besucher nach dem Filmemacher in seinem Haus suchen. Das Kinohaus muss ein Geisterort sein, denn die Bilder kommen aus der Vergangenheit, sind aber in der Gegenwart. Bei Rivette, de Oliveira und Erice gibt es das Motiv der Heimsuchung in diesen Kinohäusern. In einem Wechselspiel aus Vertrautheit und Fremdheit oder eher der Dringlichkeit, in der Vertrautheit in Fremdheit umschlägt und Fremdheit und Vertrautheit, öffnen sich die Fenster und ermöglichen eine Heimsuchung des Kinos. Es ist das, was einen in Erwartung versetzt. Zum Beispiel das vom Wind geöffnete Fenster. Sie sind ein Fremdgeist in der Vertrautheit und wir spüren sie nie so stark wie im Kino. Doch es ist eben nicht nur Angst, die sich darin entflammt, sondern auch Begehren, ja Sucht. So kehrt das junge Mädchen in El espíritu de la colmena an den Ort zurück, an dem sie ihre tote Schwester auf dem Boden liegend vermutet. Doch die Schwester, die ihr nur einen Streich spielt, ist nicht tot. Sie lauert mit einem riesigen Handschuh hinter ihr. Das erstaunliche: Das junge Mädchen scheint fast darauf zu warten, auf den Schrecken, der nur einmal im Film wirklich ausbricht, und zwar als die beiden Geschwister nach dem Kino heimkehren. Sie schreien, als würde Frankensteins Monster, das sie gerade im Kinohaus gesehen haben sie verfolgen. Man flieht nicht vor dem Kinohaus. Man flieht nur vor der Erinnerung daran. Im Kinohaus gibt es keine Flucht, es gibt nur Träume und Albträume, in die man immer wieder zurückfällt. Das hat Chantal Akerman in ihrem letzten Film, No Home Movie gezeigt. In einer Nacht erwacht die Filmemacherin und/oder die Kamera nach einem Traum und geht durch die Wohnung, es ist eine Art Nachbild des Traumes, denn dieser Gang wird zum Albtraum für den Betrachter, ein geteilter Albtraum in einem Haus, in dem das Vertraute plötzlich fremd wirkt.

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Stellt man eine Kamera in ein Haus, ist es eine Fiktion. Es gibt Auf- und Abtritte wie bei Ernst Lubitsch oder in Cristi Puius Sieranevada. Es gibt eine Intimität, eine räumlich bedingte Nähe. In einem Haus spielt man immer Theater. Rivette hat das Theater in L’Amour par terre auch deshalb in ein Haus gelegt. Das heißt nicht, dass ein Haus etwas repräsentiert, dass in einem Haus etwas repräsentiert werden muss. Ein Haus kann auch einfach nur sein. Aber die Kamera in diesem Haus setzt die Personen und Objekte im Haus in eine Relation zum Haus. Der Reichtum von De Oliveira, die Bourgeoise-Geheimnisse bei Rivette, Reichtum und Spärlichkeit bei Erice. Alles ist immer ein Spiel wie jenes zunächst unschuldige Spiel der Mädchen bei Erice, der Freundinnen bei Rivette, der geisterhaften Besucher bei De Oliveira. Ein Spiel, das sich fragt: Gehe ich noch einen Schritt weiter in die Fiktion, vielleicht in den Keller, vielleicht in den Dachboden? Wie könnte man eine Kamera in ein Haus setzen ohne Fiktion? Jedes Zimmer ist eine neue Geschichte, ein neuer Blick, eine neue Möglichkeit. Jede Tür, jede Schublade, jeder Vorhang verbirgt ein Geheimnis. Jede Distanz wird zu einer Nähe im Haus.

