Il Cinema Ritrovato 2015: Ruggles of Red Gap von Leo McCarey

Charles Laughton als Ruggles

Ruggles bleibt gerne im Hintergrund. Er ist der Diener des Earl of Burnstead und in dieser Funktion sind Mitglieder seiner Familie schon seit Generationen im Einsatz. Ruggles ist pflichtbewusst und loyal und weiß um die Wünsche seines Herrn, noch bevor dieser sie äußert. Kurzum, Ruggles ist ein Meister seines Metiers und fühlt sich sehr wohl in seiner Rolle als Mensch zweiter Klasse. Die Qualitäten des britischen Butlers sind auch der neureichen Amerikanerin Effie Floud nicht verborgen geblieben, die während ihrer Kulturreise in Paris mit dem Earl of Burnstead Freundschaft geschlossen hat. Effie, an finanziellen Mitteln mangelt es ihr nicht, möchte die sagenumwobenen Früchte des „besseren“ Lebens naschen, doch ihre formale Bildung lässt zu wünschen übrig und ihr Mann Egbert, der sich eher für die Bier- und Weinkultur interessiert, ist auch keine große Hilfe. In einer Pokerrunde unter Freunden bringt sie den Earl of Burnstead schließlich dazu seinen Diener als Wetteinsatz zu bieten – Mrs. Floud schlägt zu und ergattert ihren Gewinn, der freilich erst am nächsten Morgen beim Frühstück von seinen geänderten Lebensverhältnissen erfährt. Der Earl, noch arg verkatert von der durchzechten Nacht, versucht Ruggles die Neuigkeiten schonend beizubringen, versagt dabei allerdings auf voller Länge. Als dieser aus den kryptischen Formulierungen seines Herrn endlich die richtigen Schlüsse zieht, nimmt er das Urteil trotz alledem mit Fassung – dass er wie ein Leibeigener einfach so als Wetteinsatz verloren und gewonnen werden kann, scheint ihn gar nicht weiter zu stören, sondern eine Selbstverständlichkeit zu sein.

Charles Laughton als Ruggles

Die Prämisse von Ruggles of Red Gap klingt simpel: vornehmer Brite kommt in amerikanisches Provinznest und stellt die dortigen Verhältnisse auf den Kopf. Filme dieser Art sind keine Seltenheit und werden mit unterschiedlicher Qualität und Würde seit Anbeginn des Mediums filmisch verarbeitet, in Theater und Literatur hat das Sujet ebenfalls lange Tradition – Ruggles of Red Gap basiert auf einem Roman aus den 1910er Jahren. Trotz der bekannten Motive und Figuren ist Ruggles of Red Gap ein ungewöhnlicher Film und das ist dem kongenialen Zusammenspiel von Hauptdarsteller Charles Laughton und seinem Regisseur Leo McCarey geschuldet. McCarey seines Zeichens im Produktionsstudio von Hal Roach groß geworden, hat in den zehn Jahren vor Ruggles of Red Gap mit dem who-is-who der Slapstickkomödie gearbeitet. Er war es, der Stan Laurel und Oliver Hardy erstmals als Duo auftreten ließ. Nebenbei realisierte er Filme mit Harold Lloyd, Charley Chase und Max Davidson. Anfang der 30er Jahre wechselte er zum Langfilm und dirigierte die Marx Brothers im grandios-genialen Chaos von Duck Soup, dem heute wohl bekanntesten Film der Truppe.

Charles Laughton hingegen war kein Filmkomiker. Ganz im Gegenteil, der korpulente Brite war und ist berühmt für seine Rollen in Kostümfilmen und Shakespeare-Stücken. Ein distinguierter Gentleman, Oscarpreisträger und einer der meistgeschätzten Akteure seiner Zeit. Im Jahr 1935 war er neben seiner Rolle als Ruggles auch als Captain William Bligh in Mutiny on the Bounty und als Inspector Javert in Les Misérables zu sehen. Das sind große Rollen, aber ist das auch die große Kunst? Die kleine Burleske, in der Laughton einen vornehmen aber warmherzigen Butler spielt, läuft all diesen großen Produktionen den Rang ab. Hier ist nicht das rezitieren großer Monologe gefragt und auch die großen Emotionen sind in Ruggles of Red Gap fehl am Platz. Dafür sind feine Nuancen gefragt, vor allem zu Beginn wenn der stocksteife Ruggles auf das unangemessene Verhalten der Amerikaner zu reagieren hat, aber seiner Abneigung keinen Ausdruck verleihen darf. Mit einem leichten Zucken der Gesichtsmuskeln vermag es Laughton das irritierte Innenleben des Dieners nach außen zu kehren, ohne dabei Haltung zu verlieren und aus der Rolle zu fallen (im doppelten Sinne). In McCarey fand er den idealen Partner für dieses thespische Kunststück, denn dieser vereitelt nicht die große Wirkung von Laughtons kleinen Gesten, indem er sie mittels Großaufnahme oder anderer inszenatorischer Tricks zum Zentrum des Geschehens macht. Ganz im Gegenteil, wie McCarey es im Stummfilm gelernt hat, findet Laughtons Spiel in der Halbtotalen, und wie es sich für einen Diener gehört, im Hintergrund, statt. Er inszeniert Laughton, wie die großen Komiker, mit denen er seine Lehrjahre verbracht hat und vertraut auf sein dort erworbenes Gespür für das richtige Timing eines Gags.

Charles Laughton in Ruggles of Red Gap

Mit Fortdauer des Films wandelt sich Ruggles jedoch, anders als in den Klassikern der Slapstickkomödie scheitert er nicht an den Herausforderungen, mit denen er sich konfrontiert sieht, sondern erkennt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dass er sein Dienerdasein aufgeben möchte, um fortan sein eigener Herr zu sein. Die lockere Burleske wandelt sich zum recht plumpen Lehrstück in Sachen Demokratie und Menschenrecht. Das große Understatement, dass Laughton zu Beginn an den Tag legte wird durch großen Pathos ersetzt: er rezitiert die Gettysburg-Rede von Abraham Lincoln und wirft zum Abschluss einen der „besseren Herren“ aus dem Restaurant, mit dem er seinen Lebensunterhalt zu verdienen gedenkt. Ab und an blitzt noch das komische Talent des Gespanns durch, doch die komischen Momente erster Güte wurden der Entwicklung der Figur geopfert. Doch das verzeiht man diesem Film nur zu gern, denn anders als so viele Filme, die ähnliche Dramaturgien vorweisen, bleibt Ruggles of Red Gap seiner Linie treu, ist vergnüglich und erhebend und passt sich somit nahtlos in die Reihe der McCarey-Filme der großen Herzen ein.

Echoing Eyes: Arabian Nights von Miguel Gomes

In Miguel Gomes’ Arabian Nights geht es vielmehr um die Relation von Narration und Realität oder Aktualität und Fiktionalität, als darum, ob wir es hier mit einem gelungenen Film zu tun haben. Es ist die Machart und Konstruktion des Films selbst, die hier – und das ist selten genug – von Bedeutung ist. Die bis zum Anschlag geöffneten Schleusen der Inspiration, der Politik, der Natur, des Kinos treten beständig in den Weg eines Versuchs, eine Geschlossenheit beim Sehen zu konstruieren. Gomes gibt am Anfang jeder seiner gut zwei Stunden langen Teile (1. Teil: The Restless One, 2. Teil: The Desolate One, 3.Teil: The Enchanted One) eine kurze, schriftliche Einführung in sein Vorgehen und seine politische Agenda. Der Film würde lose von der Struktur der Arabischen Nächte ziehen. Allerdings wäre das Geschehen in das zeitgenössische Portugal, ein Land in einer erheblichen ökonomischen und sozialen Krise verlegt worden. Die unterschiedlichen Episoden, die Scheherazade dem König erzählt, werden in zahlreiche Rahmen verpackt und erzeugen ein schier unendliches Wechselspiel aus dokumentarischen und fiktionalen Elementen, weitaus wilder und dennoch verwandt mit Gomes‘ Our beloved month of August.

Ob man den Film nun als ganzen betrachtet oder mit Pausen scheint relativ unerheblich. Gomes selbst äußerte sich, dass er zu Pausen raten würde, es aber prinzipiell möglich und in gewisser Weise „echter“ sei den Film am Stück zu sehen und vor allem in der richtigen Reihenfolge. So ganz scheint er sich also auch bezüglich der Präsentation nicht festlegen zu wollen. Ähnliches gilt für seine Ästhetik und seine Dramaturgie. Es ist nicht nur so, dass Arabian Nights ein Film wäre, bei dem man nicht sagen könnte, was als nächstes passiert, nein, vielmehr entsteht der Eindruck, dass es der Filmemacher selbst auch nicht weiß. Ähnlich wie Albert Serra praktikziert Gomes ein wortwörtliches Verschwinden des Regisseurs, es geht ihm vielmehr um das Treiben in einer filmischen Welt. Bezeichnend, dass Gomes sich relativ zu Beginn seiner Märchen und Dokumente selbst als Flüchtenden inszeniert. So sitzt er einsam zwischen seiner Crew, zieht eine Kapuze auf und rennt dann zum Schrecken des Filmteams davon. Es ist dies auch einer dieser humoristischen Zwischentöne, denen sich der Film nie ganz entziehen kann, die auf der einen Seite dann doch den Regisseur spürbar machen, aber sich auch immer dagegen wehren müssen, dass sie nicht das Gewicht des Films stören.

Arabian Nights Miguel Gomes

Doch was ist dieses Gewicht des Films? Ist es dieses Gefühl einer Geschichtlichkeit im Moment einer Realität? Oder ist es vielmehr die bloße Länge, der schiere Wahnsinn des Unterfangens? Ist es gar die Größe und flirrende Zerbrechlichkeit einer Kraft der kinematographischen Bilder, die hier sehr viel mit Kameramann Sayombhu Mukdeeprom zusammenhängen, einem Künstler, von dem wir auch dieses avancierte Spiel mit unterschiedlichen Formaten (die „Baghdad-Sequenzen“ wurden in 35mm gedreht, die „Portugal-Sequenzen in 16mm) und Stilen kennen, da er sie schon häufiger in seiner Zusammenarbeit mit Apichatpong Weerasethakul anwenden durfte, wohl am überzeugendsten in Uncle Boonmee who can recall his past lives? Man kann es nicht eindeutig sagen, aber ständig gibt es da dieses Gefühl, dass einem etwas entgeht, ein Film, den man nicht gewachsen sein kann, der sich mehr oder wenig selbst zur Geschichte oder besser zum fantastischen Zeitzeugen erklärt und es somit dieser überlässt, etwas mit ihm anzufangen. Aber einige Gedanken regen sich dann doch beim Sehen und Erinnern, Gedanken, die sich sicherlich mit der Zeit und mit wiederholten Sichtungen weiter transformieren.

