Filmfest Hamburg: Before From What Is Before

Jauja von Lisandro Alonso

In der letzten Nacht in Hamburg tropft es plötzlich in meinem Zimmer. Ein defektes Wasserrohr hat zunächst einen riesigen gelben Fleck an der Decke meines Hotelzimmers hinterlassen und dann dringen kleinste Tropfen durch die dicke Wand und gleich dem Ticken einer Uhr, beginnen sie den Boden zu bewässern. Mein Schlaf wird dadurch empfindlich gestört und ich fühle mich selbstverständlich wie in einem Tsai Ming-liang Film. Mit weißer Unterhose und gleich eines Raubtiers (also zumindest in meinem Kopf) untersuche ich Lee Kang-shengesque die Decke, blicke aus dem Fenster, in meiner Erwartung an Lav Diaz, der am letzten Tag auf dem Programm steht mit seinem Locarno-Gewinner From What Is Before.

Diaz hat die Zuseher seiner Filme einmal als „Warriors“ bezeichnet. Sie würden sich auf die enorme Länge vorbereiten. Außerdem wäre es völlig in Ordnung für ihn, wenn Zuseher seine Screenings verlassen würden und wieder kommen würden. Ob dies eine Reise nach Jerusalem zur Folge haben muss, die sich später im Rahmen des Hamburger Filmfests abspielte, sei dahingestellt. Jedenfalls bleibt Diaz eine cinephile Meisterprüfung, die völlig zu Unrecht oft auf ihre Länge reduziert wird. An anderer Stelle habe ich mich genauer mit dem Film beschäftigt.

Mein letzter Tag in Hamburg ist ein besonders warmer Tag für die Jahreszeit. Das ist an sich nicht wirklich bemerkenswert jedoch spielt es in die Vorbereitung auf einen Lav Diaz Film durchaus eine Rolle. Es geht um Trinken, Essen und Bewegung. Denn im Gegensatz zu Diaz und den meisten Zusehern bin ich nicht der Meinung, dass man eine Sekunde seiner Filme verpassen sollte. Es gibt Szenen in diesem Film und auch in den anderen Filmen des Regisseurs, die das Gesehene komplett umdrehen, die es einordnen, verändern und die für ein Verständnis des Films absolut unentbehrlich sind. Vielleicht wäre es konsequent, im Stil von Luis Buñuel Toiletten statt Kinosessel im Kino aufzustellen.

Misunderstood von Asia Argento

Incompresa

Also gehe ich spazieren und decke mich mit einer Fülle an Verpflegung ein, trinke, esse und mache tatsächlich Lockerungsübungen. Unmittelbar vor Beginn gehe ich auf die Toilette. Ein „Warrior“ eben…und ich habe dabei einiges an Zeit die vergangenen Tage in Hamburg gedanklich zu resümieren. Es war ein sehr ansprechendes Festival für mich und insbesondere zwei Filme, die ich so nicht auf der Rechnung hatte, haben mich begeistert: Turist von Ruben Östlund und The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy. Darüber hinaus bin ich zwei weiteren Großwerken von Regisseuren begegnet, die ich schon zuvor absolut verehrte. Zum einen Lisandro Alonso, der mit seinem Jauja einige neue Aspekte zu seinem Schaffen hinzufügt und dennoch sein unheimliches Auge für Bildgestaltung in einem bestimmten Setting beibehält und eine meditative Ironie entfaltet. Und außerdem Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan, der mich nach wie vor völlig irritiert. Wenn man hart mit dem Film ins Gericht gehen wollen würde, dann könnte man ihn durchaus mehr als Hörspiel denn als Film bezeichnen. Schließlich musste ich dreieinhalb Stunden derart intensiv mitlesen, da es außer weniger Szenen fast ausschließlich um Dialoge geht. Aber dann ist da das Wesen dieser Dialoge. Winter Sleep ist nämlich nicht nur ein Film mit Dialogen sondern in großem Maße auch ein Film über Dialoge. Es geht um die Selbstrechtfertigung, Selbstbelügung, den Selbsthass, den Menschenhass, die Funktion von Sprache und Denken darin. Das ganze findet in einer inhaltlichen und philosophisch-psychologischen Tiefe statt, die man aus großer Literatur kennt. Für mich der schwächste Film eines großen Regisseurs.

Zu einer ganzen Reihe interessanter und erwähnenswerter Begegnungen rechne ich Ventos de Agosto von Gabriel Mascaro, Incompresa von Asia Argento, Timbuktu von Abderrahmane Sissako, Favula von Raúl Perrone oder Hermosa juventud von Jaime Rosales.

