Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

James White von Josh Mond

Filmfest Hamburg Diary: Tag 5 und 6: Walter Benjamin und die Schauspieler

Es gibt hier ein Kino, das heißt Pas­sa­ge – ich muss an Wal­ter Ben­ja­min denken.

Das kaum von Wol­ken getrüb­te spät­som­mer­li­che Wet­ter in Ham­burg weicht unan­ge­neh­men, grau­en Herbst­wet­ter. Womög­lich liegt das an mei­ner Ankunft, viel­leicht weint der Him­mel aber auch, weil Patrick im Begriff ist abzu­rei­sen. Im Land der Fisch­köp­fe fei­ern wir bei einer wohl­schme­cken­den Foli­en­kar­tof­fel (Kum­pir) Abschied. Patrick kehrt zurück nach Wien, mich zieht es nach Ber­lin (redak­tio­nel­le Expan­si­on also). Bevor es soweit ist, füh­re ich aber das Film­fest-Tage­buch fort. Ein Kol­lek­tiv­ta­ge­buch – wür­de das Wal­ter Ben­ja­min gefallen?

Dheepan von Jacques Audiard
Dhee­pan von Jac­ques Audiard

Eine skur­ri­le Quer­ver­bin­dung erlaubt es mir, es Patrick gleich­zu­tun und mit mei­nem Tage­buch­ein­trag gleich zwei Tage zu erfas­sen. Die Ver­bin­dungs­glie­der, um die es sich dabei han­delt, sind klas­si­sche Fes­ti­val­er­fah­run­gen; Zufalls­be­geg­nun­gen, die man macht, wenn man aus einer unüber­schau­ba­ren Fül­le an Fil­men, eine rela­tiv will­kür­li­che Aus­wahl trifft. Zwei Tage hin­ter­ein­an­der war es jeweils ein bestimm­ter Schau­spie­ler, der eine Rah­mung anbot. Am ers­ten Tag war es Marc Zin­ga, der Haupt­dar­stel­ler von Qu’Al­lah bénis­se la France. Den Film habe ich eigent­lich nur gese­hen, da ich gera­de nichts Bes­se­res zu tun hat­te, und kei­ne Lust hat­te die Loca­ti­on zu wech­seln. Zwei Fil­me stan­den zur Aus­wahl, und ich ent­schied mich gegen Songs My Brot­her Taught Me, ohne das wirk­lich begrün­den zu kön­nen, zumal die Prä­mis­sen alles ande­re als opti­mal waren: Qu’Al­lah bénis­se la France ist ein Bio­pic über den fran­zö­si­schen Rap­per Abd al Malik, der damit sein Film­re­gie­de­büt ableg­te. Doch der Film prä­sen­tier­te sich ganz anders als ich befürch­tet hat­te. Qu’Al­lah bénis­se la France ist eine unauf­ge­reg­te Cha­rak­ter- und Milieu­stu­die in stim­mi­gem Schwarz-Weiß. Die Bil­der sind fabel­haft, das Schwarz-Weiß wirkt nie wie ein bil­li­ges Gim­mick, son­dern als wäre schon beim Dreh auf eine geeig­ne­te Farb­pa­let­te geach­tet wor­den. So wirkt der Film visu­ell sehr orga­nisch und stim­mig. Dar­über hin­aus ver­mei­det Abd al Malik Sche­ma­ta, die man aus ande­ren (Musi­ker-) Bio­pics kennt; gro­ße Höhen­flü­ge und gro­ße Tief­schlä­ge blei­ben glaub­haft und wer­den rela­tiv nüch­tern auf­ge­ar­bei­tet. Viel­leicht liegt das dar­an, dass Abd al Maliks Leben dann doch nicht so auf­re­gend ist, wie das der grim­mi­gen US-Gangs­ter­rap­per, oder er es ganz ein­fach nicht nötig hat auf­zu­bau­schen, was in den Vor­or­ten Straß­burgs pas­siert. Die Lebens­welt im ban­lieu Neu­hof scheint nicht so weit ent­fernt zu sein, von der eige­nen Lebens­er­fah­rung, wie die groß insze­nier­ten Ban­den­krie­ge in ver­gleich­ba­ren ame­ri­ka­ni­schen Pro­duk­tio­nen. Marc Zin­ga bril­liert in Qu’Al­lah bénis­se la France in der Rol­le des Abd al Malik und trägt sei­nes dazu bei, dass der Film mich per­sön­lich sehr posi­tiv über­rasch­te. Spä­ter am sel­ben Tag soll­te mir Zin­ga noch ein­mal unter­kom­men. In einer klei­nen Neben­rol­le im dies­jäh­ri­gen Can­nes-Gewin­ner Dhee­pan, spielt er Yous­souf, den Kon­takt­mann des Prot­ago­nis­ten, der die­sem sei­nen neu­en Job als Haus­meis­ter erklärt. Auch in Dhee­pan sieht man das Leben in den fran­zö­si­schen ban­lieus. Doch endet der Film in einer blu­ti­gen Abrech­nung in Ram­bo-Manier und ver­liert dadurch jeden Fun­ken an Glaub­wür­dig­keit, die er in der ers­ten Stun­de so sorg­fäl­tig auf­ge­baut hat. Bis dahin zeigt der Film auf sehr ein­dring­li­che Art, mit wel­chen Pro­ble­men Ein­wan­de­rer, in die­sem Fall Kriegs­flücht­lin­ge, kon­fron­tiert sind. Lei­der ver­liert der Film im letz­ten Drit­tel sei­ne Balan­ce, die Ambi­va­lenz von unbe­wäl­tig­tem Kriegs­trau­ma, Hoff­nung, Hoff­nungs­lo­sig­keit und Schock wird in einer Bal­ler­or­gie in den Wind geschossen.

