Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Il Cinema Ritrovato 2018: Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Das Il Cine­ma Ritro­va­to beginnt für mich mit Ohren­sausen. Im Sala Scor­se­se der Cine­te­ca di Bolo­gna dröhnt und schep­pert es von der Lein­wand, als gäb’s kein Mor­gen mehr, das Trom­mel­fell schla­ckert im Schall­wel­len­bad. Mei­ne Sitz­nach­ba­rin­nen sind im Begriff, sich not­ge­drun­gen Ohro­pax aus Papier­ta­schen­tü­chern zurecht­zup­fen, als die Saal­re­gie sich erbarmt und den Pegel run­ter­schraubt. Viel­leicht hät­te sie ihn aber las­sen sol­len, wo er war. Viel­leicht muss es laut sein, wenn Čha­paev kommt.

Čha­paev ist die Haupt­fi­gur von Čha­paev, einem Film über den sowje­ti­schen Bür­ger­kriegs­hel­den Čha­paev. Der Ton und sei­ne Kraft lie­gen ihm (dem Film) am Her­zen. Denn Čha­paev ent­stammt der „Gol­de­nen Ära des sowje­ti­schen Ton­films“: So heißt auch die Fes­ti­val­pro­gramm­schie­ne, in der er läuft. Und die wid­met sich, um genau zu sein, dem Jahr 1934: Einem beson­ders frucht­ba­ren Kapi­tel in den Anna­len der Sowjet-Film­ge­schich­te, wie Kura­tor Peter Bagrov in sei­ner Ein­füh­rung betont – mytho­lo­gisch in etwa Hol­ly­woods annus mira­bi­lis 1939 zu vergleichen.

Und Čha­paev ist selbst in die­sem Kon­text nicht irgend­ein Film, son­dern der Film schlecht­hin. Sprich: Grö­ßer als die Beat­les und Jesus zusam­men­ge­nom­men, legen­där bis heu­te und dar­über hin­aus. Jeder Rus­se hat von ihm gehört, so gut wie jeder hat ihn gese­hen. Dia­log­zei­len ent­wi­ckel­ten sich zu geflü­gel­ten Wor­ten, sei­ne Prot­ago­nis­ten zu Arche­ty­pen, über die man ganz vor­treff­lich Wit­ze rei­ßen kann. Er bie­tet Action & Humor, Musik & Melo­dra­ma­tik, tol­le Bil­der und coo­le Sprü­che: Ein White Sun of the Desert sei­ner Zeit.

Das alles nimmt kaum Wun­der. Was an Čha­paev beson­ders erstaunt, ist sei­ne Klar­heit. Klar sind die Ges­ten und Dia­lo­ge: Jeder Satz will gehört wer­den, jede Bewe­gung greift mit Nach­druck Raum und gebie­tet Respekt­ab­stand, muss sich erst set­zen, bis die nächs­te auf die Büh­ne darf. Klar sind die Figu­ren­ty­pen, klar auch Mon­ta­ge und Kame­ra­füh­rung, klar der Him­mel über den kar­gen, strah­len­den Land­schafts­ku­lis­sen. Der Film spielt an der Wol­ga, im Ural. Ob er auch dort gedreht wur­de? Ich weiß nicht, aber ich kau­fe es ihm ab.

Nur Čha­paev selbst ist nicht so klar, wie man ver­mu­ten könn­te. Er ist zwar ein Volks­held vor dem Herrn, aber kein pro­pa­gan­dis­ti­scher Papp­ka­me­rad – denn im Grun­de schließt das eine das ande­re aus. Gespielt wird er vom Thea­ter­schau­spie­ler Boris Babočh­kin, davor auf Schur­ken­rol­len abon­niert (und pri­vat ein glü­hen­der Ver­äch­ter des Sowjet-Regimes). Sein Red-Army-Kom­man­deur ist ein auf­brau­sen­der, roher Bur­sche, der kei­ne Wider­re­de dul­det. Aber auch ein gefühl­vol­ler, zuwei­len sogar g’schamiger Mann, der zu sin­gen beginnt, wenn das Gemüt ihn drückt. Er macht Feh­ler und lernt aus ihnen, hat Humor und Heim­weh, kurz­um: ist ein Mensch.