The Restless One

Arabian Nights3

Ruhelos scheint auch Gomes. Immerzu auf der Suche nach einer filmischen Verwandlung, einer Überraschung, einem Rhythmuswechsel, alles ist jederzeit möglich. Das Gefühl einer angsteinflößenden Freiheit kehrt mit Arabian Nights zurück in das Kino. Schon im ersten Teil des Gesamtprojekts wird dies klar. Dieser ruhelose Film erinnert am meisten an Our beloved month of August, denn Gomes praktiziert hier am deutlichsten die verspielte Vermischung von dokumentarischen und fiktionalen Momenten. Auch Szenen wie jene mit dem Akkordeonspieler (den man bereits aus Gomes vorletzten Film kennt) oder das wiederholte Feuerwerk in Resende sowie eine Geschichte rund um Brände erinnern an Gomes‘ in ein Melodrama kippende Dokumentation. Wir hören die Stimmen der Betroffenen wie eine ewige Mahnung und beständige Poesie aus dem Herzen dieses Landes am Meer, diese Melancholie und dieser Humanismus von Gomes, scheinen wirklich aus dem Land und seinen Blicken geboren zu werden. Andernorts wurde der Film vielleicht auch deshalb als Liebesbrief an Portugal verstanden, obwohl es doch ein sehr wütender Liebesbrief ist. Bis der Film zu seiner Struktur um die arabischen Nächte findet, dauert es einige Zeit, Gomes ist ein Meister darin, seinen kreativen Findungsprozess filmisch festzuhalten. In diesem Findungsprozess stößt man auch zum ersten Mal auf einen Zweifel, einen Zweifel am Geschichtenerzählen, an der Geschichte, der Geschichtlichkeit. Kann man einer Idee und ihrer Realität beziehungsweise der Realität und ihren Ideen gerecht werden filmisch? Kann man filmisch überhaupt festhalten, was man sich vornimmt? Gomes zweifelt, aber obwohl er in seinem eigenen Film als Feigling vor seiner Aufgabe flüchtet, stellt er sich eben jenem Unterfangen in der Realität seines Films umso heftiger, mit einer immensen Palette an filmischen Sensationen, Explosionen und Möglichkeiten. Nicht nur eine Art SMS-Dramaturgie, in der Kurznachrichten als Text auf den Bildern erscheinen, sondern auch satirische Vulgarität, Schockeffekte wie die Explosion eines Wals oder der bereits angesprochene Meta-Blick in den Spiegel seiner eigenen Crew, in der ich auch endlich meinen Lieblingstonmann/Schauspieler Vasco Pimentel wieder sehen durfte. Um nochmal zurück auf das zu kommen, was ich eben eine satirische Vulgarität genannt habe: Gomes scheint eine Lösung hinter den komplexen Problemen und großen Katastrophen seines Landes immer wieder in äußerst banalen und animalischen Verhaltensweisen zu finden. Bei den großen Politikern geht es letztlich wie man schon immer gewusst hat um Erektionen, während anderswo im zweiten Teil Fahrstühle blockieren, weil man in einer Silvesternacht in sie hinein gepisst hat. In dieser Banalität kann man auch an Landschaft mit dem Sturz des Ikarus nach Pieter Brueghel denken. Oder vielleicht an den Spruch, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Verloren in der Einfachheit und Komplexität jeder einzelnen Geschichte, man verheddert sich in einem Netz wie das Genie am Ende des dritten Teils, man ist gefangen in den Strukturen einer Politik und einer Fiktion zugleich. Unfähig das große Ganze zu erkennen und letztlich geht es in Arabian Nights genau darum: Um unsere Unfähigkeit die Gegenwart zu erfassen und die daraus resultierende Notwendigkeit von Fiktionen.

In fast jeder Episode spielen Tiere eine dominante Rolle und Gomes stellt ganz bewusst am Anfang seines Films die Frage nach dem metaphorischen Potenzial solcher parallelen Ereignisse. Dabei geht es ihm um ein Problem mit Insekten in der Gegend, in der er die Geschichte(n) des Hafens erzählt. Doch eine Metapher, das wird klar, ist genauso einer Krise unterzogen, weil eine Metapher Teil einer narrativen Struktur ist, die mit Arabian Nights nicht mehr greifen kann. Im Verlauf des Films treffen wir auf tote Wale, Hunde, einen berühmten Hahn, singende Vögel, Kamele, einen Esel und vieles mehr (etwas enttäuschend, dass es nicht wie in Tabu ein Krokodil gibt, ich liebe Krokodile). Das Fantastische kann hier weder autonom existieren, noch kann es als Fluchtpunkt oder Kontrapunkt zur Realität betrachtet werden. Vielmehr existiert das Fantastische in der Krise, es ist zugleich diese Krise, ihr Ausdruck, als auch völlig unabhängig von ihr. Das Reale ist immer Teil der Imagination und die Imagination Teil der Realität. Man denke an die Märchen, die uns Politiker erzählen, Legenden in unserer Geschichtswahrnehmung oder diese ewigen Sehnsüchte, die die Realität erst als solche konstituieren und erträglich machen. Indem Gomes das Fantastische (Arabische Nächte) und das Reale (die Krise in Portugal) auch örtlich und in seiner Bildsprache trennt und es uns dennoch nicht erlaubt sie emotional zu trennen, zeigt er uns zugleich die Kraft und das Versagen des Kinos, das immerzu nur aus Fragmenten bestehen kann, aber diese wie von selbst in unseren Augen zusammensetzt.

The Desolate One

Arabian Nights

Der zweite Teil ist der hypnotischte in Arabian Nights. Große, langsame Bilder, die mit zarten Bewegungen von einer Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit erzählen, eröffnen die erste Episode im Stil eines Westerns. Hinter diesen anfänglich sehr willkürlich scheinenden Ergüssen, entpuppt sich früher oder später immer eine philosophische, moralische oder politische Wahrheit. Es ist in diesem Teil, dass Gomes am Offensichtlichsten aus dem Imaginären etwas Wahres und Reales schöpft. In einer langen Gerichtsverhandlung, die stark an das Kino des verstorbenen Manoel de Oliveira erinnert, geht es um die Frage der Schuld. Gomes bewegt sich mehr und mehr auf abstraktes Terrain und dieses Terrain ist durchsetzt von einer Sinnlichkeit, die sich in Tränen, Blut und Körpern wiederfinden lässt. Es liegt ein Delirium der Würde in der Kriminalität und reichen Armut dieser Bilder. Ein Vorhang weht aus einem offene Fenster. Haben die Bewohner Selbstmord begangen? Das desolate ist die Ausweglosigkeit, die Undurchschaubarkeit und die absurde Tragweite dieser Verzweiflung. Aus diesem Grund ist Teil 2 auch der emotionalste Film der Arabian Nights. Musikeinlagen von Lionel Richie oder Rod Stewart inklusive (natürlich nicht zu vergessen, die gefühlt 20 verschiedenen Variationen von Perfidia, die wir im Film hören, wodurch die Musik zu einer eigenwilligen Hommage an Wong Kar-wai wird). Das Spielen ist Gomes ein wenig vergangen im zweiten Teil. War es im ersten Teil noch der Exzess eines Geschichtenerzählens in der Krise, in einer dieser Krisen, in der es immer so viele Geschichten gibt, so ist es jetzt ein Bewusstwerden der Unendlichkeit dieser Geschichten und ihrer Härte. Die Arbeitslosen, Diebe, Menschen an der Armutsgrenze, Verbrecher, sie alle, so abgedroschen das natürlich klingt, sind Menschen und sie sind Menschen Portugals.

Das Spirituelle und Erhabene ist bei Gomes trotzdem nicht sicher vor dem Zynismus. Zwar erscheinen die Bilder in diesem Teil hier und da tatsächlich wie aus einem Film von Weerasethakul, aber immer wieder wirft Gomes die sinnliche Wirkung mit seinem Intellekt und seiner Ironie über Bord. So ganz will er an keine Wahrheit glauben, so ganz vertraut er keinem Gefühl. Es ist so als würde man sich immer wieder in einem surrealen Meer verlieren und dann von Brecht oder Gomes gezwickt werden. Sie sagen uns: Träume, aber nur, um aufzuwachen. Doch für ein mögliches und sicher nicht nötiges agitatorisches Potenzial fehlt Arabian Nights letztlich der Ausweg, die Klarheit und die Erkenntnis. Wenn es eine Erkenntnis gibt bei Gomes, dann dass es keine Erkenntnis gibt. Wenn wir also wieder zurückkommen auf die Relation von Fiktion und Realität, dann kann man sagen, dass Gomes sie auch immer wieder gegeneinander ausspielt. Man kann sich nie sicher sein, wann uns eine Lüge erzählt wird und wann wir die Wahrheit hören. Ob das Kino die Wahrheit oder eine Lüge 24mal in der Sekunde ist, spielt bei Gomes keine Rolle, das Kino ist einfach 24mal in der Sekunde. Und immer, wenn wir romantisch glotzen, wird uns die Realität ermahnen und immer, wenn wir eine Art soziales Bewusstsein entwickeln, wird uns die Fiktion erheben. Der zweite Teil bietet auch die strengsten Gegensätze zwischen dem Theater des Kinos, der Musikalität des Kinos und der Kinematographie des Kinos. Das Theater liegt im Gericht, der Darstellung einer Schuld, die Musik in der Melancholie und Poesie und die Kinematographie in der Zeugenschaft und Konstruktion und diese Gegensätze markieren wohl auch die politischen Konflikte um Portugal (oder aktueller auch Griechenland). Und Gomes ist hier wirklich desolat, denn das Theater findet keine Antworten, die Musik ist nur mehr eine Erinnerung, ein Sterben und das Kino kann nicht eingreifen. Gomes greift nicht ein. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer, Vasco, ein junger Mann, ehemaliger Drogenabhängiger, er lebt mit seiner Freundin in einem Wohnblock und züchtet einen Buchfink für Gesangswettbewerbe. Seine Figur kommt nach dem zweiten Teil auch im dritten Teil vor. Nicht nur findet Gomes in ihm eine Narration, nein, er findet auch eine Dokumentation und eine Schönheit des Gegensatzes.