Meine zwei großen Enttäuschungen sind Mommy von Xavier Dolan und Fehér Isten von Kornél Mundruczó. Ersterer ist ein Schritt zurück für den durchschnittlichen kanadischen Lieblingsjungen einer unreflektierten Kinowelt, die sich nur allzu bereitwillig von Style blenden lässt. Dolan hat sehr wenig zu erzählen (in Konsequenz ist Mommy ein schlechteres Remake von J’ai tué ma mère) und er weiß auch nicht unbedingt wie er das erzählen soll. So lässt er fast in zwanghafter Manier seine Popsongs laufen, um eine Art Rhythmus zu entwickeln, der nie aus den Bildern sondern immer aus der Musik kommt. Seine Grundformel besteht darin hysterische, neurotische und auf manipulative Weise liebenswerte Menschen in Konflikte zu bringen. Dabei bedient er sich in einem 1:1 Instagram-Look, der zu einer dramaturgischen Funktion aufsteigt. Dolan ist kein böser Mensch, kein schlimmer Regisseur. Aber der unverständliche Hype, der seiner Arbeit entgegengebracht wird, ist ein schlechtes Zeichen für das Kino. Ich bin mir bewusst, dass ich diese Aussagen nicht einfach so hinstellen kann. Daher will ich sie mit einer bemerkenswerten Kritik von Adam Nayman rechtfertigen, der ich zu 100% zustimmen kann. (was selten vorkommt).

Timbuktu

Timbuktu

Fehér Isten dagegen ist wirklich eine Beleidigung. Ein mit allen Mitteln nach billiger Empathie hechelndes Stück Spielberg-lebt!-Pathos-Kuschelrock im Kino. Die Disney-Story wäre ja an sich nichts Schlimmes, aber jeder Disney-Film, den ich kenne baut auf ambivalentere Figuren, eine vielschichtigere Geschichte und mehr psychologischer Tiefe in den Charakteren. Natürlich bleibt es beeindruckend, dass Mundruzcó mit einer derartigen Quantität und Qualität an echten Hunden arbeitete, aber jenseits einiger wahrlich epischer und fesselnder Momente mit denen, liegt die einzige Faszination darin, dass man sich während dem Schauen für ein Making-Of interessiert. Dabei donnert der Film mit Musik und Bildsprache derart massiv ins Kino, dass jede Form von Menschlichkeit und Subtilität verloren geht.

Es ist fast 13Uhr, einige Seelen warten schon auf Lav Diaz im Kinosaal. Andere liegen bis kurz vor Beginn vor dem Kino auf einer Wiese. Man muss das Licht verlassen, um es lange Zeit zu sehen.

Ich betrete Kinoseele.

Filmfest Hamburg 2014: The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy

The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy ist einer jener Filme nach denen man nur schwer zu Wort kommen kann. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil der Film selbst komplett ohne Worte auskommt und ohne Untertitel, Voice-Over oder sonstige Hilfsmittel in Zeichensprache erzählt wird. Es geht darin um den Taubstummen Sergey der neu auf ein heruntergekommenes Internat für Taubstumme gelangt. Schnell kann er sich in der brutalen Welt dort durchsetzen und steigt in einem illegalen Ring von Geldeintreibung, Raubüberfallen und vor allem Prostitution ein, der vom Internat ausgeht. Gleichzeitig verliebt er sich in rauer Weise in eine der taubstummen Prostituierten. Was folgt ist ein Portrait einer gerade durch ihre Stille erdrückenden Gewaltspirale, die einem schonungslos in den Magen schlägt. Der Sieger der Semaine de la Critique in Cannes ist im Gegensatz zum Sieger der Un Certain regard Sektion ein Film über den man reden muss und reden wird.

Dabei vertraut der Ukrainer Slaboshpytskiy auf lange Plansequenzen, die sich oft gleich einer Musical-Choreografie in fließenden und körperlichen Bewegungen entfaltet. So begleitet die Kamera eine Gruppe der Jugendlichen in einem seitlichen Travelling. Sie sammeln sich, sie begrüßen sich und laufen formiert los. Ein durchkomponierter und fesselnder Rhythmus entsteht, der ob der fehlenden Worte den Blick herausfordert und damit die Kapazitäten und in gewisser Weise auch das Wesen des Kinos entblößt. Die Schlägereien, Raubüberfälle und Sexszenen sind eigentlich Tanzszenen. Der schonungslose Sozialrealismus bricht jegliche Ästhetik auf, aber im Kern bewegt dieser musikalische Motor den Film. Natürlich ist The Tribe kein Stummfilm. Immer wieder kommen flüsternde Geräusche aus den Mündern der Protagonisten und ständig hört man die Umgebung. Es ist dennoch gut, dass Slaboshpytskiy außer in wenigen Beispielen auf ein überstrapaziertes Sound-Design verzichtet. Denn die Möglichkeiten einer plötzlichen Lautstärke sind verlockend. Einmal muss sich eine Figur lautstark übergeben und dieses von ihrem Körper ausgehende Geräusch ist ein kleiner Schock. Vielmehr gibt sich der Regisseur das ein oder andere Mal unnötigerweise der Schwäche hin sehr deutlich zu zeigen, dass diese Figuren nichts hören und damit auch nicht wahrnehmen, was für uns äußerst grausam ist. Manchmal gibt sich der Film diesem Effekt zu sehr hin.