Qu'Allah bénisse la France! von Abd al Malik
Qu’Al­lah bénis­se la France! von Abd al Malik

Den nächs­ten Tag „präg­te“ Ron Living­ston of Office Space-Fame, der in den bei­na­he zwan­zig Jah­ren seit sei­nem Durch­bruch sein Äuße­res kaum ver­än­dert hat (den­noch muss­te ich auf die End­cre­dits war­ten, um sein Gesicht einem Namen zuzu­ord­nen). In James White spielt Living­ston Ben, einen Freund des kürz­lich ver­stor­be­nen Vaters des Prot­ago­nis­ten. Die­ser Prot­ago­nist ist einer die­ser hoff­nungs­lo­sen Loser, die sich im ame­ri­ka­ni­schen Inde­pend­ent­ki­no Sundance’scher Prä­gung im Moment gro­ßer Beliebt­heit erfreu­en. Sein Gesicht dürf­te man den­noch nicht so schnell ver­ges­sen. Der Grund dafür ist eine zwei­fel­haf­te for­ma­le Ent­schei­dung der Fil­me­ma­cher, den Film qua­si kom­plett mit Hand­ka­me­ra in Nah- und Halb­nah­auf­nah­men zu dre­hen. Der wild her­um­hüp­fen­de, schlecht­ra­sier­te Kopf von James White hat sich mir ins Gehirn gebrannt. Hier zeigt sich aller­dings, dass es nicht immer rat­sam ist, eine Sache kon­se­quent durch­zu­zie­hen. Übli­cher­wei­se bin ich ein gro­ßer Ver­fech­ter von Kom­pro­miss­lo­sig­keit, aber gera­de ange­sichts der The­ma­tik – der Vater ist soeben gestor­ben, die Mut­ter lei­det an Krebs – wäre etwas Distanz ange­bracht gewe­sen, um Raum zur Kon­tem­pla­ti­on zu geben. James White gibt einem prak­ti­schen kei­ne Gele­gen­heit das Gezeig­te zu ver­ar­bei­ten und lässt einen schließ­lich genau­so rat­los zurück wie den Prot­ago­nis­ten. Das mag wie ein klu­ger insze­na­to­ri­scher Schach­zug klin­gen, führt aber lei­der ins Nirgendwo.

In The End of the Tour ist Living­ston in einer noch klei­ne­ren Rol­le zu sehen. Hier spielt er den Vor­ge­setz­ten von Jes­se Eisen­bergs David Lips­ky, der ihm ein Inter­view mit David Fos­ter Wal­lace (Jason Segel) bewil­ligt. Zwei Minu­ten Scre­en­ti­me rei­chen mir aller­dings für die­se Über­lei­tung, denn The End of the Tour ist auf jeden Fall eine Erwäh­nung wert. Zwei unge­mein star­ke wie brü­chi­ge (bei Wal­lace ist das kein Wider­spruch) Figu­ren wer­den da gegen­ein­an­der aus­ge­spielt und fin­den in Eisen­berg und Segel zwei idea­le Dar­stel­ler. Beein­dru­ckend die Che­mie zwi­schen den bei­den, die Inten­si­tät, wenn der bul­li­ge Wal­lace bedroh­lich den schmäch­ti­gen Lips­ky über­schat­tet; ein­neh­mend, wenn die bei­den sich in über­höht künst­li­chem Intel­lek­tu­el­len­sprech in ein Dia­logs­tak­ka­to stei­gern. Die­se thes­pi­sche Spra­che ist der größ­te Vor­zug von The End of the Tour, der wie James White ein Film über das Ende und unzäh­li­ge Anfän­ge ist. Für mich ist das Ende noch fern. Das Film­fest ist noch nicht vorbei.