Auf ein­drucks­vol­le Wei­se ver­ei­nen sich in ihm die Iko­ni­zi­tät des über­le­bens­gro­ßen Idols mit Nah­bar­keit und Boden­stän­dig­keit. Auf sei­nem treu­en Rap­pen sit­zend, den Feld­her­ren­blick aufs Schlacht­feld gerich­tet, wirkt er am Gip­fel einer male­ri­schen Tota­le wie ein rus­si­scher Napo­le­on; mit die­sem ver­gleicht ihn auch sein jun­ger Adju­tant Pet’ka (die Dimi­nu­tiv­form von Pet­ja, d.h. Peter). Dabei erscheint sein gerühm­tes stra­te­gi­sches Talent als eine Art Bau­ern­schläue: Wie man sich als Anfüh­rer einer Armee-Divi­si­on zu ver­hal­ten hat, erklärt er einem Unter­ge­be­nen mit­hil­fe von Kar­tof­feln und Ziga­ret­ten, weil die­se gera­de zur Hand sind – und mit einer Pfei­fe, die er dem aus Mos­kau ange­reis­ten Kom­mis­sar behän­de aus dem Mund zieht, nur um sie ihm kurz dar­auf mit reso­lu­ter Anmut wie­der zwi­schen die Lip­pen zu ste­cken, als wäre nichts gewe­sen. Und von Alex­an­der dem Gro­ßen hat der tap­fe­re Krie­ger, zu sei­ner nicht unbe­trächt­li­chen Ver­le­gen­heit, noch nie etwas gehört.

Auch besag­ter Kom­mis­sar hat die dra­ma­tur­gi­sche Funk­ti­on, Čha­paev zu ver­mensch­li­chen: Er reprä­sen­tiert sein Gewis­sen, fun­giert als Stim­me der Ver­nunft (sprich: der Par­tei), die den stol­zen, über­mü­ti­gen und unge­bär­di­gen Lau­se­ben­gel im Zaum hal­ten soll. Dank ihm nimmt man Čha­paev nicht nur als Auto­ri­tät wahr, son­dern als jeman­den, der selbst Objekt einer (höhe­ren) Auto­ri­tät ist. An einer Stel­le kommt es zum aus­ge­stell­ten Kon­flikt zwi­schen den Janus­köp­fen des Hel­den: Ein Offi­zier wird wegen Plün­de­rei unter Arrest gestellt. Als Čha­paev das erfährt, wähnt er sei­ne Befehls­ge­walt unter­mi­niert und regt sich auf. Doch dann ste­hen plötz­lich Dorf­be­woh­ner vor der Tür, um sich für die Rück­ga­be des Die­bes­guts zu bedan­ken, und er sieht sei­ne Ver­mes­sen­heit ein.

Die Sequenz ist mit gro­ßer Sorg­falt geschnit­ten, jon­gliert vir­tu­os mit Gesich­tern (das Regie­duo der Vasi­lyev-Brü­der, in rea­li­tas gar kei­ne Brü­der, waren vor ihrem Durch­bruch mit Čha­paev berühmt für ihre naht­lo­sen Zen­sur­mon­ta­gen aus­län­di­scher Kino­pro­duk­tio­nen). Als Čha­paev das Licht der Erkennt­nis auf­geht, lugt der böse Offi­zier, ganz per­so­ni­fi­zier­tes Id, hoff­nungs­voll durch einen Spalt in sei­ner Ker­ker­tür. Doch sein Chef schickt ihn mit dem zer­knirsch­ten Blick eines auf fri­scher Mis­se­tat ertapp­ten Lüm­mels zurück in die Dun­kel­heit. Der Zwist zwi­schen Alters­weis­heit und jugend­li­chem Über­mut scheint auf­ge­löst. Auch äußer­lich ver­eint Čha­paev bei­des: Die Jugend in sei­ner kan­ti­gen Sta­tur und dem ener­gi­schen Habi­tus (um sei­ne Ent­schlos­sen­heit zu demons­trie­ren, pflanzt er sich mit Vor­lie­be breit­bei­nig auf), das Alter im Schnurr­bart und der gerun­zel­ten Stirn.