The Tribe 2014

Oft steht die Kamera auch lange an einem Ort und erstickt damit den Zuseher, dem die Kehle zugeschnürt wird, ob der unfassbaren Brutalität, die sich auf dieser Insel unter dem Radar dessen, was wir öffentliche Wahrnehmung nennen, hinrichtet. Nur einmal gibt es ein Verhör bei der Polizei. Dieses scheint aber keine Konsequenzen zu haben. Zumindest keine einschneidenden. Die Zeichensprache selbst ist für jene, die sie nicht beherrschen ein faszinierendes Rätsel. Immer wieder glaubt man, dass man verschiedene Zeichen erkennt, es ist eine Freude sie zu lesen wie ein Bild, wie das Kino. Statt Mitleid für seine wirklich taubstummen Darsteller zu evozieren, nimmt der Film eine Perspektive ein, die keine Perspektive kennt. Hier geht es nicht um den Blick auf ein Taubstummeninternat, hier geht es um die schrecklichen Dynamiken aus dem Inneren dieser Welt. Dabei erinnert der Film in der Mischung aus formaler Konsequenz und inhaltlicher Brutalität an Irréversible von Gaspar Noé und 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile von Cristian Mungiu. Mit letzterem eint ihn die Brutalität einer Abtreibung. Aber dort wo Mungiu die Grausamkeit dadurch entfaltet, dass er uns aus dem Zimmer ausschließt, liegt sie für Slaboshpytskiy im unerträglichen Draufhalten. Am Ende trifft er einen so hart, dass man kaum mehr hinsehen kann und endet dann im exakt hoffnungslosesten Moment.

Neben der Gewalt spielt auch die Sexualität eine maßgebliche Rolle. Sergey bezahlt seine Angebetete, damit sie mit ihm schläft und kommt ihr dann doch immer wieder nahe. Dies sind die einzigen Momente des Glücks im Film, die in ihrer Länge unheimlich zärtlich und intensiv dargestellt werden. Später jedoch wird sich die Gewalt mit der Sexualität verbinden bei Sergey. Gruppendynamiken in dieser Hölle erinnern an Picco von Philip Koch. Nur gibt es dort Erklärungen, Ausreden und verbalen Terror während wir in The Tribe gar keine Chancen bekommen, zu verstehen. Vielmehr müssen wir ertragen und versuchen, aus unseren Beobachtungen alleine zu schließen. Irgendwann fällt der Abstand der Kamera auf. Es gibt nur marginale Naheinstellungen, alles findet in der Entfernung statt. Eine Welt ist dazwischen. So entsteht ähnlich wie im nebeligen Letter von Corbitt Howard und Sergei Loznitsa eine Entfremdung aus einer anderen(???) Welt, die einen tief berührt und nicht mehr loslassen will.

Filmfest Hamburg: Favula von Raúl Perrone

Favula von Raúl Perrone

Parte 1: la familia

Eine Hypnose, ein knallender Schuss, Musik. Wache jetzt auf-du bist im Urwald des Lebens. Deine Familie wartet mit dir im Flimmern einer Rearprojection. Hast du Angst, dass dein Vater erschossen wird? Ich habe Angst, dass das Haus brennt. Ein Kino brennt, die Bilder brennen vor meinen Augen, es sticht. Die Gesichter sind nicht, was ich verlange. Sie sind eine Blende. Meine Mutter ist ein Raubtier. Raubtiere lauern hinter dem Bild meiner Mutter. Sie schreien auch. Meine Mutter ist besorgt. Wohin sind ihre Kinder verschwunden? Wohin ist ihr Mann? Ein knallender Schuss, die Ecken des Bildes vibrieren, immerzu, eine Framing-Penetration. An wen wurden die Kinder verkauft? Sie haben mich ans Kino verkauft. Ich komme nur mehr zum Essen nach Hause, habe Angst zu vergessen.