The Enchanted One

Arabian Nights2

Dieser Gegensatz ist Faszination eines eigenen Films im Film, einer Dokumentation (kann man in Arabian Nights davon sprechen?) über einen Buchfink-Gesangswettbewerb, der von Kriegsveteranen und Kriminellen durchgeführt wird. Die Schönheit des Gegensatzes. Einer dieser Vogelzüchter ist eben Vasco, der allerdings von einem Schauspieler gespielt wird (so schnell ist es vorbei mit der Hoffnung der Realität). Hier gibt es ganz plötzlich die Einfachheit eines Vogelzwitscherns, die Schönheit dieses Gesangs. Aber – und das wird auch gesagt – vor lauter singen, kann man sterben. Ist die Poesie Portugals gleichzeitig sein Untergang? Immer wieder gibt es in Arabian Nights die Musik, die Poesie, das Fantastische und immer wieder gibt es auch das Sterben. Nun erklären die Vögel, dass diese Ko-Existenz auch auseinander hervorgehen kann und es ist äußerst konsequent, dass Gomes in seinem dritten Teil die Ton- und Bildebene so extrem wie sonst nie in seinen Arabian Nights trennt. Einmal hören wir die Geschichte einer Asiatin und sehen Bilder einer brutalen Polizeidemonstration. Erst spät werden die beiden Ebenen kurz zusammengeführt, es ist ein wenig wie in einem Film von Gerhard Friedl. Sinn machen viele Geschichten sowieso erst oft in ihrem Abklang, aber das kennen wir bereits von Gomes aus seinem Redemption. Aber Gomes geht noch weiter mit den Gestaltungsebenen, denn Schrift spielt plötzlich eine enorme Rolle im dritten Teil. So liegt die Erzählung von Scheherazade ständig über den Bildern der Vogelzüchter und wird gleichzeitig zu einer Fiktionalisierung und Hintergrundinformation. Gomes zwingt den Zuseher zum Lesen, er nimmt seinen Bildern damit endgültig ihre Bedeutung, ja ihre Glaubwürdigkeit im Bezug zum Realen. Aber gleichzeitig ist auch diese Schrift im Bild ein Kino. Die Ebenen klaffen meilenweit auseinander, den Geschichten fehlt ihr Ton, ihre Sinnlichkeit, sie können nur noch nüchtern und gegen die eigene Ermüdung und das Schwinden der Inspiration entstehen. Sie werden jedoch durchgezogen, weil sie erzählt werden müssen, um das Volk zu retten. Dieses Vorgehen ist äußerst ungewöhnlich und hat mich ein wenig an Hou Hsiao-Hsiens zweite Episode seines Three Times erinnert, ohne dass Gomes auf irgendeine Art Stummfilmästhetik zurückkommen würde. Einen solchen, an Tabu erinnernden Moment, gibt es wenn dann am Ende des ersten Teils, als in im fröhlichen Rausch eines Neujahrsschwimmens plötzlich der Ton aussetzt und eine tragische Tragweite in das Geschehen haucht. Aber zurück zum tödlichen Gesang, der auch eine Warnung an der Abkehr von der Realität sein könnte oder aber anzeigt, was sich unter oder hinter dieser Fröhlichkeit und Illusion verfangen hat. Denn ein Lied wird auch gesungen, um Schmerzen zu vergessen, es wird auch gesungen, um Panik zu vermeiden, es wird auch gesungen, um Gefühle vorzutäuschen. Ist es nicht erstaunlich, dass diese Lieder, die uns oft erst ermöglichen, etwas zu fühlen, genau dieses Gefühl im Kino vortäuschen können? Die Lüge einer Wahrheit, Perfidia:

To you my heart cries out, Perfidia,
For I found you, the love of my life, in somebody else’s arms
Your eyes are echoing perfidia,
Forgetful of our promise of love, you’re sharing another’s charms…
With a sad lament my dreams have faded like a broken melody
While the gods of love look down and laugh at what romantic fools we mortals be…
And now I know my love was not for you
And so I take it back with a sigh, perfidious one,
Goodbye…

Arabian Nights set2

Die Träume, die wie eine gebrochene Melodie ausklingen. Und im dritten Teil setzt Gomes auch seine Scheherazade in eine Krise. Eine wunderschöne Krise im Rausch einer Schönheit am Meeresufer und in Riesenrädern. Hier geht es auch um das Privileg des Geschichtenerzählers und die Lücke zwischen der Erzählerin und ihrem Stoff. Es ist eine Ermüdung, das Verschwinden der Inspiration, eine Verkrampfung ganz ähnlich zu jener, die Gomes selbst im ersten Teil heimgesucht hat. Scheherazade, die im vollen Leben steht, kann keine Geschichten mehr erzählen. Die Traurigkeit des Kinos, die Kamera muss immerzu weinen bei all dem Leiden, das sie fotografieren kann, das Stocken bevor man wieder und wieder vom Grauen erzählt. Gomes scheint hier zu sagen, dass es keinen Eskapismus in die Geschichten geben kann, sondern nur eine Flucht vor den Geschichten. Und daher ist Arabian Nights auch eher ein Liebesbrief an das, was die Amerikaner eine Story nennen, als an Portugal. Aber Portugal ist auch eine Fiktion und die Fiktion ist auch eine Realität, Realität des Kinos, das hier im Moment seiner Geburt ein Zeuge ist und uns zu Zeugen macht, wie das Echo in deinen Augen.

Was also zunächst bleibt ist ein Gefühl, dass mehr bleiben wird. Darüber hinaus aber befindet man sich mit diesem Film in einer Welt, die sich im Moment ihrer Krise selbst betrachtet, die sich selbst vergisst, die es selbst nicht schafft. Wir befinden uns in einer Unmöglichkeit der Fiktion und der Realität zugleich. Gomes hat einen Film gemacht, indem sich alles aufgehoben hat und genau in diesem Vakuum hat er wieder das Kino gefunden. Er findet dort unter anderem die Frage nach dem Geschichtenerzählen selbst. Die Bedeutung von Geschichten, aber auch ihre Ästhetik, ihre Möglichkeiten und Limitierungen. Was ist die Ästhetik einer Geschichte, warum ist es wichtig, ob etwas wahr oder erfunden ist? Wir, die im Kino noch nach dem Kino suchen, fragen uns an einer solchen Stelle viele Dinge. Und genau das wollen wir.

Il Cinema Ritrovato: Festivaldialog

Das Il Cinema Ritrovato schickt gerade letzte Lichtstrahlen auf seine Leinwände. Kurz nach ihrer Abreise aus Bologna unterhalten sich Andrey und Rainer über ihr Bild dieses einzigartigen Festivals.

Rainer: Waren Ingrid Bergmans Augen wohl wirklich so blau, wie es uns das Festivalsujet weismachen will?

Andrey: Bestimmt für alle, die ihr in selbige geblickt haben. Aber ich habe hier bislang keinen einzigen Film aus dem Bergman-Tribute gesehen – nicht etwa aus Desinteresse, sondern weil mich das Alternativprogramm stets mehr reizte. Bologna besteht eigentlich nur aus Alternativprogrammen, findest du nicht? Egal, in welchem Film man sitzt, zumindest für einen kurzen Moment juckt einen das Bewusstsein, einen anderen zu versäumen, der womöglich ebenso spannend (und ebenso rar ist).

Rainer: Ich empfinde das ehrlich gesagt ganz anders. Natürlich kann man hier, wie auch bei anderen Festivals, von einem Screening zum nächsten hetzen, aber die besondere Qualität des Il Cinema Ritrovato ist für mich, dass hier keine so gespannte Atmosphäre, sondern eher Urlaubsstimmung herrscht. Da finde ich es dann auch nicht so schlimm, wenn ich mal etwas verpasse. Was soll es überhaupt bringen, den raren und überraren Filmen und Kopien nachzurennen?

Andrey: Nun, die offensichtliche Antwort wäre: Um die Zeit, die einem in diesem cinephilen Schlaraffenland beschieden ist, voll auszuschöpfen, um seinen Horizont zu erweitern und sich filmhistorisch auf den Gebieten weiterzubilden, zu denen einem der Zutritt für gewöhnlich mangels Verfügbarkeit der hier gezeigten Artefakte verwehrt bleibt, damit es einen später nicht reut, dass man einst den verlorenen Schlüssel zum Werk eines geschätzten Regisseurs oder einer faszinierenden Periode in Händen hielt und ihn achtlos beiseite geworfen hat.

Rainer: Das ist ein sehr nobles Anliegen, aber mich darauf zu Lasten persönlicher Vorlieben zu konzentrieren, würde denke ich erst recht meine cinephile Energie erschöpfen, sodass ich womöglich nach einiger Zeit gar nichts mehr mit diesem Schlaraffenland anfangen können würde. Da folge ich im Zweifelsfall doch lieber meinen Leidenschaften und verzichte auf einen Film, den ich vielleicht nie mehr wiedersehen kann (wenn er wirklich so rar ist, dass er zu meinen Lebzeiten nicht mehr gezeigt wird, liegt das womöglich eh daran, dass er nicht allzu gut ist, aber das ist eine andere Frage). Kino soll doch auch Freude machen, oder? Diese Grundeinstellung spüre ich hier in Bologna sehr stark.

Filmvorführung auf der Piazza Maggiore

Andrey: Das resultiert wohl auch aus der zuvor genannten „Urlaubsstimmung“ – das Wetter ist schön, das Essen gut und relativ preiswert, das Programm im schlimmsten Fall „bloß“ interessant, die Atmosphäre entspannt (in der Hinsicht, dass man nicht von seiner Umgebung gestresst wird, wenn man sich nicht stresst – das Gegenteil von Cannes), ebenso die Menschen, die eigentlich alle im Geiste Vertraute zu sein scheinen. Und die alte Universitätsstadt mit ihrem warmen, rötlichen Fassadenkleid macht den Eindruck eines offenen Campusgeländes, auf dem jeder immerzu Freigang hat. Soweit der idealisierende Touristenblick, aber ein bisschen frage ich mich schon, inwieweit die steigende Popularität dieses „Genussfestivals“ (das ich durchaus genieße) nicht symptomatisch ist für die Verlagerung erlebter Filmgeschichte in exklusive Domänen, wo die seltenen Kopien den Status erlesener Rebsorten annehmen und die Projektion zur Degustation wird.

Rainer: Und inwiefern ist das ein Problem? Es ist doch schön, wenn Film als Genussware wahrgenommen wird und wann in der Geschichte gab es denn einen Ort an dem Filmgeschichte bewusster erlebt und als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wurde als hier? Es ist mir nicht klar, welches Alternativprogramm du bevorzugen würdest – geht es dir um die Kinoerfahrung vergangener Jahrzehnte, wo man einfach mehrmals die Woche zur Unterhaltung ins Kino ging? Damals war das Bewusstsein für Filmgeschichte und Film als Kunst aber weit weniger vorhanden. Man konnte viele Filme sehen, aber fast ausschließlich aktuelle. Die zunehmende Marginalisierung dieser Kinokultur darf und kann man betrauern, aber ich sehe in dieser Spezialisierung eigentlich eine große Chance für die Filmkultur, auch wenn sie natürlich eine zunehmende Elitenbildung mit sich bringt, die man bekämpfen müsste (allgemein würde ich das Il Cinema Ritrovato aber ohnehin niederschwelliger einstufen als zum Beispiel das Österreichische Filmmuseum).

Andrey: „Exklusiv“ war vielleicht das falsche Wort, aber dieses Festival hat schon etwas von einer Enklave, und Enklaven neigen immer ein bisschen dazu, den Rest der Welt zu vergessen. Andererseits wird ja viel von dem, was hier gezeigt wird, später nach außen getragen und findet seinen Weg in die Cinematheken. Gibt es eigentlich etwas aus dem hiesigen Programm, das du besonders gerne wieder- und anderen zugänglich gemacht sehen würdest?