Er war der Held, auf den die sowje­ti­schen Kino­zu­schau­er gewar­tet hat­ten. Buch­stäb­lich: Seit 1931 war die Ein­fuhr aus­län­di­scher Fil­me vom Zen­tral­ko­mi­tee dras­tisch ein­ge­schränkt wor­den. Gleich­zei­tig geriet auch die hei­mi­sche Lauf­bild­pro­duk­ti­on zuneh­mend in die Kri­tik: Wegen For­ma­lis­mus auf der einen und anti­re­vo­lu­tio­nä­rem Unter­hal­tungs­an­spruch auf der ande­ren Sei­te. Gezeigt wur­de haupt­säch­lich Agit-Prop über die Erfol­ge der Kol­lek­ti­vie­rung. Die Fol­ge waren lee­re Kino­sä­le und ‑kas­sen (Quel­le: Ein­füh­rung und Kata­log­text, bei­de von Peter Bagrov).

Čha­paev muss die­ses Vaku­um zur Implo­si­on gebracht haben wie die Steck­na­del einen Bal­lon. Der Film strotzt nur so vor Kino­kraft, beherrscht alle Spiel­ar­ten von Lein­wand­pa­thos aus dem Eff­eff, und ist zugleich mit allen Was­sern der Mon­ta­ge­theo­rie gewa­schen (eine von Bagrovs Ein­füh­rungs-Anek­do­ten besagt, Eisen­stein sol­le auf Kri­tik an sei­ner Theo­rie­ver­ses­sen­heit gemeint haben, er sit­ze nur so viel am Schreib­tisch, damit Fil­me wie Čha­paev das Licht der Welt erbli­cken können).

Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Eine beson­de­re Stär­ke des Films sind Abschieds­sze­nen, von denen er gleich zwei Pracht­ex­em­pla­re bereit­hält. In einer trennt sich Pet’ka von sei­ner Ange­be­te­ten Ko-Sol­da­tin Anka, bevor er zu den Weiß­gar­dis­ten spä­hen geht. Noch sind die bei­den kei­ne Gelieb­ten. Stolz und zugleich ver­schämt druckst Pet’ka rum, gibt Anka die Hand, wäh­rend sein Blick schon zur Tür wan­dert, und ver­lässt dann ruck­ar­tig die Heim­statt Rich­tung Front. Sie besinnt sich, läuft ihm nach, doch er ist schon am Hori­zont, umflort vom Glanz der Abend­däm­me­rung. Ankas zwi­schen Wohl­wol­len und Besorg­nis oszil­lie­ren­der Gesichts­aus­druck, die schumm­rig strah­len­de, über­ra­schend natür­li­che Licht­stim­mung, all das schafft den per­fek­ten Spa­gat zwi­schen Kitsch und Poe­sie. Spä­ter spie­gelt sich das Motiv in einer Tren­nung zwei­er Män­ner: Čha­paevs Abschied vom lieb­ge­won­ne­nen Kom­mis­sar, der nach Mos­kau zurück­be­or­dert wur­de, gerät nicht min­der intensiv.

Die­se Momen­te gehen fast wort­los von­stat­ten, die Stumm­film­zeit liegt noch in greif­ba­rer Nähe. Auch die womög­lich stärks­te Bil­der­fol­ge des gan­zen Films bedarf kei­ner ver­ba­len Erläu­te­run­gen – bloß der musi­ka­li­schen Unter­ma­lung. Sie spielt in den Gemä­chern des wei­ßen Erz­geg­ners Oberst Boroz­din (ver­kör­pert von Illa­ri­on Pevts­ov, dem eins­ti­gen Schau­spiel­leh­rer des Haupt­dar­stel­lers Babočh­kin), einem für die­se Art Film unge­wöhn­lich undä­mon­si­chen, beson­ne­nen Böse­wicht. Er sitzt am Kla­vier, die Melan­cho­lie von Beet­ho­vens Mond­schein­so­na­te erfüllt den Raum. Im Hin­ter­grund schun­kelt sein altern­der Die­ner und Offi­ziers­bur­sche Pota­pov, eine treu­doo­fe, trau­ri­ge, in ihrer dump­fen Stäm­mig­keit fast schon Fran­ken­stein-haf­te Erschei­nung, trance­ar­tig hin und her, wie hyp­no­ti­siert von Musik, Kul­tur und der hoch­wohl­ge­bo­re­nen Aura sei­nes Herrn und Meis­ters (sowie des­sen glei­ßen­der Glat­ze). Ein paar Schnit­te spä­ter erkennt man, dass Pota­povs Tanz kein Tanz ist, son­dern die rhyth­mi­schen Wisch­be­we­gun­gen einer Putz­kraft. Da fällt sein Blick auf die Ver­ur­tei­lung zum Spieß­ru­ten­lauf, die sei­nem gelieb­ten Bru­der das Leben kos­te­te und des­sen Aus­füh­rung Boroz­din hät­te ver­hin­dern kön­nen. Der Bann scheint für einen kur­zen Moment gebro­chen – und der Besen­stiel stürzt mit lau­tem Knall zu Boden. Viel mar­ki­ger kann man Kri­tik an der Klas­sen­ge­sell­schaft fil­misch nicht auf den Punkt bringen.