Favula von Raul Perrone

Parte 2: el cine

Vögel zwitschern durchs Bild. Sie sind nicht aus dieser Welt. Sie zerbrechen, ob der Bilder. Die Gesichter im Urwald sind nicht dort. Sie sind in einem anderen Bild. Ein Vogel, kleiner kämpfender Vogel, vielleicht ein Kolibri schläft mit einer Frau, sie schwitzt, jeder Tropfen ist im Kino. Ich bin im Kino, oder? Musik, eine Hypnose, wieder ein Schuss im Frieden. Der Schock kommt durch den Rhythmusbruch. The Most Dangerous Game. Wohin wandern wir, wenn wir im Kino träumen? Ich träume, muss träumen, darf träumen, als wären meine Gedanken im Film nichts anderes als eine Rearprojection. Hinter mir ist eine Hypnose. Im Kino sitzt sie neben mir. Ich fliege zum Mond.

Filmfest Hamburg: Hermosa juventud von Jaime Rosales

Jaime Rosales Beautiful Youth

In gewisser Weise fühle ich mich verpflichtet über den Film Hermosa juventud von Jaime Rosales zu schreiben, da er auch Jugend ohne Film heißen könnte. Darin entwickelt Rosales anhand neorealistischer Tendenzen eine politisch aufgeladene Ausweglosigkeit von Twenty-somethings in Madrid. Gleichzeitig macht er sich Gedanken über die Veränderungen einer medialen Welt bezüglich der Bilder des Kinos selbst.

Es geht um Natalia und Carlos, ein hoffnungsvolles und zugleich hoffnungsloses Paar, das in einer erstaunlichen Gewöhnlichkeit dargestellt wird. Dieser Alltag ist deshalb so außergewöhnlich, weil er sich zum einen in ein nicht immer glaubwürdiges Extrem verändern wird und zum anderen, weil Rosales das Leben dieser Figuren fast als Spielfläche des Gewöhnlichen verwendet. Damit soll gesagt werden, dass die Dinge im Film einfach passieren und nicht wirklich aufgebaut werden. Das Leben ist etwas anderes als die Figuren. Eine Nähe zu Roberto Rosselinis sozialrealistischen Angriffen auf die Bequemlichkeit des Alltags durch das Zeigen der Ungerechtigkeit jenes Alltags kann dabei kaum übersehen werden, denn Rosales markiert mit Hermosa juventud einen politischen Verzweiflungsschrei, der sich nicht nur gegen die aktuelle Finanzkrise in Spanien wendet sondern aus ihrem Inneren entsteht.

Oft zeigt er seine Figuren im 16mm Rauschen vor weißen Wänden, die grau wirken. Da ist nichts. Karge Wüstenlandschaften von verdreckten Wohnvierteln, immer wieder sehen wir Türen im Anschnitt, bewegungslose Mütter, die sich dem Schicksal ihrer Kinder anpassen, die nicht mehr helfen können so wie der Vater, der kein Geld mehr hat und seiner Tochter verspricht ihr immer zu helfen. Und mitten in dieser Ausweglosigkeit, die von einer Schwangerschaft und ausglühenden Liebe von Natalia verschlimmert wird, existiert eine mediale Welt. Diese integriert Rosales völlig skrupellos in seine filmischen Bilder. So entwickelt sich vor unseren Augen plötzlich ein pixeliger Internetchat, eine Fotoschau, ein Bildermeer, das sich in einer Geschwindigkeit vor uns abspielt als wäre es eine projizierte Filmrolle. Nur, dass wir die digitalen Bilder dann nicht mehr erkennen können, nur einen Rausch, zu schnell, zu unecht. Es gibt ein Skypetelefonat in Leinwandgröße und auch im Dialog werden diese Welten von japanischen Werbeclips bis zum ewigen Messi Vs Ronaldo Gipfel thematisiert (die Antwort ist Ronaldo). Eigentlich sollte das auch völlig normal sein, denn wenn jemand mit einem Naturalismusanspruch an junge Protagonisten herangeht, die in der Wirklichkeit leben und in dieser leben müssen, dann muss er diese Welten auch mitverarbeiten. Manchem mag da die nostalgische Kinnlade entsagen, aber Film kann nach wie vor die Realität abbilden und das ist die eigentliche Nostalgie.

