Il Cinema Ritrovato 2018: Songs of Bologna

Das diesjährige Il Cinema Ritrovato war für mich nicht nur ein Film-, sondern auch ein Musikfestival. Es begann mit den sicherlich fragwürdigen, aber dennoch nicht unsympathischen Einstimmungsperformances auf der Piazza Maggiore (eine Mariachi-Band vor Enamorada von Emilio Fernández, ein gitarrenbewehrter Pfeifvirtuose, der vor C’era una volta il West Ennio-Morricone-Hits zum Besten gab) und zog sich wie ein Orgelpunkt durch meinen ganzen Bologna-Aufenthalt, im Kino wie außerhalb. Was mir dabei besonders im Ohr blieb, waren weniger einzelne Songs oder Musikstücke als der Klang von Vergemeinschaftung.

In Filmen unterschiedlichster Herkunft und Datierung wurden Lieder gesungen, um den Zusammenhalt einer Gruppe zu stärken. Gesang gibt die Kraft, um bei der gemeinsamen Sache zu bleiben – ganz gleich, welche Sache das sein mag, egal, ob die Gruppe willentlich formiert wurde oder aus Zufallsbekanntschaften besteht. Die verschütteten Minenarbeiter, die in Luciano Emmers La ragazza in vetrina „Bésame mucho“ anstimmen, um in tiefster Not den Überlebenswillen zu stärken. Die vom Leben enttäuschten Salarymen, die in Yasujirō Ozus Sōshun beim Sake-Besäufnis schunkelnd alte Hadern plärren, um die triste Nachkriegsstimmung zu heben. Die rechtsnationalen Tatenokai, die in Paul Schraders Mishima: A Life in Four Chapters auf dem Weg zum Staatsstreich eine Ballade über Pflicht und Ehre intonieren, um sich moralisch zu wappnen.

Am lautesten tönten solche musikalischen Schulterschlüsse, kaum überraschend, in der sowjetischen Programmschiene des Festivals. Zum einen aufgrund ihrer propagandistischen Note (no pun intended), zum anderen, weil der Sowjet-Tonfilm im Jahr 1934, dem die Sektion gewidmet war, gerade richtig durchstartete und erpicht darauf war, seine mannigfaltigen Fertigkeiten wirkungsvoll unter Beweis zu stellen. Mit Garmon von Igor Savčenko fand sich sogar ein gestandenes Musical in den Reihen der Auswahl. Das eindrücklichste Gesangsmoment gehörte allerdings Yunost‘ Maksima von Grigorij Kozincev und Leonid Trauberg: Dort winden Bolschewiki in zermürbender Kerkerhaft zwecks Widerstand die „Warschawjanka“ aus ihren Kehlen. Als Wärter in ihre Einzelzellen stürzen, sie mit roher Gewalt niederringen und versuchen, ihnen die Münder zuzuhalten, verselbständigt sich das Lied, erobert die Tonspur und gerät durch die Gefängnismauern hindurch zum ungreifbaren, unbezwingbaren Gespenst der Freiheit. Auch wenn das Stilkonzept aus heutiger Sicht plump emotionalisierend wirkt, hat es kaum an Kraft verloren: Zu dringlich die Brutalität der Bilder, zu wuchtig der abrupte formale Befreiungsschlag.

Die Voraussetzung solcher Sequenzen ist die Vorstellung, dass es Lieder gibt, die gekannt werden. Vielleicht nicht von allen, aber zumindest von einigen. Das schönste Beispiel dafür wäre die erwähnte Emmer-Szene: Dort kürt der von Lino Ventura gespielte Minenarbeiter bewusst „Bésame mucho“ zum Durchhaltesong, weil er annimmt, dass auch der zusammen mit ihm und seinem italienischen Kumpel verschüttete Afrikaner das Lied kennen müsste. Ein italienischer Schlager wäre doppelt unangemessen: Zum einen sind alle drei Männer Gastarbeiter in Holland, also Fremde unter sich. Zum anderen sind sie hier unten – für einen endlosen Augenblick aufs nackte Leben reduziert und eingerußt vom Kohlestaub – alle schwarz.

Ich habe den Eindruck, dass Filmszenen dieser Art immer seltener werden. Vielleicht hat das damit zu tun, dass es (abseits von politischen Veranstaltungen und Fußballfanmeilen) immer weniger Lieder gibt, die von allen oder zumindest einigen gekannt werden, und zwar in einer Art und Weise, die zum spontanen, bruchlosen, kollektiven Gesang befähigt – jedenfalls außerhalb der relativ eingehegten, überschaubaren Enklave der Jugendzeit. Womöglich ist das der Grund für die Begeisterung, die dem Einsatz von Britney Spears’ „Everytime“ in Harmony Korines Spring Breakers aus vielen Ecken entgegengebracht wurde: Er weckte die Erinnerung an das gemeinschaftsstiftende Potenzial von Musik im Dunst einer zerfaserten Wirklichkeit, den Glauben, besagtes Potenzial gehöre nicht der (privaten und sozialen) Vergangenheit an. Eins ist klar: Heute muss sich jeder seine Lieder selber suchen. Oder selber machen. Und, wenn möglich, angstfrei selber singen. In der Hoffnung, dass andere einstimmen. Auch, wenn keiner richtig zuzuhören scheint.

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