Rainer: Interessanterweise sind meine Favoriten alle ohnehin Werke relativ bekannter Filmemacher und nicht allzu schwer zu sehen. So zum Beispiel Otto Premingers Bunny Lake Is Missing, Anthony Manns The Heroes of Telemark oder Roberto Rossellinis Europa ’51. Nichtsdestotrotz waren auch die spezielleren Programme wertvolle Erfahrungen, vor allem die Vorläufer des Iranischen Neuen Kinos hätten sich mehr Präsenz verdient – und German Concentration Camps Factual Survey, nach nunmehr siebzig Jahren durch die Arbeit des Imperial War Museums das erste Mal in seiner endgültigen Form zu sehen, sollte zu einem Pflichtfilm für Mittelschüler werden.

„The Heroes of Telemark“ von Anthony Mann

Andrey: Viele der Filme, die du genannt hast, sind digital restauriert worden und wurden hier als DCP gezeigt. Rossellini und (soweit ich weiß) auch Preminger sind schon seit Längerem auf Bluray erhältlich. Ich mache mir dann doch eher Sorgen, dass es so etwas wie die Renato-Castellani-Schau nie über die Grenzen Italiens schafft. Obwohl das jetzt nicht alles Meisterwerke waren, ergänzen sie das neorealistische Universum um einen interessanten Aspekt. Und bei den ganzen Technicolor-Vintage-Prints sowie den japanischen und sowjetischen Farbfilmen würde ich mich auch freuen, diese filmspezifische Visualpracht anderswo strahlen zu sehen. Andererseits fand meine intensivste Kinoerfahrung hier im Rahmen einer Digitalprojektion (und außerhalb eines Kinos) statt, beim Screening der restaurierten Fassung von Rocco e i suoi fratelli auf der Piazza Maggiore.

Rainer: Wenn man es von dieser Warte aus betrachtet, kann ich mich dir nur anschließen: mehr Technicolor-Vintage-Prints braucht das Land. The Heroes of Telemark war allein durch die absurd hohe Qualität der Kopie eine außergewöhnliche Kinoerfahrung. Leider wurde die Vorführung dieses Films, wie auch viele andere durch inkompetente Projektionisten gestört. Wahrscheinlich zeigen sie deshalb Jahr für Jahr mehr digitale Kopien…

Andrey: Die wenigen Digitalprojektionen, die ich besucht habe, wurden auch nicht wesentlich professioneller gehandhabt. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich hier überhaupt keine einzige Vorführung erlebt, die nicht von irgendwelchen Störungen, Defekten oder anderen Irritationen geplagt war – der plötzliche Wettersturz während des Screenings von Louis Malles Ascenseur pour l‘échafaud am Tag unserer Ankunft war offenbar ein Menetekel, seiner sommerwilden Schönheit zum Trotz. Auch mit den Beginnzeiten nahm man es nie so genau, ausufernde Einführungen mit hinkenden Übersetzungen führten periodisch zu Verzögerungen, ich hörte sogar von einer 40-minütigen Verspätung. Eigentlich ist diese organisatorische Schludrigkeit absurd bei einem derart ostentativ cinephilen Festival, aber bezeichnend für Bologna ist auch, dass es diesbezüglich kaum böses Blut gibt, gerade mal ein leises Raunzen. Am Ende ist man immer noch froh, hier zu sein.

Filmfest München: Trois souvenirs de ma jeunesse von Arnaud Desplechin

Arnaud Desplechin kehrt mit Trois souvenirs de ma jeunesse nicht nur zurück zu bereits bekannten Figuren, sondern vor allem zurück zu seiner alten Lebendigkeit. Dieser Film, der eine Vorgeschichte zu Comment je me suis disputé… (ma vie sexuelle) erzählt und dennoch völlig eigenständig funktioniert, beinhaltet eine Energie, die man als die dynamische Melancholie einer Jugend bezeichnen kann, die ständig im Begriff ist, sich aufzulösen und die dennoch bis in die Augen und den Schmerz der Gegenwart pulsieren. Anders könnte man formulieren: Trois souvenirs de ma jeunesse ist der Proust-Film, den Olivier Assayas schon immer drehen will. Nun hat Desplechin das für ihn übernommen. Ein Film, in den man sich verlieben muss.

Im Zentrum steht die Figur des Paul Dédalus, den wir hier in unterschiedlichen Phasen seines Lebens begleiten. Vor allem eine als eine Art Agententhriller aufgemachte Episode in der Sowjetunion und die Liebesgeschichte zu Esther bekommen hier eine große Bedeutung. Paul ist jemand, der sich selbst immerzu beobachtet, der sich falsch einschätzt, in dem man eine Kraft und eine Angst zugleich spürt. Nicht nur in dieser Hinsicht kann man durchaus von Desplechins Antoine Doinel sprechen. Ein Mensch, der Geheimnisse behält und Geheimnisse nur mit dem Zuseher teilt. Im ruhigen Blick dieser Figur herrscht eine verliebte Panik und in seiner Wut eine wissende Gelassenheit. Dennoch ist er eine einsame Figur. Zwischen ihm und seiner Umgebung ist ein unsichtbares Glass, das sich wiederum hin in den Zuschauersaal erstreckt. Dieses Glass ist auch eine fehlende Fähigkeit zu lieben, zu fühlen. Paul ist ein Ausgestoßener, ein junger Mann, der im wahrsten Sinne des Wortes seiner Identität beraubt wird. Die Position zum Leben und die Thrillerkomponente erinnern oft gar mehr an La sentinelle denn an Comment je me suis disputé… (ma vie sexuelle). Wie in La sentinelle werden politische Ereignisse, wie der Fall der Berliner Mauer umgehend auf ihre persönliche Bedeutung überprüft. Politik bestimmt hier ein Leben, zu dem es keinen Zugang hat.

My Golden Years

Mathieu Amalric in seiner Rolle als Paul Dédalus

So oder so, Desplechin bleibt ein Soft-Spot Catcher, einer der wenigen, die es schaffen großes Kino zu machen, ohne dass sie sich in einer Krise der Repräsentation befinden. Man kommt nicht umhin, so besetzt und schwierig ein solcher Begriff ist, diesen Film als lebensnah zu bezeichnen. Wie in den besten Filmen von Desplechin bekommt man dieses Truffaut-Gefühl, diese Freiheit in der Kontrolle der kinematographischen Sprache. Als herausragendes Beispiel dient dafür die vielfältige Art und Weise, in der hier die zahlreichen Briefe vorgetragen werden. Das kennen wir auch schon von Desplechin, aber in Trois souvenirs de ma jeunesse herrscht eine Monikaesque Leichtigkeit in der Traurigkeit, wie bei Bergman und Harriet Anderson liegt die Vernichtung gerade in dieser Lockerheit der Jugend und dadurch, dass uns diese jungen Gesichter immer wieder ansehen, wenn sie ihre Briefe vortragen, können wir ihr Verlangen und ihre Zeitlichkeit in einer berührenden Direktheit erleben.

Ein Kuss in diesem Film ist die einfachste Schönheit, die man sich vorstellen könnte. Er passiert einfach und doch so unendlich kompliziert. Die Tiefe von Gefühlen läuft hier an den Figuren vorbei und erst in der Erinnerung an ihre Jugend wird die Tragweite ihrer Liebe bewusst. Darin liegt das Melodramatische, für das man aber kaum Zeit hat, weil das Leben bei Desplechin immer weiterläuft, unaufhaltsam und geheimnisvoll. Und so mag man ihm romantische Einstellungen mit dem Eiffelturm nicht nur verzeihen, nein, sie sind sogar absolut notwendig, weil sie gleichzeitig von der Erinnerung wie von der Wahrnehmung durch die Augen der Jugend sprechen, etwas aufgeladenes, das man trotzdem nicht festhalten kann, die unglaublichsten Momente huschen hier nur vorbei, dort wo andere Filmemacher in Liebesfilmen die Unendlichkeit eines Augenblicks festhalten, weil sie mehr sehen als ihre Figuren, da fliegt Desplechin schon weiter und greift somit nach der wahren Essenz dieser verlorenen Schönheiten. Zu seinem und unserem Glück ist diese Flüchtigkeit prädestiniert für das Kino und so entfalten sich bei aller proustianischen Romanhaftigkeit der Erzählung, filmische Kräfte, die weit darüber hinausreichen. Kleine Gesten, die sich wiederholen, Handlungen am Rand der Bilder, die von einer Sehnsucht erzählen oder die äußerst energetische Verquickung von Musik und Bild.

My Golden Years

Desplechin vermag das Gefühl einer ersten Liebe, zu einer lebendigen Schönheit der Verunsicherung zu machen und dadurch wirkt der Film eher wie eine Dokumentation über die Erinnerung an eine Jugend als eine Fiktionalisierung irgendwelcher Ereignisse. Desplechin haucht Leben in Persönliches und lässt sich dann ins Treiben seiner Welten sinken oder besser, er lässt sich vom Strom dieser jugendlichen Lebendigkeit mitreißen und erzeugt so erst in dieser Differenz zwischen der Erzählperspektive und der Kraft von Bildern und Musik jene Melancholie, die andere in die Bilder und Töne selbst legen. In diesem Sinn ist Trois souvenirs de ma jeunesse sicherlich verwandt mit US Go Home von Claire Denis und – der Filmemacher nannte diesen Film selbst als Einfluss – Superbad von Greg Mottola. Erwachsenwerden als Gefühl, als Bedauern, als Leichtigkeit, als Schönheit, als Grauen, als Vergangenheit.

Filmfest München: La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo

Land and Shade

Umgeben von den vernichtenden Flammen des Rohrzuckers erzählt der vibrierende La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo vom Sterben, dem Lernen, dem Verzeihen und der machtlosen Bewegung in einer politischen Verdammnis. Ein Film aus einer inneren Hölle, der dem jungen Filmemacher prompt die Camera d’Or für das beste Erstlingswerk in Cannes einbrachte. Es ist diese bewegte Kamera, die immerzu ihre Fühler ausstreckt, um nach den einsamen Momenten zu suchen und es ist dieser Kampf um Würde und Liebe, der hier in jedem Bild stattfindet und immerzu nicht nur vom Scheitern, sondern von der völligen Auflösung bedroht wird. Es geht um die Rückkehr eines Landbesitzers. In der ersten Einstellung geht er zwischen zwei Rohrzuckerfeldern auf die Kamera zu. Hinter ihm erscheint ein Lastwagen. Er stellt sich an den Straßenrand und als das Fahrzeug ihn passiert, verschwindet er im Staub. Erst nach vielen Sekunden können wir den Mann wieder erkennen. Im Haus warten sein sterbender Sohn und dessen Frau und Sohn. Außerdem lebt seine Ex-Frau dort. Sie lehnt seine Rückkehr ab. Es beginnt eine zärtliche Annäherung der Familienmitglieder, die nicht aus irgendwelchen Motivationen entsteht, sondern von der Existenz als solcher bedingt wird. Ihr Landbesitz steht inmitten der Zuckerrohrplantagen, wegen der Brände regnet es Asche, der schönste Ascheregen seit Hiroshima, mon amour, aber auch er ist tödlich. Neben dem Haus steht ein Baum, alles hier ist ganz einfach und so unendlich reich und grausam. Das Haus, die Plantagen, der Baum, Arbeiter, geschlossene und geöffnete Fenster. Der Wind, weiße Tücher und Dunkelheit, Drachensteigen und Vogelgezwitscher, ein Spiel, drei Generationen, Tränen.