Beautiful Youth Jaime Rosales

Das ist eine große Aufgabe für Film. Denn schließlich ist diese Onlinewelt auch gleichzeitig der Feind, der Konkurrent, der Freund, die Werbemaschine, der Auswerter, der Verbreiter. Nun ist Film eine Kunst und wird nicht einfach wie das Fernsehen versuchen, das Internet mit in seine Strukturen zu integrieren und über Dinge berichten, die im Internet auftauchen, um eine Art Oberherrschaft zu bewahren. Nein, Film muss sich nicht an diese Regeln halten. Auch aus diesem Grund habe ich mich auch schon mehrfach gegen die große Freude gestellt, die scheinbar davon ausgeht, wenn beliebte TV-Serien im Kino gezeigt werden oder/und wie es hier beim Filmfest Hamburg der Fall ist in Festivals integriert werden. Das ist ein industrieller Hilfeschrei, der weder etwas mit dem Kinoerlebnis noch mit dem TV-Erlebnis noch mit dem Interneterlebnis zu tun hat. Aber Film kann für sich eigene Schlüsse aus dieser Veränderung ziehen und damit spielen. Rosales wagt ein solches Spiel, dass ihm manchmal äußerst gut gelingt und manchmal gar nicht.

Da ist zum einen der Pornokniff. Ähnlich wie in Zack and Miri Make a Porno von Kevin Smith gehen Natalia und Carlos in eine Internet-Pornosendung, um ein wenig Geld zu verdienen und auch, weil es eine sexuelle Fantasie von Carlos ist. Das Bild verändert sich. Statt eines Filmbildes sehen wir nun das digitale Video eines Pornos. Die beiden Laiendarsteller werden auf dem Sofa befragt und schlafen im Anschluss miteinander. Dabei bedient Rosales inhaltliche Klischees, um sie in seiner Form zu brechen. Das Problem stellt sich erst ein als er am Ende endgültig in der digitalen Welt verschwindet und Natalia, die inzwischen in Hamburg arbeitet aus finanziellen Notständen erneut in einem Porno landet. Es scheint mir doch etwas an den Haaren herbeigezogen, dass sie bei aller Ausweglosigkeit ausgerechnet in einen Porno läuft. Formell dagegen funktioniert der Kniff äußerst gut, denn schließlich existiert am Ende kein Film mehr sondern nur die Pixel zwischen Spanien und Deutschland, das Stocken der platten Bilder, der Voyeurismus. Ähnlich gelungen ist ein schockierender Moment früher im Film als Carlos kurz nach dem Bekanntwerden der Schwangerschaft von Natalia am Bahnhof von einem Unbekannten angegriffen wird. Plötzlich steht das Bild schief. Es hat sich um 90 Grad gedreht und schwenkt im Kreis. Ist das eine Überwachungskamera? Was passiert da? Hermosa juventud ist auch ein Film über die menschliche Unsicherheit in einer digitalen Welt. Einmal fragt Carlos Natalia während eines Skypetelefonats, ob hinter ihr gleich ihr geheimer Freund auftauchen wird. Der Streit, der die Beziehung entzweit passiert fast ausschließlich über SMS und Chat. Damit ist er für uns nicht wirklich greifbar und genau das ist interessant.

Hermosa juventud zeigt, dass die Grenzen für Film nicht unbedingt Filme eingrenzen. Sie können sie gar bereichern. Auch wenn das ein schmaler Grat ist.

Filmfest Hamburg: Die Verweigerung

Winterschlaf

Gestern nach der Deutschlandpremiere von Nuri Bilge Ceylans Winter Sleep bin ich in einer anderen Welt erwacht.

Man weiß immer, wann man auf der letzten Seite eines Buches ist und man ahnt es manchmal bei Filmen, wenn die letzte Szene beginnt oder endet.

Wenn ich hier sitze, im Dunklen, selbstverliebt auf meine Tastatur blute, dann habe ich manchmal einen Sinn, manchmal eine Idee, eine Beobachtung, die mich wahnsinnig macht und die ich loswerden will oder mir bewusstmachen will, indem ich darüber schreibe. Ich zweifle gleichzeitig. Ich war mir bisher bewusst, dass man diesen Zweifel in der Ambivalenz des filmischen Bildes finden kann. Nicht aber war ich mir bewusst, dass man den Zweifel, alleine in der Ausformulierung einer philosophischen Gedankenwelt im Dialog festzuhalten vermag. Ceylan, ein Mann in dessen Filmen normalerweise das Schweigen regiert und das Gesicht alleine diesen Zweifel auslöst, lässt seine Figuren nun sprechen und sprechen und sprechen. Aber er macht damit nicht nur einen Film mit Dialogen sondern auch einen Film über Dialoge. Es geht dabei um die Schönheit und die Widerlichkeit des Wissens und es ist unmöglich, über diesen Film zu schreiben. Es wäre nicht gerecht. Ich frage mich zum Beispiel wie sich Kritiker nach der Lektüre eines Dostojewski-Buchs trauen können, einen Gedanken zu formulieren. Es geht mir bei Ceylan genauso.