Musik spielt in Čha­paev eine bedeu­ten­de Rol­le. Gesang blüht peri­odisch auf. Natür­lich ging es hier nicht zuletzt um die Zurschau-(eher::Zurhör-)stellung der Vor­zü­ge des Ton­films, der sich in Russ­land etwas spä­ter durch­setz­te als anders­wo. Doch erst in den Lie­dern, die die Haupt­fi­gu­ren an ent­schei­den­den Stel­len anstim­men, wird Čha­paev voll­ends zum Volks­hel­den, ver­schmilzt im Duett mit Pet’ka und im Chor der ein­fa­chen Sol­da­ten mit der sprich­wört­li­chen „rus­si­schen See­le“. Meist han­deln die­se Lie­der vom mög­li­chen, wenn nicht schon dro­hen­den Tod, sind eher weh­mü­tig als heroisch.

Eine Weh­mut, die sich im Übri­gen pro­blem­los mit gna­den­lo­ser Här­te gegen jede Schwä­che in den eige­nen Rei­hen ver­ein­ba­ren lässt. Natür­lich ist Čha­paev ein Film, des­sen Kult­sta­tus auch bedenk­lich stimmt – auch und gera­de weil er so gut ist in dem, was es tut. In einer der befremd­lichs­ten Sze­nen, die nicht nur aus his­to­ri­sie­ren­der Außen­per­spek­ti­ve selbst­ent­lar­vend wirkt, erschießt Čha­paev kalt­blü­tig einen Sol­da­ten, der zur Fah­nen­flucht auf­ruft. Kurz dar­auf mel­den sich zwei wei­te­re. Was denn wäre, fragt der Kom­man­deur. Sie woll­ten nur bekannt­ge­ben, ant­wor­ten die bei­den, dass da noch so ein Deser­teur war, doch sie haben sich schon um ihn geküm­mert. Schnitt auf die Lei­che. Čha­paev nickt bloß zur Bestä­ti­gung. Fast meint man, Erstau­nen in sei­nem Gesicht zu lesen ob der Schnel­lig­keit, mit der sich sei­ne grau­sa­me Dok­trin ver­selb­stän­digt hat.

Spä­ter geht er dann mit gutem Bei­spiel vor­an in den Hel­den­tod. Im Schut­ze der Nacht bla­sen die Wei­ßen zum Angriff und über­rum­peln die Roten im seli­gen Schlaf der Gerech­ten. „Say hel­lo to my litt­le fri­end“, brüllt Čha­paev und rammt das MG durchs Dach­bo­den­fens­ter. Ver­ge­bens! Die Rache des Mär­ty­rers folgt auf dem Fuße. Nicht zu knapp, son­dern ganz alt­tes­ta­men­ta­risch, sieb­zig­mal sie­ben­mal. Boroz­din wird von einem Säbel­hieb aus dem Heu-Hin­ter­halt nie­der­ge­streckt, dann wer­den gro­ße Geschüt­ze auf­ge­fah­ren. Der Feind hat sich auf einer Klip­pe kon­zen­triert, will gera­de zurü-BUMM! Ende Gelän­de. Fun Fact: Sta­lin war ein gro­ßer Fan des Films, angeb­lich hat er ihn im Lau­fe eines ein­zi­gen Jah­res 38 Mal gese­hen. Und auch Putin brauch­te, in einem Inter­view nach sei­nem Lieb­lings­film gefragt, nicht lan­ge für sei­ne Replik: „Čha­paev, natür­lich“.