Land and Shade

Es geht um das Überleben und Sterben und um den wenigen Schutz, die wenige Nähe, die wir uns geben können. Später läuft der Großvater mit seinem Enkel wieder auf dieser schmalen Straße zwischen den Pflanzen. Wieder erscheint ein LKW. Diesmal sehen wir in einer Nahaufnahme, wie der Großvater seine schützenden Hände um den Jungen und dessen Essen legt. Durch die schwebenden Bilder treiben mehr als nur leichte Spuren des Kinos von Carlos Reygadas. Wie beim Mexikaner, so schwingen auch beim Kolumbianer Acevedo biblische Töne eines spirituellen Kinos mit. Es ist eine Reinheit, die allerdings mit deutlich weniger Härte und Provokation als bei Reygadas präsentiert wird. Das bedeutet nicht, dass La tierra y la sombra ein weicher Film wäre, ganz im Gegenteil, aber die Figuren sind moralischer, sie reagieren nicht mit Gewalt oder übermäßiger Sexualität auf die philosophische und politische Ungerechtigkeit ihres Daseins, sondern sie fügen sich in ihren letzten Regungen, völlig wehrlos und voller Anstand ihren Verlusten, ihrer Zeitlichkeit. Ihrer Hoffnung? In diesem Sinn ist womöglich Stellet Licht der Film von Reygadas, der hier am ehesten herangezogen werden kann.

Geht es bei Reygadas aber oft um den Gegensatz von Licht und Schatten, so wählt Acevedo schon im Titel jenen zwischen Erde und Schatten, Land und Dunkelheit. Die Erde wird als Heilmittel verwendet, sie wird bedroht, sich zeichnet sich in allen Furchen ab, jeder Gebärde dieses Films, das Land muss verstanden werden, die Erde muss beschützt werden. Der Schatten ist zunächst die Dunkelheit. Aufgrund der Krankheit des Vaters dürfen die Fenster im Haus nicht geöffnet werden, eine Finsternis, die im Sterben ihre Endgültigkeit finden könnte, aber vielleicht auch eine Hoffnung bereithält. Schon vorher liegen der kranke Vater und sein junger Sohn auf der Rücklade eines Kleintransporters unter einem weißen Tuch, lichtdurchflutet, glücklich und nah und von der Erde geschützt. Vielleicht ist die Erde also der Schatten, der dann als Asche am Himmel seine Bestimmung findet.

Land and Shade

La tierra y la sombra ist ein fragile Atmen im Angesicht des Todes. Wie in Mother&Son von Alexander Sokurov liegt in der Reduktion und Konzentration auf die Essenz eines Verlustes von Leben jene Nähe, die genau dadurch entsteht. Nur in einer bemerkenswerten Sequenz, in der ein Pferd durch das Haus huscht, verlässt Acevedo seine Nüchternheit und tauscht sie gegen einen poetischen Anfall im Stil von Andrei Tarkowski aus. Aber er tut dies nur, um uns zu zeigen, dass auch die Träume Teil dieser Welt sind, Teil dieser Vergänglichkeit. Plötzlich hört man jedes Geräusch und erkennt die Bedeutung dessen an, was man nicht wahrhaben will, den Schatten, der über der Erde fliegt. Nebenbei geht es auch um die Ausbeutung von Arbeitern auf den Plantagen. Wütende Proteste der verdreckten Arbeiter, die mit dem selben Gespür für sanfte Bewegungen in der Tiefe des Bildes empfangen werden, aber sie sind nicht agitatorisch, nein fast schon im Ansatz vergeblich, vergessen, man bleibt an diesen Orten, um zu sterben, man geht ins Kino um dieses Sterben zu leben.

Trailer oficial – LA TIERRA Y LA SOMBRA dirigida por César Acevedo from Burning Blue on Vimeo.

Il Cinema Ritrovato 2015: Filmkultur alla bolognese

Tagliatelle alla Bolognese

Seit mehreren Tagen bin ich nun in Bologna in einer ständigen Ekstase zwischen Raritäten, Klassikern und großartigem italienischen Essen. Als Neuling hier bin ich mit all den Sensationen konfrontiert, die für die regulären Festivalgänger schon längst zur Gewohnheit geworden sind. Bologna, das ist nicht Arbeit, das ist kein Hetzen von Premiere zu Premiere, sondern entspannte Cinephilie, nur unterbrochen von ebenso entspannten Essenspausen. Die Mehrzahl der Menschen, die mir hier begegnen bezeichnet sich selbst als Urlauber, selbst wenn sie nebenher für das ein oder andere Medium über das Festival berichten. Man nimmt sich Zeit für Bologna und das wirkt sich auf mehreren Ebenen auf die Atmosphäre aus. Einerseits hat man mehr Zeit zum Plaudern, zum gemeinsamen dinieren und weintrinken und andererseits ergeben sich viel substantiellere Gespräche über Film und Filmkultur als man es von Festivals gewohnt ist. Es treffen sich alte Freunde und solche die es noch werden wollen, in einer Art Paralleluniversum, während der Rest der Stadt höchstens von den Open-Air-Screenings am Piazza Maggiore Kenntnis nimmt. Anders als bei den prestigereichen Premierefestivals steht in Bologna keineswegs die Stadt still, wenn das Il Cinema Ritrovata Einzug hält – es ist ein Randphänomen, ein Paradies für Spezialisten. Dennoch laufen mir auch immer wieder Menschen über den Weg, die ganz ohne berufliche Obligationen das Festival besuchen. Sie sind keine Kritiker, keine Archivare, keine Filmwissenschaftler, keine Studenten, sondern pure Cinephile. Sie sind die kritische Masse, deren Liebe zum Kino so vielen großartigen DVD-Labels, Filmmagazinen und Cinematheken, das Überleben sichert. Sie sind Buchhalter und Bibliothekare, Männer und Frauen, die ihren Urlaub damit verbringen ihrer Leidenschaft fürs Kino zu frönen und nebenher Sonne und Tagliatelle (die berühmte Pasta alla bolognese isst man hierzulande nämlich nicht mit Spaghetti) zu tanken.

Sujet Il Cinema Ritrovato 2015

Intellektuell beflügelnd ist die intensive Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte ebenfalls. Die vielen kleinen aber sorgsam kuratierten Programme wirken wie Appetithäppchen, die Lust auf mehr machen sollen. Ein bisschen Ingrid Bergman hier (ihre leuchtend blauen Augen zieren das Festivalsujet), ein wenig frühes japanisches Farbkino da, meisterhafte Slapstickkomödien als Zuckerguss und zum Abschluss des Tages ein paar ultrarare sowjetische Filme aus der Tauwetter-Ära. Jeder Tag hält ein anderes Menü bereit, und die Auswahl (427 Titel!) ist so überwältigend, dass man schon nach kurzer Zeit bemerkt, dass es keinen Sinn macht den raren Filmen und nie gezeigten Archivkopien hinterherzujagen und ganz ohne schlechtes Gewissen stattdessen gemütlich auszuwählen, wonach man Lust und Laune hat. Hier ist man nicht in Gefahr den einen Film zu verpassen, der in den nächsten paar Wochen den Diskurs beherrschen wird. Zwar kann man Filme verpassen, die vielleicht Jahrzehnte nicht mehr öffentlich gezeigt werden, aber die Gefahr eine besonders exquisite Pizza zu verpassen, wiegt oft schwerer. Solche Worte aus meinem Mund – das kann nur Bologna!

Filmfest München: How not to present Andy Warhol

Es ist ein einigermaßen milder Abend in München. Irgendwo ist eine Party, man hört Beats, die Straßenbahn fährt. An der Filmhochschule, die während des Festivals zwei Kinosäle zur Verfügung stellt, soll das sogenannte Velvet Underground Programm der Andy Warhol Retrospektive auf dem Filmfest München präsentiert werden. Eine äußerst bizarre Ansammlung roter Plastikteile simuliert einen roten Teppich. Es fühlt sich mehr nach dem Eingang zu einem Strandbad an. Ich stolpere tatsächlich als ich den „Teppich“ betrete. Innen stehen ein paar auffällig gut gekleidete Menschen. Ich kenne den Ort, bin mir sicher, dass dort der Film gezeigt werden soll, vieles deutet daraufhin, dass ich mich täusche, aber ich werde Recht behalten. Die Ticketkontrolleure an diesem Abend in der Filmhochschule scheinen allesamt Bodyguards und Türsteher zu sein. Sie stehen da in schwarzen Anzügen mit weißen Hemden und roten Krawatten, einer von ihnen steckt gerade sein Hemd in die Hose. Harte Gesichter. Ich komme mir noch dünner vor als ich bin. Ich gehe auf den Eingang zum Kino II zu, es sind noch 12 Minuten bis zum Filmbeginn. Ein glatzköpfiger Mann mit Brille, er könnte der Anführer sein, stellt sich vor mich und bellt mir etwas zu. Ich verstehe nicht. Er sagt, dass sich der Einlass etwas verzögert. Ich setze mich also auf die Treppen dieses widerwärtigen Gebäudes. Ein Betonklotz, der schon architektonisch dabei hilft, dass sich querdenkende Individualität schwer durchsetzen kann. Es wirkt immerzu ein wenig wie in einer grausamen Parallelwelt, in der Ehrenhallen für die verdienten Nationalsozialisten des Landes erbaut wurden. Im Winter durfte ich dort auch einen eigenen Film zeigen. Doch an diesem Abend sind es nicht Nachwuchsmöchtegerns, sondern ein großer Künstler, Andy Warhol, dem die Leinwand gehört. Es wird die kleine Leinwand des Kinos II sein, indem normal eher Testscreenings von Studenten stattfinden. Eine Frau mit Champagnerglas lacht. Das Echo im Foyer lässt keinen Zweifel: Es ist Kunst.