Wann hat der Film aufgehört?

Winterschlaf

Timbuktu von Abderrahmane Sissako hat drei wundervolle Szenen, die das Poetische mit dem Politischen verzahnen. Ein Fußballmatch ohne Ball und mit Musik, eine Flucht vor dem Tatort quer durch den Fluss im Sonnenuntergang in einer Supertotale (L’inconnu du lac-esque, aber ohne die POV-Gefahr) und eine Steinigung.

Die Menschen in Hamburg sind ungewöhnlich höflich, wenn sie nach Plätzen im Kino fragen. Ihr Lächeln ist viel offener in diesen Momenten.

Ich habe noch nicht über Kim Ki-duks neuesten Folterspleen, One on One geschrieben. Ich schreibe etwas:

Bei Kim Ki-duk sehen Menschen, die durch Städte laufen immer ganz eigenwillig aus. Oft folgt er ihnen mit einer Handkamera, häufig fokussiert er ihre Füße. Dabei ist es entweder eng oder es geht hoch (selten runter). Beschwerlich ist der Weg durch die Stadt.

Ein Film sollte nach einer Seele suchen und eine Seele haben.

Winter Sleep5

Die Frauen am Ticketschalter, den man hier jeden Morgen aufsucht, sind sehr freundlich. Sie scheinen sogar selbst die Filme zu sehen und beginnen darüber zu diskutieren. Man steht also auf in der Früh und nach dem Frühstück bewegt man sich an den Ticketschalter. Dort stehen meistens schon ein paar Frauen mit Akkreditierungen, sie tratschen über ihre Meinungen und dann auch über die Filme dazu. Dieses saubere Deutsch, das in Hamburg gesprochen wird, macht mir manchmal Angst. Ich komme mir sehr barbarisch vor. Ich spreche nicht. Wenn man mich fragt, dann sage ich: Ceylan und Turist. Ein Techniker sitzt an einem Mischpult. Kommt von ihm diese Musik?

Im Cinemaxx-Kino riecht es nicht gut. Im Abaton-Kino riecht es besser. Es scheint mir fast so als würde ich nur zwischen diesen beiden Kinos pendeln. Heute habe ich gar drei Vorstellungen hintereinander im selben Saal im Cinemaxx. Das ist ein wenig schade, da ich im letzten Jahr das Studio-Kino sehr mochte.

Ich will ruhig werden. Einen Tee trinken und mich in das zärtliche Weiß eines letzten Lichts setzen. Dumpf. Ich möchte nichts mehr hören. Ich will am Abend durch die Landschaft spazieren. Man denkt dann. Ich denke ans Ertrinken, ein Mädchen auf dem Eis wie in Vonarstræti von Baldvin Zophoníasson, es drückt mich unter Wasser.

Bei Kim Ki-duk gibt es eine bemerkenswerte Sexszene. Ein Mann (ein Diktator der Beziehung) vertraut seiner Frau (eine Unterdrückte der Beziehung) nicht, er nimmt ihr Handy und überprüft ihre Textnachrichten. Er beginnt die Frau zu schlagen. Sie droht ihn zu verlassen. Er schlägt sie heftiger. Er schläft mit ihr. Sie lässt es über sich ergehen. Er kommt. Er schlägt sie wieder. Kim Ki-duk filmt diese Szene mit einer schmerzenden Geduld. Das ist vielleicht dieser Sinn: Schmerzende Geduld.

Denn sowohl in Winter Sleep, als auch in Turist, One on One oder Timbuktu kommt das schmerzvolle immer dann, wenn man glaubt, dass die sowieso schon schmerzvollen Szenen jetzt vorbei sind. Die letzte Meinung, die Dominanz, das Erdrücken, die Dauer der Dinge. Ja, Film kann das zeigen. Muss das zeigen.

Winterschlaf

SMS nach dem Film: „White God ist schlimm.“ Steven Spielberg würde mir widersprechen. Andere auch. Ein Pathos-Meer mit allerlei Hunden. Ich erinnere mich an Amores Perros. Nicht wegen der Hunde sondern wegen Vonarstræti. Diesen Film hätte ich vor acht Jahren geliebt. Ein Episodendrama mit emotionalen Charakteren, einer interessanten Zusammenführung der Charaktere und Schicksal, Liebe, Vergangenheitsaufarbeitung und so weiter.

