Das Il Cinema Ritrovato beginnt für mich mit Ohrensausen. Im Sala Scorsese der Cineteca di Bologna dröhnt und scheppert es von der Leinwand, als gäb’s kein Morgen mehr, das Trommelfell schlackert im Schallwellenbad. Meine Sitznachbarinnen sind im Begriff, sich notgedrungen Ohropax aus Papiertaschentüchern zurechtzupfen, als die Saalregie sich erbarmt und den Pegel runterschraubt. Vielleicht hätte sie ihn aber lassen sollen, wo er war. Vielleicht muss es laut sein, wenn Čhapaev kommt.
Čhapaev ist die Hauptfigur von Čhapaev, einem Film über den sowjetischen Bürgerkriegshelden Čhapaev. Der Ton und seine Kraft liegen ihm (dem Film) am Herzen. Denn Čhapaev entstammt der „Goldenen Ära des sowjetischen Tonfilms“: So heißt auch die Festivalprogrammschiene, in der er läuft. Und die widmet sich, um genau zu sein, dem Jahr 1934: Einem besonders fruchtbaren Kapitel in den Annalen der Sowjet-Filmgeschichte, wie Kurator Peter Bagrov in seiner Einführung betont – mythologisch in etwa Hollywoods annus mirabilis 1939 zu vergleichen.
Und Čhapaev ist selbst in diesem Kontext nicht irgendein Film, sondern der Film schlechthin. Sprich: Größer als die Beatles und Jesus zusammengenommen, legendär bis heute und darüber hinaus. Jeder Russe hat von ihm gehört, so gut wie jeder hat ihn gesehen. Dialogzeilen entwickelten sich zu geflügelten Worten, seine Protagonisten zu Archetypen, über die man ganz vortrefflich Witze reißen kann. Er bietet Action & Humor, Musik & Melodramatik, tolle Bilder und coole Sprüche: Ein White Sun of the Desert seiner Zeit.
Das alles nimmt kaum Wunder. Was an Čhapaev besonders erstaunt, ist seine Klarheit. Klar sind die Gesten und Dialoge: Jeder Satz will gehört werden, jede Bewegung greift mit Nachdruck Raum und gebietet Respektabstand, muss sich erst setzen, bis die nächste auf die Bühne darf. Klar sind die Figurentypen, klar auch Montage und Kameraführung, klar der Himmel über den kargen, strahlenden Landschaftskulissen. Der Film spielt an der Wolga, im Ural. Ob er auch dort gedreht wurde? Ich weiß nicht, aber ich kaufe es ihm ab.
Nur Čhapaev selbst ist nicht so klar, wie man vermuten könnte. Er ist zwar ein Volksheld vor dem Herrn, aber kein propagandistischer Pappkamerad – denn im Grunde schließt das eine das andere aus. Gespielt wird er vom Theaterschauspieler Boris Babočhkin, davor auf Schurkenrollen abonniert (und privat ein glühender Verächter des Sowjet-Regimes). Sein Red-Army-Kommandeur ist ein aufbrausender, roher Bursche, der keine Widerrede duldet. Aber auch ein gefühlvoller, zuweilen sogar g’schamiger Mann, der zu singen beginnt, wenn das Gemüt ihn drückt. Er macht Fehler und lernt aus ihnen, hat Humor und Heimweh, kurzum: ist ein Mensch.
Auf eindrucksvolle Weise vereinen sich in ihm die Ikonizität des überlebensgroßen Idols mit Nahbarkeit und Bodenständigkeit. Auf seinem treuen Rappen sitzend, den Feldherrenblick aufs Schlachtfeld gerichtet, wirkt er am Gipfel einer malerischen Totale wie ein russischer Napoleon; mit diesem vergleicht ihn auch sein junger Adjutant Pet’ka (die Diminutivform von Petja, d.h. Peter). Dabei erscheint sein gerühmtes strategisches Talent als eine Art Bauernschläue: Wie man sich als Anführer einer Armee-Division zu verhalten hat, erklärt er einem Untergebenen mithilfe von Kartoffeln und Zigaretten, weil diese gerade zur Hand sind – und mit einer Pfeife, die er dem aus Moskau angereisten Kommissar behände aus dem Mund zieht, nur um sie ihm kurz darauf mit resoluter Anmut wieder zwischen die Lippen zu stecken, als wäre nichts gewesen. Und von Alexander dem Großen hat der tapfere Krieger, zu seiner nicht unbeträchtlichen Verlegenheit, noch nie etwas gehört.