Lou Reed Screen test

Warhol, das ist scheinbar absolut trendy, wenn man dem Filmfest glauben soll. Die wunderbare Festivaltasche, die coolen Sonnenbrillen und die erschreckende Programmierung von Filmen wie Fight Club, Spring Breakers oder The Bling Ring als Begleitung zum Werk von Warhol machen das völlig klar. Hier geht es um vieles, aber nicht um Film. Es geht um einen Lifestyle, Starappeal und den größeren Kunst- und vielleicht Themenkontext des Mannes. Es geht, wie so vieles hier, um den Verkauf. Erstaunlicherweise hat das niemand davon abgehalten, die Filme von Warhol zu zeigen. Nun findet man unter einem Link auf der Homepage des Festivals durchaus einen einigermaßen leserlichen Text zu Warhol von Collin McMahon. Dieser ist aber sehr kurz und eher geschichtlich als analytisch und so vermag man über einige Stichworte hinaus als unschuldiger Filmfestbesucher in München tatsächlich sehr wenig über das filmische Werk des Mannes herausfinden. Dies ist für sich genommen nicht schlimm, denn Kino findet nach wie vor auf der Leinwand statt, die Begegnung mit Warhol kann, muss und wird auch ohne Anleitung Reaktionen hervorrufen. Das Problem ist eher, dass der Rahmen einer Vorführung durchaus etwas mit der Einschätzung und dem Respekt vor einem Künstler zu tun hat. Und leider bestimmt er auch, welches Publikum sich letztlich in die Filme bewegen wird. Nicht, dass es ein falsches Publikum gäbe, aber es gibt – und das werden meine weiteren Ausführungen zeigen – ein bedauernswertes Publikum. Nun entsteht diese Schau in Kooperation mit dem Brandhorst Museum in München und sicherlich ist Warhol mehr als nur sein Kino. Darauf einen Fokus zu legen ist zwar nicht unbedingt notwendig im Rahmen eines Filmfestivals, aber sicherlich, insbesondere in der heutigen Zeit, möglich. Die medienübergreifende Auseinandersetzung mit einem Künstler bedeutet in München allerdings nicht, dass man sich tiefergehend mit dem Mann auseinandersetzt. Vielmehr – vielleicht ist das bei Warhol auch eine Strategie – bewegt man sich an den Oberflächen und geht lieber nicht tiefer, denn tiefer gibt es vielleicht keinen Champagner. Und so nennt man die Schau auch eine Hommage.

Goldbehangen betritt vor dem Screening in diesem nicht ganz ausverkauften Testkino Katja Eichinger den Raum. Sie ist für die Begleitschau zu Warhol verantwortlich. Ich muss googlen, in welcher Relation sie zu Bernd Eichinger steht. Sie verkündet, dass der eigentliche Kurator der Warhol-Schau, Glenn O’Brien, sich am Rücken verletzt habe un daher nur per Telefon zum Publikum sprechen könne. Ein bizarres, irgendwie amüsantes Spiel beginnt, denn Eichinger spricht ins Mikrofon, was O’Brien ihr über das Telefon mitteilt. Es geht vor allem wieder um den Mythos und in diesem speziellen Fall über The Velvet Underground und Nico. Natürlich, dafür ist man ja gekommen. Die Tatsache, dass es ein Filmfestival ist, kann und muss hier jederzeit ausgeblendet werden. Nochmal zwickt mich mein Relativierungsdrang. Schließlich ist Warhol nun mal Pop. Warum sollte es also falsch sein, ihn auch so zu präsentieren? Vielleicht, weil Pop und lange Einstellungen im Kino nicht zusammen gehen? Die Filme von Warhol sind oft eine Schule des Sehens, sie machen einem gerade durch ihre scheinbare Einfachheit bewusst, wie und was man im Kino sehen kann. Sollte sich ein Filmfestival nicht fragen, was da filmisch passiert? Sollte es sich nicht fragen, warum Warhol heute auch für das Kino Relevanz hat? Wäre es so abartig, Image und Kunst gleichermaßen zu betrachten? Was bringt es dem Zuseher oder dem Kino, wenn ständig darauf verwiesen wird, dass es sich um eine Kooperation mit dem Museum handelt, was bringt es ihm vor Chelsea Girls, wenn er eine Sonnenbrille trägt und sich denkt: Wow, Andy Warhol, cooler Typ. Keine Frage, Glamour und Spektakel sind Teil der Filmwelt, aber auch keine Frage: Sie lenken vom Wesentlichen ab. Und was das bedeuten kann, hat man dann an diesem Abend gesehen.

The Velvet Underground and Nico

Irgendwann beginnt dann auch der Film, The Velvet Underground and Nico. Er beginnt auf dem Gesicht von Nico, das der Film immer wieder wie ein Magnet suchen wird. Nach einiger Zeit öffnet sich der Raum mit einem Zoom-Out und wir sehen das Bild, das uns in der ersten Hälfte des Films als Spielfläche für Schwenks und Zooms dienen wird: Nico steht zwischen den vier Musikern der Band und gemeinsam wird gespielt. Ihr eigenes Kind kniet zu ihren Füßen. Der Ton ist, wie man das so kennt aus Warhol-Filmen, jenseits von Gut und Böse, aber der Rhythmus und der Rausch transportieren sich dadurch umso mehr. Es ist äußerst spannend zu sehen, wie die Zooms den filmischen Raum immer wieder explodieren lassen und wie sie sich gleichzeitig selbst im Takt oder gegen den Takt der Musik verlieren. Nach einer gewissen Zeit kommt die Polizei und versucht das kleine Konzert abzubrechen. Es wird verhandelt und diskutiert und nach und nach hören Lou Reed und Konsorten mit dem Spiel auf. Die Kamera läuft immer weiter, sie dreht sich zum Geschehen, dann interessiert sie sich wieder für den Bildhintergrund, ein Licht, ein Schatten, eine Unschärfe. Ich glaube, dass man bei Warhol sehr gut verstehen kann, wie sich Erscheinung und Bedeutung unter den Blicken einer Kamera transformieren können. Bei Warhol können wir Gesichter schmecken und uns immer von ihnen distanzieren oder in ihnen verlieren. Es ist ein Kino der Relationen zwischen dem Blick, der Sprache, der Realität und der Kamera. Damit hat Warhol weniger, wie das Filmfestprogramm vermitteln will, Youtube vorausgeahnt, vielmehr hat es Lumière nachgeahmt. Die Einfachheit als Spektakel, Menschen in einem Raum, die Entfaltung ihrer Tätigkeit oder Nicht-Tätigkeit in der Zeit. Kino als Blick in der Zeit, als Konfrontation mit Menschen, bis man kein Material mehr hat.

Im Publikum wird von der ersten Sekunde an laut gesprochen, alle sind wahnsinnig unruhig, unzufrieden mit dem Ton, unzufrieden mit dem Bild. Im 3-Minuten-Takt verlassen Zuschauer das Gebäude. Eine junge Frau vom Filmfest kommt in den Saal, spricht mit einem Zuseher, sie bewegt sich umständlich vor der Leinwand und verdeckt kurz das Bild. Nach der Hälfte verlangt jemand laut und besonders lustig nach einem Bier. Fast jeder spricht regelmäßig mit dem Sitznachbarn, ich wüsste nicht, wen ich um Ruhe bitten könnte. Die Frau neben mir unterhält sich beispielsweise (während des Films) über From Dusk Till Dawn, irgendjemand sagt, dass er auch die Polizei gerufen hätte. Eine Flasche rollt über den Boden. Nach dem Film kommen noch einige stumme Screen-Tests von Warhol mit den Mitgliedern der Band. Noch mehr Leute verlassen den Saal im Angesicht dieser wunderschönen, traurigen Zeitbilder vor ihren Augen. Der starrende Lou Reed, wie von den Toten zurückgekehrt als ewiges Bild vor unseren Augen, er versucht nicht zu blinzeln, seine Augen füllen sich mit sanftem Wasser. Er ist halb im Schatten, halb im Licht, aber voller Wärme. Anderswo ein plötzliches Lächeln, wir bekommen Zeit, Gesichter zu studieren, Gesichter von Stars, Gesichter von Menschen. Es ist eine entrückte Direktheit. Die Bildqualität ist wunderbar, aber im Saal herrscht nicht eine Sekunde die gebührende Ruhe. Jemand sagt laut: „Ich habe gelesen, dass der Hauptgrund für Schlägereien in Kneipen ist, wenn jemand sagt: Schau mich nicht so bescheuert an.“, ein anderer sagt: „Wecke mich, wenn etwas passiert außer Blinzeln.“ Noch mehr verlassen das Kino. Vor mir wird ein Handy mit Familienfotos herumgereicht. Vielleicht hätte Warhol das alles sogar gefallen.

Nico

Aber – trotz mancher gegenteiliger Behauptung – sollte man sich bewusst sein, dass Warhol mit seinem filmischen Werk unbedingt in ein Kino gehört. Wenn ein Publikum und eine Präsentation 2015 nicht mehr damit umgehen kann beziehungsweise womöglich noch nie damit umgehen konnte, dann lässt sich nach wie vor sehen, wie weit das Kino von dem entfernt ist, was es ist. Dann ist es eigentlich wunderbar, dass das Festival seine Chance und Aufgabe zur Vermittlung von Film zumindest bezüglich des angeregten Diskurses versäumt, denn nur dann kann ein solches Screening wirklich verstören. (Man könnte sich vorstellen, dass Tristan Tzara diese Art der Präsentation gewählt hätte, um ein falsches Publikum anzulocken und dieses dann anzugreifen.) Nur gibt es ein richtiges Publikum? Gibt es ein gutes Publikum? Wohl kaum. Also zielt mein Ärger vielleicht ins Nichts, obwohl ich glaube, dass er ins Alles geht. Einen Tag später äußert sich ein junger Kunststudent nach dem Screening von Cavalo Dinheiro von Pedro Costa beim Publikumsgespräch. Er fragt Costa, warum er sich nicht in Visual Art versucht und nach Nachfrage des Filmemachers, dass der Film für ihn ein wenig „too much“ fürs Kino gewesen sei. Costa hat darauf viel zu sagen, aber mit einem Satz bringt er es wahrscheinlich auf den Punkt: Too much? No, there is too less in cinema…Und genau deshalb muss Warhol auch heute noch im Kino gezeigt werden, weil er too much ist. Aber ein Film kann nur bei entsprechenden Rahmenbedingungen zur vollen Entfaltung kommen. In München, so hat man zumindest das Gefühl, wird das Ganze von oben herab als Kuriosität abgetan. Damit wird klein gehalten, was zu groß sein sollte.

In meiner Welt würde der Mann vor mir sich nicht trauen, sein Handy aus der Tasche zu holen, weil ihm klar ist, dass dort etwas passiert, was er nicht verpassen sollte, weil er neugierig und offen ist. Ich weiß, dass es nicht der Fehler eines Festivals ist, wenn es solche Menschen gibt. Aber es ist die Mitschuld des Festivals, dass sich dieser Mensch in diese Veranstaltung verirrt, dass um ihn herum nicht zehn Menschen sitzen, die ihm das Handy aus der Hand schlagen und dass er sich nach dem Kino nicht eine Sekunde fragen muss, ob es an ihm oder dem Film lag, dass er nichts damit anfangen konnte.

Der eingeschränkte Blick in Fontainhas

Die Idee, dass man etwas nicht filmen kann, wenn man es nicht ganz versteht oder besser die Frage, wie man etwas filmen kann, was man nicht ganz sieht oder noch besser, die Antwort auf die Frage, wie man das Limit der eigenen Wahrnehmung zu einem ästhetischen Prinzip erheben kann, steht im Zentrum von Pedro Costas Fontainhas-Trilogie, die ich in den vergangenen drei Tagen im Münchner Filmmuseum begleiten durfte. Es war meine erste Gelegenheit, diese Filme auf Film projiziert zu sehen. Ein Unterfangen, das sich natürlich absolut lohnt, sei es alleine deshalb, weil dieses absolute Sehen, das von Costa gefördert wird, dieses Sehen, das nicht auf das nächste Bild wartet, sondern das gegenwärtige Bild in seiner Gegenwärtigkeit begreift und somit erst zur Entfaltung in der Zeit gelangen lässt, von den Texturen filmischen Materials extrem profitiert. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Ausgangsmaterial Film ist wie im Fall von Ossos oder digital, wie im Fall von No Quarto da Vanda und Juventude em Marcha.