In White God gibt es eine verstörende Szene. Ein Hund (was sage ich? DER HUND: Hagen, der beste Filmhund aller Zeiten) versucht eine befahrene Schnellstraße zu überqueren. Immer wieder macht er einen Schritt vor und einen Schritt zurück. Wie hat Regisseur Kornél Mundruczó diese Szene nur in den Kasten gebracht? Das fragt man sich bei mehreren Szenen. Massen-Actionszenen mit echten Hunden…Aber Hunde, so der Regisseur, seien ein Symbol für alle Unterdrückten. Endlich jemand, der auf diesen Gedanken kommt.

Ich will nicht mehr zynisch sein.

Filmfest Hamburg: Turist von Ruben Östlund

Turist Ruben Östlund

Manchmal spielen Menschen Liebe, Schmerz oder Familie, um diese zu bewahren, um sich nicht einzugestehen, dass es eigentlich ganz anders wäre. Dann lächeln sie, auch wenn es sie innerlich zerreißt und sie sind zärtlich, auch wenn sie schreien müssen. Und manchmal handeln sie dann doch so wie sie fühlen. Sie schreien, schlagen und laufen davon. Meist folgt die Scham oder die Verdrängung. Beides ist unglücklich und absurd. Es gibt dieses Versprechen am Anfang einer Liebe: Wir sind anders. Und es gibt dieses Versprechen in jedem von uns: Ich bin richtig. Erst, wenn man bemerkt, dass dies Lügen sind, kommt die Krise. Im Fall von Turist von Ruben Östlund, der bislang der bei weitem beste Film ist, den ich auf dem Filmfest in Hamburg und im Kinojahr 2014 gesehen habe, kommt sie durch ein traumatisches Erlebnis, wie eine Explosion aus den Gefühlen und Instinkten seiner Figuren. Ein Schlag in die Mägen all jener, die an die Wahrheit der Liebe glauben, ein Film, bei dem mir kalt wurde, den ich körperlich spürte.

Es geht um eine schwedische Familie, die in den französischen Alpen Skiurlaub macht. Gleich in der ersten Einstellung lassen sie sich von einem Profifotografen im verlorenen Weiß der Berge fotografieren und halten so einen Moment fest, weil ein Moment hier alles verändern kann, weil er zählt und Dinge definiert. Später wird diese Familie auf der wunderschönen Terrasse des Hotelrestaurants sitzen und einen dieser zahlreichen knallenden Schüsse hören, die kontrollierte Lawinen auslösen. Dann sehen sie eine Lawine auf sich zu kommen. Aber kein Grund zur Panik, denn es handelt sich ja um eine kontrollierte Schneemasse…oder? Oder nicht. Instinktiv greift Tomas nach seinem Handy statt nach seinen Kindern und seiner Frau Ebba und rennt davon. Ebba hält sich schützend über ihre Kinder und verschwindet in einem weißen Dunst. Die Lawine ist vorher zum stehen gekommen. Das war nur der aufgewirbelte Schnee. Aber eine andere Lawine wurde losgetreten. Jene, die eine ganze Familie, eine ganze Liebe, ein ganzes Leben mit einer Sekunde in Frage stellt.

Turist von Ruben Östlund

Damit bewegt sich Östlund auf ähnlichem Terrain wie zuletzt Julia Loktev in ihrem The Loneliest Planet. Verrät hier das Unterbewusstsein etwas über die Wahrheit einer Person? Hatte Loktev ihre Handlung in der georgischen Steppe beobachtet und damit eine Isolierung und Leere zum Teil ihrer Sprache gemacht, findet Östlund sein Pendant in der Künstlichkeit und fehlenden Anonymität eines bizarren Skihotels. Bizarr ist weniger das Hotel sondern die Art, in der Östlund es filmt. Es wirkt durch sein Framing und durch die Musikuntermalung mit Vivaldi so als wäre das ganze eine Kunstwelt, vielleicht ein Freizeitpark, jedenfalls nichts echtes. Selbiges gilt für die Skipisten, die immerzu im Nebel verschwinden oder in geometrischen Formen aufgelöst werden. Dort scheinen Maschinen ihr eigenes Leben zu führen ganz so wie ein merkwürdiger Mann vom Hotelpersonal, der als ständiger Beobachter (und vor allem als einziger Beobachter) die nächtlichen Konflikte im Hotel beobachtet und sich dabei eine Zigarette anzündet. Damit erinnert Turist unter anderem an Jia Zhang-kes The World, indem das Setting auch ein deformierter Star war.