Auch besagter Kommissar hat die dramaturgische Funktion, Čhapaev zu vermenschlichen: Er repräsentiert sein Gewissen, fungiert als Stimme der Vernunft (sprich: der Partei), die den stolzen, übermütigen und ungebärdigen Lausebengel im Zaum halten soll. Dank ihm nimmt man Čhapaev nicht nur als Autorität wahr, sondern als jemanden, der selbst Objekt einer (höheren) Autorität ist. An einer Stelle kommt es zum ausgestellten Konflikt zwischen den Janusköpfen des Helden: Ein Offizier wird wegen Plünderei unter Arrest gestellt. Als Čhapaev das erfährt, wähnt er seine Befehlsgewalt unterminiert und regt sich auf. Doch dann stehen plötzlich Dorfbewohner vor der Tür, um sich für die Rückgabe des Diebesguts zu bedanken, und er sieht seine Vermessenheit ein.
Die Sequenz ist mit großer Sorgfalt geschnitten, jongliert virtuos mit Gesichtern (das Regieduo der Vasilyev-Brüder, in realitas gar keine Brüder, waren vor ihrem Durchbruch mit Čhapaev berühmt für ihre nahtlosen Zensurmontagen ausländischer Kinoproduktionen). Als Čhapaev das Licht der Erkenntnis aufgeht, lugt der böse Offizier, ganz personifiziertes Id, hoffnungsvoll durch einen Spalt in seiner Kerkertür. Doch sein Chef schickt ihn mit dem zerknirschten Blick eines auf frischer Missetat ertappten Lümmels zurück in die Dunkelheit. Der Zwist zwischen Altersweisheit und jugendlichem Übermut scheint aufgelöst. Auch äußerlich vereint Čhapaev beides: Die Jugend in seiner kantigen Statur und dem energischen Habitus (um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, pflanzt er sich mit Vorliebe breitbeinig auf), das Alter im Schnurrbart und der gerunzelten Stirn.
Er war der Held, auf den die sowjetischen Kinozuschauer gewartet hatten. Buchstäblich: Seit 1931 war die Einfuhr ausländischer Filme vom Zentralkomitee drastisch eingeschränkt worden. Gleichzeitig geriet auch die heimische Laufbildproduktion zunehmend in die Kritik: Wegen Formalismus auf der einen und antirevolutionärem Unterhaltungsanspruch auf der anderen Seite. Gezeigt wurde hauptsächlich Agit-Prop über die Erfolge der Kollektivierung. Die Folge waren leere Kinosäle und -kassen (Quelle: Einführung und Katalogtext, beide von Peter Bagrov).
Čhapaev muss dieses Vakuum zur Implosion gebracht haben wie die Stecknadel einen Ballon. Der Film strotzt nur so vor Kinokraft, beherrscht alle Spielarten von Leinwandpathos aus dem Effeff, und ist zugleich mit allen Wassern der Montagetheorie gewaschen (eine von Bagrovs Einführungs-Anekdoten besagt, Eisenstein solle auf Kritik an seiner Theorieversessenheit gemeint haben, er sitze nur so viel am Schreibtisch, damit Filme wie Čhapaev das Licht der Welt erblicken können).
Eine besondere Stärke des Films sind Abschiedsszenen, von denen er gleich zwei Prachtexemplare bereithält. In einer trennt sich Pet’ka von seiner Angebeteten Ko-Soldatin Anka, bevor er zu den Weißgardisten spähen geht. Noch sind die beiden keine Geliebten. Stolz und zugleich verschämt druckst Pet’ka rum, gibt Anka die Hand, während sein Blick schon zur Tür wandert, und verlässt dann ruckartig die Heimstatt Richtung Front. Sie besinnt sich, läuft ihm nach, doch er ist schon am Horizont, umflort vom Glanz der Abenddämmerung. Ankas zwischen Wohlwollen und Besorgnis oszillierender Gesichtsausdruck, die schummrig strahlende, überraschend natürliche Lichtstimmung, all das schafft den perfekten Spagat zwischen Kitsch und Poesie. Später spiegelt sich das Motiv in einer Trennung zweier Männer: Čhapaevs Abschied vom liebgewonnenen Kommissar, der nach Moskau zurückbeordert wurde, gerät nicht minder intensiv.