Die eingangs geschilderte Idee ist ein ästhetisches und ethisches Problem und Costa scheint sich diesem in seinen Antworten sowohl filmisch als auch intellektuell jederzeit bewusst. So versteht er Ossos als eine Annäherung an Menschen und Orte, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, noch nicht verstand. Hier agiert der Filmemacher als Außenstehender und dementsprechend oft sind es Türen und Fenster, die vor unserer Nase zugehen, die uns die Sicht versperren, manchmal ganz (wie bei Mizoguchi oder Haneke), manchmal halb. Innen und Außen oder in den Worten von Costa: „Secrets and Revelations“.

Ossos7

In No Quarto da Vanda sind wir dann tatsächlich in Vanda’s Zimmer. Das bedeutet auch eine Einschränkung der Beweglichkeit, ein Ausgeliefertsein der Kamera an alles, was sich vor ihr bewegt. Keine Macht über die Figuren, sondern eine tatsächliche Nähe. Nun befinden wir uns oft in völliger Dunkelheit, weil die geschlossenen Türen und Fenster kein Licht mehr in die Barracken und vom Abriss bedrohten Wohnungen in Fontainhas lassen. In einer Art Montagesequenz wird Fenster um Fenster vor uns geschlossen. Wir bleiben innen. Es wird völlig dunkel im Kino. Still wird es dagegen nie, denn die Abrissgeräusche und das beständige Hämmern bedrohen die Türen und auch das Innen, das Intime, das Private, das Eigene. Und so beginnen schon in No Quarto da Vanda, die Türen ihre Funktion zu verlieren. In einer Szene wird eine Gartentür aus den Fugen gehoben und davongetragen. Es ist also nicht nur eine Frage der Positionierung von Filmemacher und Kamera, die hier an den Türen und ihren Schwellen hängt, sondern zur gleichen Zeit, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen eine Frage für die Protagonisten selbst. Auf den Gipfel wird diese Bedeutung der Funktion von Türen dann in Juventude em Marcha getrieben. Eine fast Modern Times-artige Automatik, scheint hier die Türen heimzusuchen. So hören wir nicht nur auf der Tonebene ständig das Knarzen von Türen, sondern diese bewegen sich auch im Bild wie von alleine. Vor allem in einer Szene, mit dem von Costa als brechtianischen Verräter bezeichneten Wohnungsvermieter, zeigt sich dieses zum Teil absurde Eigenleben der Türen. Man kann also sagen, dass aus dem Außen, ein Innen wurde und aus dem Innen eine Fehlfunktion. Das Verschwinden der Türen, das Verschwinden von Innen und Außen ist auch ein Kommentar auf die Situation der Bewohner des ehemaligen Fontainhas. Aber darin verstecken sich auch die Mechanismen des Kinos. Der limitierte Blick, der sich im zeitgenössischen Kunstkino oft seiner Eingeschränktheit bewusst ist.

Colossal Youth4

Es gibt Gegenbeispiele wie Gaspar Noé, die voller Innbrunst das Gegenteil erklären, die ihre Kamera entfesseln und bei aller Faszination daran muss man doch früher oder später feststellen, dass man nicht alles sehen kann. Was man allerdings sehen sollte, ist die Essenz. Nur wenige Filmemacher gelangen zu ihr und Costa gehört sicherlich dazu. Und wie Cristi Puiu in seinem Aurora oder Robert Bresson in seinem L’argent gelangt Costa zur Essenz, indem er uns auch ständig zeigt, was wir nicht sehen können. Dabei handelt es sich nicht zwangsläufig um den Off-Screen, denn wenn eine Tür im Bild ist, ist sie ja strenggenommen im Bild. Und wenn man sich die Türen in Juventude em Marcha ansieht, dann wird man feststellen, dass Costas eigene Feststellung, dass die Türen in Filmen von Charlie Chaplin die schönsten Türen sind, ein Ansporn für ihn ist, den großen Meister zu übertreffen. Die Rahmung selbst wird das Bild und man spürt dadurch auf der einen Seite den Filmemacher, aber eben nicht auf dieser intellektuellen Meta-Ebene, sondern eher wie bei Chaplin: Im Vertrauen darauf, dass man sich in einem Film befindet, kann man diesen völlig vergessen, die Fiktion von Costa ist dokumentiert, die Illusion liegt in der Desillusion, es ist als würde jemand seine Unsicherheiten und seine Fehlbarkeit zu seiner großen Stärke erklären. Gefilmter Zweifel.

Dabei nutzt Costa vor allem Licht, das durch löchrige Türen dringt. Wieder heben sich Innen und Außen auf und wer sich mit der Funktionsweise einer Kamera beschäftigt hat, sieht plötzlich eine ganz neue Relation zwischen dem Kino und den Türen, schließlich ist es eine Tür, die den Eingang zur Kamera/dem Zimmer versperrt und diese Tür muss sich öffnen, damit wir etwas sehen. Sie darf sich aber nicht zu weit öffnen. Jeder Millimeter verändert das Kino. Und daher ist es so fatal, wenn die Türen ein Eigenleben bekommen, ein Eigenleben, das von einer Industrie verlangt wird, die auf Gleichheit und Glättung aus ist. Wie soll man noch interessante Bilder machen, wenn man keine Macht mehr über die Türen hat, wenn es gar keine Türen mehr gibt?

In Vandas Room4

Es geht natürlich auch um die Türschwellen auf denen sich sowohl Costa als auch Ventura immer wieder bewegen. Was ist diese Schwelle? Ein Übergang zwischen dem Innen und Außen, ein Zweifel, in dem der Mensch oft am hoffnungslosten und hoffnungsvollsten zugleich ist. Hier drücken sich sein Verlangen und seine Angst aus. Bei Costa zählt selten, wohin jemand geht oder woher er gekommen ist. Vielmehr geht es um den Augenblick des Schwellenzustands selbst, der sich wie in Cavalo Dinheiro oder Juventude em Marcha zwischen verschiedenen Zeiten abspielen kann oder wie in Ossos zwischen dem Filmemacher und den Figuren. In der Schwelle stehen, heißt auch, Respekt zu haben. Hier wird niemand überfallen oder den Blicken preisgegeben. Es ist eine vorsichtige Annäherung, deren Zärtlichkeit sowohl in der Vergangenheit, der Gegenwart (der Schwelle), und der Zukunft (dem Raum) liegt, es entstehen also Bilder, die in sich derart stark leben, weil sie Schwellenbilder sind. Sie oszillieren zwischen ihrer absoluten Präsenz im Kinoraum und den Blicken, die auf etwas anderes zielen. Bei Vanda ist dieser Blick oft nach vorne gerichtet, auf etwas außerhalb des Bildes. Sie wirft sich dafür regelrecht in Pose, dreht ihren Kopf und starrt mit wachsamen Augen ins Off. Bemerkenswert allerdings, dass sie am Ende von Juventude am Marcha einmal umdreht, sich umblickt und an einer verschlossenen Tür lauscht, eine verschlossene Schwelle, in der sich die Sorge und Hoffnung, also die Liebe von Vanda verbirgt. Sie überprüft, ob Ventura sich um ihre Tochter kümmert. Dann verschwindet sie hinter einer benachbarten Tür und ist bis heute nicht mehr zurückgekehrt ins Universum von Costa. Ventura dagegen blickt in die Ewigkeit und nach Innen, also nach hinten. In seinen Augen scheint die Vergangenheit immer genauso präsent zu sein, wie die Gegenwart. Vielleicht fangen die Türen auch deshalb an, sich in Venturas Gegenwarten wie von selbst zu bewegen. Sie schließen und öffnen Räume der Erinnerung. Und in dieser Hinsicht ist auch Ventura eine Tür für Costa, oder besser: Ventura ist 10000 Türen in einem Lavahaus. Costa kann diese Türen nicht kontrollieren, er kann nur warten bis sich eine öffnet und sich dann vorsichtig auf die Schwelle stellen und sehen was passiert. Es ist seine große Kunst, dass er nicht mehr macht, denn darin entfaltet sich erst die Sinnlichkeit, Poesie, Direktheit und Dringlichkeit seines Kinos.

No Place Like Cannes

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Ich habe die Zukunft gesehen, und die Zukunft heißt Cannes. Was ist Cannes? Ein Filmfestival? Eine Party? Ein Marktplatz? Ein Zirkus? Alles auf einmal, versteht sich. Eine hundertköpfige Hydra, die jeden Besucher von allen Seiten bedrängt und in unzählige Richtungen zerrt, eine Verdichtung und Potenzierung dessen, was man für gewöhnlich „Festivalerfahrung“ nennt. Im Folgenden will ich versuchen, rückblickend ein paar meiner jungfräulichen Eindrücke festzuhalten, in der verfehlten Hoffnung, die Widersprüche dieses hypertrophen Massenevents aufzulösen. Geäußerte Kritik schließt den Autor nicht aus, denn so viel ist sicher: Wer nach Cannes fährt, ist unweigerlich ein Teil von Cannes, ein Öltropfen im Fegefeuer der Eitelkeiten.

Cannes ist das Gegenteil von Reflexion. Im Festivalradius, der im Grunde das gesamte Stadtzentrum einschließt, gibt es keine richtigen Rückzugsorte. Will man innere Einkehr halten, darf man seine Unterkunft eigentlich nicht verlassen – ansonsten wird man mitgerissen von den Reizfluten und Menschenströmen und kommt erst wieder zur Ruhe, wenn der Tag sich seinem Ende zuneigt und der nächste bereits wartet. Die Bevölkerung des mittelgroßen Kurortes wächst während der Filmfestspiele drastisch an. Straßen, Gassen, Restaurants und Lokale platzen aus allen Nähten, Raum fehlt physisch und psychisch. Die Croisette verwandelt sich zu Stoßzeiten in einen kilometerlangen Passantenschlauch, der nur schleppend pumpt, Prunk-Karossen drücken sich wie Eisbrecher durch den massigen Pulk. Aufmerksamkeit ist ein hart umkämpftes Gut, man ist zum Antennenschicksal verdammt: Werbebanner, Filmplakate, Videowände, Geschäftsauslagen, Partyzelte, Artisten, Akrobaten und Straßenmusiker buhlen unisono um die Gunst von Auge und Ohr. Wer hier kein Star ist, will einer sein.