Darin liegt – und das ist wirklich bemerkenswert – Komik. Mancher bezeichnet Turist gar als Komödie. Das geht, weil Östlund mit einem derartigen Zynismus und einer brutalen Schärfe auf die Lügen einer Liebe und familiären Beziehung blickt und das immer wieder mit schockierenden Momenten (ein Ufo-Angriff in einem kontemplativen Moment oder ein OneLiner am Ende eines existentialistischen Gesprächs) aufbricht. Aber der Humor hat hier immer eine Kehrseite der wahrhaftigen Offenbarung, genauso eben wie die Realität immer etwas Absurdes hat. So werden Tränen vorgetäuscht und Launen wechseln ständig, Versprechen werden nicht gehalten und immer wieder wird versucht, ein Bild zu bewahren. Ein Bild von einem Ideal, das scheitern muss. Für Tomas führt das in einen Selbsthass. Bei Ebba in paranoiden Eskapismus. Mir ist immer noch kalt, ob der tatsächlichen Show, die die Eltern dann vor ihren Kindern abspielen, um die Rolle des Vaters wiederherzustellen. Diese Familie macht den ganzen Film nichts anderes als ein Familienfoto. Nur, dass man deutlich sehen kann, dass es nicht echt ist.

Der einzige Moment wahrer Liebe findet sich kurz vorher als die Kinder das geben, was ihr Vater ihnen nicht gab: Schutz. Als er heulend zusammenbricht werfen sie sich auf ihn und versuchen ihm zu helfen. Der einzige Moment von Wahrheit, der einem von Östlund brutal entrissen wird. Brutalität ist allgemein ein gutes Stichwort. Östlund denkt sich – und hier würde ein Kritikpunkt ansetzen, wenn er es nicht so perfekt machen würde – viele kleine Gemeinheiten aus, die seine Figuren weiter entzweien, gegeneinander und untereinander. So werden zwei Freunde der Familie am Abend zum Essen eingeladen und vor ihnen wird das ganze psychologische Theater zwischen Verdrängung und Hass durchgespielt. Wie auf einer Buñuel-Bühne des sarkastischen Selbstmitleids. Aus einer fast voyeuristischen Lust wird die Kamera dem befreundeten Paar in ihr Bett folgen und beobachten welche Krisen durch dieses Erlebnis in ihrer Beziehung entstehen. Als würde es die Zuseher in der Nacht nach dem Film filmen. Später sitzt Tomas mit jenem Freund bei einem Bier auf der Terrasse. Eine junge Frau kommt zu ihnen, sie scheint sie anzubaggern. Sie sagt, dass ihre Freundin gesagt hat, dass Tomas der schönste Mann auf der Terrasse sei. Es läuft Club-Musik, sie tragen Sonnenbrillen und trinken Bier. Sie lächeln und sind lächerlich cool. Dann kommt die Frau zurück und entschuldigt sich. Es wäre gar nicht um Tomas gegangen, sie hätte sich getäuscht.

Turist2

Östlund lässt einen Geschlechterkampf entstehen. Dieser folgt aber weniger einer großen biblischen Idee sondern einer ungeheuren Beobachtungsgabe und den Figuren selbst. Damit steht er trotz oder gerade wegen der humoristischen Einflüsse in Verbindung mit Ingmar Bergman und Bruno Dumont (vor allem dessen Twentynine Palms). Es geht darum ein Gesicht zu haben und es zu verlieren, es zu wahren, es zu vergessen, es zu akzeptieren, es zu hassen, es zu lieben. In Filmen wie Climates von Nuri Bilge Ceylan oder den genannten Twentynine Palms und The Loneliest Planet suchen Regisseure nach der verbitterten Seele der Liebe, dem Abgrund von Beziehungen. Sie werden dafür oft kritisch beäugt, denn meist entstehen Filme, die einem Schmerzen zufügen oder mit denen man nicht einverstanden ist. Zyniker stehen prinzipiell über dieser Art von Film. Es wird ignoriert, dass das ihre Größe ist, weil sie eine Ehrlichkeit besitzen, die ihren Subjekten oft fehlt. Bei Turist ist das Außergewöhnliche, dass er es schafft zynisch von Gefühlen zu erzählen und gefühlvoll von Sarkasmus. Er hat einen Film aus und mit einer Angst gemacht. Das Ungewisse in einem selbst, die Schutzlosigkeit, das Schauspiel, der Egoismus. Einer der besten Filme über die Heuchelei in menschlichen Beziehungen. Und doch ein Liebesfilm.