Es findet in den drei Filmen von Rivette, Erice und De Oliveira immer auch ein Dialog zwischen Häusern statt. Die Reise vom einen Haus ins andere, die Heimkehr und Wiederkehr vermischen. Denn man lernt die Räume auch kennen, sieht sie mehrfach, die Fenster, die Türen, die Wege. Die Häuser erlauben den Filmemachern zeitliche Aspekte des Kinos räumlich zu fassen. Sei es durch das Licht, das durch die Fenster kommt oder etwa das, was vor dem Fenster passiert, während man hinter ihm ist und hinter dem Fenster, während man vor ihm ist wie in Jean Renoirs La chienne. Ein Film wie das Fenster im Kinohaus. Sei es durch Blicke durch die Fenster- und Türrahmen. Fenster, die Blicke bedeuten und das Stillstehen von Zeit, das Nichts einer Gleichzeitigkeit wie etwa bei Sharunas Bartas in Coridorius oder hinaus ins ferne, einsame Ungewisse wie bei John Ford. Diese Häuser bewegen sich. Man denke an das hysterische Licht von der Straße, das im Haus von Jeanne Dielman wie der sichtbare Ausdruck einer in sich verborgenen Gefühlswelt durch die Zeit arbeitet, die immer gleiche Zeit in diesen immer gleichen Zimmern. Das haben diese Kinohäuser alle gemeinsam. Diese Wiederholungen, die sie immer wieder in die gleiche Form bringen wollen und sollen. Ein architektonisches Verständnis für das Drama eines Hauses. Joanna Hogg hat diesen inneren Dialog der filmischen Sprache in ihrem Exhibition auf die Spitze getrieben. Dort zeigt sich nicht nur wie eindrücklich Häuser das Doppelverhältnis von Sehen und Gesehen-Werden in sich tragen können, sondern auch welche Heftigkeit von einer Veränderung des Kinohauses ausgeht. Die Spuren in Häusern, wenn man so will. Man denkt an Hitchcocks Rebecca, ein großer Film der Heimsuchung in der ein Verbrechen in der Vorstellung eines Hauses weiterlebt. In einer Szene projiziert der Mann einen Film in diesem Haus und das flackernde Licht lässt das Haus im Kino verschwinden, macht Haus und Kino zu einer Sache. Auch in Dillinger è morto von Marco Ferreri gibt es dieses Auflösen von Kinobildern im Heim, das immer auch ein heimliches Begehren, Bedauern in der Auflösung bedeutet. In El espíritu de la colmena gibt es am verlassenen Haus auf dem Feld einmal tatsächlich eine Spur. Ein Fußabdruck, der das junge Mädchen an Frankensteins Monster erinnert. Warum bringt einen das so aus der Fassung? Es ist im Kino angelegt, dieses Spannungsverhältnis zwischen Gewohnheit und Überraschung. Zwischen der Erwarteten, dem Erwartbaren, dem was man erwartet nicht zu erwarten und dem was mich nicht erwartet zu erwarten. Am Anfang ist da ein Vorhang, eine Tür. Wir klopfen oder klingeln. Jemand wird öffnen oder nicht. Wir treten ein oder schleichen herum. Wir nehmen Teil oder beobachten. Wir werden angesehen oder nicht. Wir verstecken uns oder ziehen uns aus. Wir halten alles für möglich und nichts für wahrscheinlich.

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Schließlich gibt Rivette am Ende von Céline et Julie vont en bateau dem Kinohaus genau jene Umkehr, die die wahre Heimsuchung bedeutet: Das Haus ist auch außerhalb des Hauses. Die Bewohner des merkwürdigen Schauspiels dort existieren in der Welt, die wir für außerhalb des Hauses hielten. Wie die Angstschreie vor Frankenstein. Man könnte es etwas platt als Imagination beschreiben, um die es in diesen Häusern und entfernt von ihnen geht. In Wahrheit ist es aber eine Wahrnehmung, eine Lebensweise. Das Kinohaus ist keine Sache, die man wirklich betreten oder verlassen kann. Man trägt es in Augen und Ohren. Die ganze Welt ist entweder ein Kinohaus oder nicht. Das Kino sucht ständig alle Orte heim, macht sie zu einem Heim des Kinos. In El espíritu de la colmena zeigt sich das ganz besonders deutlich. Dort kann jedes Haus zum Kino werden, der Film beginnt auch mit einem Wanderkino. Das Kino kommt in die Häuser, sucht die Häuser heim.

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