Schafft man es, zu diesen Bedrängnissen auf Abstand zu gehen, was ohnehin nur im übertragenen Sinne möglich ist, wird man sich (als Neuling jedenfalls) immer noch schwer tun, einen klaren Gedanken zu fassen – einen Gedanken also, der sich buchstäblich setzen kann und nicht Gefahr läuft, von einem anderen ausgebootet und weitergepeitscht zu werden. Dafür sorgen der Druck und die Geschwindigkeit von Plansoll und Meinungsstrudel. Eines merkt man sehr schnell: So gut wie niemand ist hier, um einfach nur Filme zu schauen. Alle haben zu tun, müssen wo sein, etwas schreiben, jemanden treffen, irgendwas sehen, später, bald, jetzt. In dieser Atmosphäre könnte nur Tsai Ming-liangs buddhistischer „Walker“ inneren Frieden finden. Die Journalisten-Schreibdomäne im Palais des Festivals versinnbildlicht den Dauerstress: Sie erinnert mit ihrer Zeitzonen-Uhrenwand, dem Wasserspender und der Schlange vor dem Kaffeeausschank an einen heillos überfüllten news room, wo alle in sich hinein und gegeneinander arbeiten.

Darüber hinaus hat nicht jeder das Glück, einigermaßen frei über seine „Freizeit“ verfügen zu können. Das mehrfarbige Badge-System parzelliert die Akkreditiertenmasse gleich einem Kastenwesen. Wie Ignatiy Vishnevetsky treffend in einem seiner Cannes-Beiträge für den AV-Club bemerkt, konstituiert diese Aufteilung für jeden einzelnen Rang ein gesondertes Verhältnis zur Zeit. Wem ein weißes Kärtchen um den Hals baumelt, der hat freie Fahrt, die Rosaroten können es noch relativ gemütlich angehen, Inhaber blauer und gelber Ausweise haben kaum temporalen Spielraum; wenn sie einen Film sehen wollen, müssen sie sich zwei, bestenfalls drei Stunden vorher anstellen, und selbst dann ist der Einlass nicht garantiert. Damit ist die Tagesplanung weitestgehend abgehakt, will man noch essen, schlafen und arbeiten. So sind die Menschen, die sich begegnen, oft immer noch auf verschiedenen Ebenen unterwegs.

Unter Hochdruck kommt es schneller zu Reaktionen. Cannes ist fraglos ein guter Ort, um Menschen kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Für viele Festivalbesucher stellt dies ein ausdrückliches Reiseziel dar. Niemand hier hat einen Heimvorteil, jeder ist bis zu einem gewissen Grad fish out of water, keiner will durchgehend alleine bleiben. In den endlosen Schlangen, vor denen in den Nebensektionen nicht einmal die wenigen Götter in Weiß gefeit sind, kommt es unweigerlich zu Gesprächen. Vielleicht kennt man einander über fünf Ecken, vielleicht ist man sich am Vortag in einer Bar begegnet, aber eigentlich gibt es keine Voraussetzungen für Konversation. Das Mitteilungsbedürfnis ist oft stärker als die Scham, soziale und berufliche Hierarchien sind von Sonne und Schweiß aufgeweicht, werden durchlässiger.

Diese Festivalkommunikation ist ein seltsames Spiel. Sieht man vom Rapport mit Freunden und Bekannten ab, dessen Grundkoordinaten abgesteckt sind und der daher verknappten, reibungslosen und informativen Meinungsaustausch ermöglicht (informativ in der Hinsicht, dass jede Meinungsäußerung an ein beiderseitig bekanntes Weltbild gekoppelt ist und daher fürs Erste keiner näheren Ausführung bedarf, um sich ein provisorisches Bild von einem beurteilten Objekt zu machen), hängen die Aussagen Fremder für Fremde, so sie einsilbige Blitzurteile bleiben, wie ungreifbare Rauchschwaden in der Luft. Cannes besteht jedoch aus den bereits genannten Gründen (Zeitmangel, Reflexionshemmung) fast ausnahmslos aus Blitzurteilen. Sagt einem X, den man gerade erst kennengelernt hat und über dessen Geschmack und Haltung man so gut wie nichts weiß, dass ein bestimmter Film gut war, ohne sein Urteil näher zu erläutern, ist der Informationsgehalt dieser Äußerung gleich Null. Für Erläuterungen bleibt indes nur selten Zeit. Assoziiert man X mit einem spezifischen Medium, besteht der Mehrwert seiner Aussage darin, dass man später zu jemand anders sagen kann: „X vom Medium Y hat Film Z für gut befunden.“

Der Konsens nimmt sich, was er kriegen kann. Cannes ist ein hochkarätiges Premierenfestival. Die hier gezeigten Filme liegen schon vor ihrer Uraufführung hoch im Dis-Kurs, entweder kraft des Leumunds ihrer Urheber oder aus anderen Gründen, und sei es auch bloß der Umstand, dass sie in Cannes gezeigt werden. Es sind Filme, die man prägnant umschreiben kann als „der Film von X“, „der Film mit X“ oder „der Film über X“. Die cinephile Welt giert nach Meinungen zu diesen Filmen. Entsprechend hoch ist der Druck auf die anwesenden Journalisten, Spontanmeinungen zu generieren. Das faszinierende an Cannes ist, dass hier jeder (zumindest für kurze Zeit) auf sich allein gestellt ist mit seiner Urteilsbildung – eigentlich eine kleine Utopie. Keine Rezensionsaggregatoren, die einem vorkauen, welcher Bewertungstrend sich abzeichnet, keine Vorabkritiken, die einem Positionierungsoptionen offerieren – nur der Film, der Zuschauer und sein persönliches Stimmungsbarometer. Das Resultat ist ein chaotisches Gewirr aus mehr oder weniger ausgegorenen Einschätzungen, unter denen sich aufrichtige Impulsreaktionen ebenso finden wie reflexartige Rückgriffe auf Erfahrungswerte und Gemeinplätze oder verzweifelte Versuche, den werdenden Konsens zu antizipieren. Nur langsam kristallisiert sich das heraus, was sich nach dem Festival als Usus einpendeln wird. Auch dafür sind sie da, die Festival-Dailies der Branchenblätter, die Kritikerspiegel, die wilden Twittergüsse: Um den Anwesenden die Meinungsbildung zu erleichtern und die Angst zu mildern, nicht zu wissen, was man sehen, was man sagen soll.

Schön ist, wenn man die seltene Gelegenheit hat, diesen eigentümlichen Schwebezustand zu nutzen, um ohne Absicherung in Debatten die Qualitäten eines Films auszuloten, sich auf ein Gegenüber einzulassen, seine Beobachtungen mit den eigenen abzugleichen, gemeinsam angewandte Filmkritik zu betreiben, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, auf die der andere ebenso neugierig ist wie man selbst, wohl wissend, dass zum gegebenen Zeitpunkt niemand sattelfest ist und die Deutungshoheit für sich beanspruchen kann. Selbst wenn sich dieser Forschergeist auf scheinbare Oberflächlichkeiten stürzt, ist er ansteckend, etwa wenn enthusiastische Zuschauer versuchen, den arabesken Plot von Hou Hsiao-Hsiens Assassin mit Hilfe von handgezeichneten Diagrammen und Stammbäumen zu enträtseln.

Die größte Herausforderung, die Cannes an einen Besucher stellt, der gewohnt ist, ein Mindestmaß an Übersicht zu haben, ist die nahezu unerträgliche Gleichzeitigkeit, die völlig unverhohlene Absurdität eines reibungslosen Nebeneinanders von konträren Perspektiven, Lebensentwürfen, Haltungen, Weltbildern, Kunstvorstellungen, Idealen und Werten, die in diesem schillernden Schmelztiegel vor sich hin blubbern, ohne zu schmelzen (auch in Bezug auf Selbstdarstellung, Tempo und Aufmerksamkeitsökonomie mutet der ganze Irrsinn an, als hätte sich Facebook in eine Stadt verwandelt). Angesichts all dieser Aporien wirkt jede Diskussion darüber, wer warum in welcher Schiene läuft oder nicht läuft, wer warum welchen Preis gewonnen oder nicht gewonnen hat bzw. gewinnen hätte sollen, binnen kürzester Zeit müßig – die Blickwinkel und Bedeutsamkeitskriterien der verschiedenen Individuen, Interessensgruppen und Entscheidungsträger schließen sich zumeist aus, die Gräben zwischen den Fronten sind zu tief, es geht um Grundsatzfragen, und auch für diese fehlen Reflexions- und Begegnungsräume, es sei denn, man schafft sie sich selbst, was nicht gerade einfach ist. Palme d’Or für Dheepan? Für manche ein wichtiges Statement. Für andere… Forget it, Jake – It’s Cannes. Im Théâtre Croisette leuchtet vor den Quinzaine-Screenings ein projiziertes Banner, das zur Befreiung des in Russland inhaftierten ukrainischen Regisseurs Oleg Sentsov aufruft. Indes prangt auf nahezu allen Markt-Programmen Werbung für russische Blockbuster in spe, Animationsfilme, Kriegs- und Actionspektakel, die Investoren erheischen, eine nationale Kinoindustrie, die sich zum großen Feldzug ins Publikumsbewusstsein rüstet und hier eine dankbare Vermarktungsplattform gefunden hat. Aber das gehört eben zum „wirtschaftlichen“ Teil von Cannes und nicht zum „politischen“, ebenso wie die ausufernde Dekadenz einem anderen Universum entspringt als die „ethischen Smokings“ von Thierry Frémaux oder das Prestige-Prädikat des Programms. Wo liegt der Brennpunkt dieser Energiefelder? Sie scheinen einander gegenseitig zu bedingen, erst im Verbund machen sie diesen Ort zu einem Magneten für die Mächte des Weltkinos, die dann in den Hinterzimmern des Festivals (was gar nicht verschwörerisch klingen soll; in den Vorzimmern ist schlichtweg kein Platz mehr) Produktionen in die Wege leiten, die irgendwann im Wettbewerb laufen werden. Cannes reproduziert sich selbst.

Und doch wird man das Gefühl nicht los, das dieser ganze spektakuläre, strukturlose Trubel mit seinem blendenden Similiglanz, dieses pompöse Pandämonium aus aufgedonnerten Stars und Starlets, Schaulustigen auf Klappleitern, überforderten Cinephilen, gehetzten Presseagenten, Journalisten auf Interview- und Kontroversenjagd, trinkseligen Jurysitzungen, Cocktail-Empfängen und Strandfeten, Hupkonzerten und Menschenschlangen, schlaflosen Nächten und verkaterten Morgenstunden, surrealen Q&As und Konferenzen – dass dieser ganze Schall, Rauch und Wahn dem Kino doch etwas bringt, weil irgendwo mittendrin eine Handvoll formal radikaler Filme eine ungeahnte Öffentlichkeit erfahren, eine Öffentlichkeit, die ihnen sonst niemals zuteilwerden würde, Filme von Miguel Gomes, Šarūnas Bartas oder Apichatpong Weerasethakul, in den Nebensektionen zwar, aber dennoch in Cannes, und somit auf dem Wellenkamm von Cannes mitreitend, Richtung anderer Festivalufer, mit ihrem schwellenden Ruf bereits überschäumend in die Erwartungsbecken der globalen Kinokultur, ein Hype, und wie jeder Hype etwas aufgesetzt, aber nicht unbedingt falsch, nicht unbedingt schlecht bei schwierigen, sperrigen Filmen, nach denen ohne Hype kein Hahn krähen würde, Filme, über die ich hier nicht schreibe, weil ich sie erst von Cannes trennen muss, um sie wirklich zu sehen.