Die Welt durch die Augen eines Kindes zu betrachten, wird vielerorts als Ideal für ein glückliches Leben verstanden. Neugier, Naivität und Freude über die kleinen Dinge gehen im Lauf eines Lebens verloren und weichen dem Zynismus der Erfahrung. Hou Hsiao-Hsien vermag sich selbst und den Zuseher in seinem „A Summer at Grandpa’s“, zurück in die eigene Kindheit zu werfen, in jene Phase, in der alles größer, unheimlicher, besonderer wirkte, eine Zeit, die oft nur einen Augenblick dauert und doch vieles kanalisiert. Er stellt diese Welt gegen die unverständliche Komplexität der Erwachsenenwelt und lässt diese dadurch in einer ambivalenten Grausamkeit erscheinen. Basierend auf den Kindheitserinnerungen seiner Drehbuchautorin Chu Tien-wen verbringt man so zusammen mit Tung-tung und seiner Schwester einen Sommer bei den Großeltern, der trotz der pastoralen Farbpalette immer von einer latenten Bedrohung heimgesucht wird.
Blau und Grün sind die dominierenden Farben in den ländlichen Feldern und Verstecken dieser Welt. In komponierten Schwenks und langsamen Bewegungen begleitet die Kamera die kleinen Abenteuer der Kinder am Rande familiärer Dramen und Einsamkeit. Die Länge der Einstellungen in Verbindung mit der Natürlichkeit der jungen Darsteller ist erstaunlich. Man merkt, dass Hou Hsiao-Hsien hier Teil dieser Kindheit wurde, die er nicht nur inszenierte, sondern schlicht in improvisierten Augenblicken geschehen ließ. Wie in Nuri Bilge Ceylans „Kasaba“ wird dabei eine unschuldige Grausamkeit gegenüber einer Schildkröte ausgeübt; die Erkenntnis der Sterblichkeit liegt noch fern, wird aber später mit einem toten Vogel zur Klarheit. Paradise Lost im Sinne Murnaus und der Bibel. Das Leben als Spiel beginnt sich aufzulösen, sowohl für Tung-tung als auch seine Schwester. So will dieser nicht, dass seine Schwester ihn und seine Freunden begleitet. Sie rächt sich, indem sie die Unterwäsche der badenden Jungs in den Fluss wirft. Später werden die Jungs Zeuge einer brutalen kriminellen Tat.
Immer wieder ist es der Zug, der in das Leben des Films donnert, und droht es zu überfahren. Einmal ganz wörtlich, als das Mädchen sich auf die Gleise legt und in der letzten Sekunde gestoppt wird. Doch schon am Anfang ist es der Zug, der die Kinder von ihrer kranken Mutter trennt, es ist der fahrende Zug, der sie auch von ihrem Onkel trennt. In einem fahrenden Zug kann die Schwester nicht pinkeln. Während des Streits zwischen Großvater und Onkel donnert ein Zug von links nach rechts durchs Bild. Später beobachtet die Kamera die Schwester aus dem Haus rennend, um einen toten Vogel in den Fluss zu werfen (Tung-tung hat ihr gesagt, dass es so zu einer Reinkarnation kommen würde). Sie rennt auf die Gleise zu, schaut nicht und Hou Hsiao-Hsien schneidet und lässt das Mädchen einige Minuten von der Leinwand verschwinden. Atemberaubend wie Hou Hsiao-Hsien in solchen Sequenzen sein Tempo variieren kann und aus einer ruhigen, fast romantischen Beobachtung in eine intensive Zeit des Schreckens wechselt. Dabei hilft ihm sicherlich, dass er im Gegensatz zu „A Time to Live and a Time to Die“ weniger aus der Position eines leichten Detachements, sondern mehr aus der Sicht der Kinder filmt. Er bedient sich sogar des POV-Shots und rahmt die Erwachsenen häufig beziehungsweise lässt sie durch die Augen der Kinder hinter Objekten oder Türen verschwinden. Doch genau wie der Gegensatz zwischen Stadt und Land sich im Film vor allem über die Abwesenheit des einen erzählt, so erzählen sich die Dramen der Erwachsenen im Angesicht der Kindheit als Randerscheinung, als Unverständlichkeit und Angst. Die Schwester scheint noch zu jung, um zu begreifen, aber Tung-tung erkennt langsam die Welt hinter der Fassade des Erwachsenenseins. Er beginnt Briefe an seine Eltern zu schreiben oder beobachtet wie seine Großmutter weint.
Die Unschuld und ihr Verlust in der Kindheit und Jugend bleibt so etwas wie der Mainstream der Autorenfilmer. Das Thema wirkt unerschöpflich, weil es sich wie kaum ein zweites aus individuellen Erfahrungen zusammensetzen kann. Man denkt an Semih Kaplanoğlus „Bal“, „Mes petites amoureuses“ von Jean Eustache oder „Mouchette“ von Robert Bresson. Hou Hsiao-Hsiens „A Summer at Grandpa’s“ ist eine gefühlsgeladene Ernüchterung und eine nüchterne Studie einer emotionalen Achterbahnfahrt zugleich. Man kann den Begriff der Lebensnähe strapazieren, nur was ihn hier insbesondere im Gegensatz zu „A Time to Live and a Time to Die“ auszeichnet, ist seine Beschränkung auf eine vielleicht naive Weltsicht, die seine Bilder zum Ausdruck innerer Bewegungen machen statt zu einem nostalgisch-ironischen Rückblick aus Sicht eines Künstlers.