Diese Momente gehen fast wortlos vonstatten, die Stummfilmzeit liegt noch in greifbarer Nähe. Auch die womöglich stärkste Bilderfolge des ganzen Films bedarf keiner verbalen Erläuterungen – bloß der musikalischen Untermalung. Sie spielt in den Gemächern des weißen Erzgegners Oberst Borozdin (verkörpert von Illarion Pevtsov, dem einstigen Schauspiellehrer des Hauptdarstellers Babočhkin), einem für diese Art Film ungewöhnlich undämonsichen, besonnenen Bösewicht. Er sitzt am Klavier, die Melancholie von Beethovens Mondscheinsonate erfüllt den Raum. Im Hintergrund schunkelt sein alternder Diener und Offiziersbursche Potapov, eine treudoofe, traurige, in ihrer dumpfen Stämmigkeit fast schon Frankenstein-hafte Erscheinung, tranceartig hin und her, wie hypnotisiert von Musik, Kultur und der hochwohlgeborenen Aura seines Herrn und Meisters (sowie dessen gleißender Glatze). Ein paar Schnitte später erkennt man, dass Potapovs Tanz kein Tanz ist, sondern die rhythmischen Wischbewegungen einer Putzkraft. Da fällt sein Blick auf die Verurteilung zum Spießrutenlauf, die seinem geliebten Bruder das Leben kostete und dessen Ausführung Borozdin hätte verhindern können. Der Bann scheint für einen kurzen Moment gebrochen – und der Besenstiel stürzt mit lautem Knall zu Boden. Viel markiger kann man Kritik an der Klassengesellschaft filmisch nicht auf den Punkt bringen.
Musik spielt in Čhapaev eine bedeutende Rolle. Gesang blüht periodisch auf. Natürlich ging es hier nicht zuletzt um die Zurschau-(eher::Zurhör-)stellung der Vorzüge des Tonfilms, der sich in Russland etwas später durchsetzte als anderswo. Doch erst in den Liedern, die die Hauptfiguren an entscheidenden Stellen anstimmen, wird Čhapaev vollends zum Volkshelden, verschmilzt im Duett mit Pet’ka und im Chor der einfachen Soldaten mit der sprichwörtlichen „russischen Seele“. Meist handeln diese Lieder vom möglichen, wenn nicht schon drohenden Tod, sind eher wehmütig als heroisch.
Eine Wehmut, die sich im Übrigen problemlos mit gnadenloser Härte gegen jede Schwäche in den eigenen Reihen vereinbaren lässt. Natürlich ist Čhapaev ein Film, dessen Kultstatus auch bedenklich stimmt – auch und gerade weil er so gut ist in dem, was es tut. In einer der befremdlichsten Szenen, die nicht nur aus historisierender Außenperspektive selbstentlarvend wirkt, erschießt Čhapaev kaltblütig einen Soldaten, der zur Fahnenflucht aufruft. Kurz darauf melden sich zwei weitere. Was denn wäre, fragt der Kommandeur. Sie wollten nur bekanntgeben, antworten die beiden, dass da noch so ein Deserteur war, doch sie haben sich schon um ihn gekümmert. Schnitt auf die Leiche. Čhapaev nickt bloß zur Bestätigung. Fast meint man, Erstaunen in seinem Gesicht zu lesen ob der Schnelligkeit, mit der sich seine grausame Doktrin verselbständigt hat.
Später geht er dann mit gutem Beispiel voran in den Heldentod. Im Schutze der Nacht blasen die Weißen zum Angriff und überrumpeln die Roten im seligen Schlaf der Gerechten. „Say hello to my little friend“, brüllt Čhapaev und rammt das MG durchs Dachbodenfenster. Vergebens! Die Rache des Märtyrers folgt auf dem Fuße. Nicht zu knapp, sondern ganz alttestamentarisch, siebzigmal siebenmal. Borozdin wird von einem Säbelhieb aus dem Heu-Hinterhalt niedergestreckt, dann werden große Geschütze aufgefahren. Der Feind hat sich auf einer Klippe konzentriert, will gerade zurü-BUMM! Ende Gelände. Fun Fact: Stalin war ein großer Fan des Films, angeblich hat er ihn im Laufe eines einzigen Jahres 38 Mal gesehen. Und auch Putin brauchte, in einem Interview nach seinem Lieblingsfilm gefragt, nicht lange für seine Replik: „Čhapaev, natürlich“.