Anonimul 2016 – Ein Festivalbericht

Nach zwei U-Bahn Fahrten, einer sechsstündigen Zugfahrt, einer eben so langen, schönen Bootsfahrt und einem halbstündigen Lauf komme ich in Sfântu Gheorghe an, die Ortschaft im Donaudelta, wo das „Anonimul International Independent Film Festival“ zum zwölften Mal stattfindet (2014 gab es Projektionen ausschließlich in Bukarest). Es dauert länger von Bukarest zum Festival, als von Wien nach Bukarest. Die Fragen zu wie und wo projiziert wird, stellt man sich erst nach dem Aufstellen der Zelte und nach dem Duschen (es gibt eine Warteschlange).

Es gibt drei Leinwände: Zwei in Kinosälen, die Teil des luxuriösen Resorts nebenan sind und ein Freiluftkino dort, wo ich und viele der 5000 Besucher des Festivals zelten. Der Eintritt ist frei. Die Eröffnungsgala startet mit einigen Einwohnerinnen, die Katyusha singen. Nach weiteren Liedenr und einer Rede kommt Park Chan-wook, der diesjährige Ehegast des Festivals auf die Bühne. Er fühle sich mehr wie auf einer Nachbarschaftsparty, als wie auf einem Filmfestival und habe 24 Stunden gebraucht, um hier anzukommen, aber der Sonnenuntergang vom Boot aus gesehen, habe ihm gefallen. Sein Dolmetscher scheint sehr gut zu sein, aber um das wirklich einschätzen zu können, müsste ich Koreanisch auch verstehen.

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Dass The Handmaiden, Park Chan-wooks neuster Film und der diesjährige Eröffnungsfilm, mir einer der besten Filme, die ich während des Festivals zum ersten Mal sehe, zu sein scheint, sagt genug über meine Unzufriedenheit mit der Auswahl aus. In den folgenden Tagen werden andere Filme von „Director Park“, wie man ihn hier nennt, gezeigt, eine Masterclass hält er auch.  Bei einigen dieser Screenings stoße ich auf den großen Schock des Festivals: Hier, irgendwo im Donaudelta, sehr nahe am Rande der Welt, gibt es analoge Projektionen. In einem Land, in dem es nur noch weniger als 30 Kinos gibt und in dem man fürchtet, dass nur die in den Malls überleben werden (trotz der fantastisch-guten Pläne zum Rehabilitieren des Kinos in Rumänien, die die aktuelle Kulturministerin Corina Şuteu und ihr Berater für Film, Andrei Rus, entwickelt und anzuwenden begonnen haben), ist das schon erstaunlich. Plötzlich ist die schöne Donaudelta nicht mehr nur ein Biosphärenreservat. Irgendwann überlege ich, ob ich fragen sollte, wie sie die Filme besorgt haben, aber ich mache es nicht, weil mir die Idee, dass „Director Park“ sie in seinem Rucksack 24 Stunden getragen hat, wesentlich mehr als die anderen möglichen Antworten gefällt.

Bei der Masterclass erfährt man, dass Park Chan-wook über seine Filme gerne in Prozente spricht, und dass ein Film, seiner Meinung nach zwangsläufig gut wird, wenn man schon ein gutes Drehbuch und gute Schauspieler hat. Aber auch, dass er Gut und Böse nicht für klar voneinander abgegrenzte Kategorien hält.

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Ich verzichte darauf, Toni Erdmann zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen zu sehen, merke aber, dass er auch hier fast einstimmig gemocht wird. Auf ein zweites Anschauen von Cristi Puius Sieranevada verzichte ich natürlich nicht.  Überraschender Weise ist Puiu selbst auch da, manche der Schauspielerinnen aus seinem Film auch (die Überraschung kommt davon, dass seine Präsenz auf dem Festival nicht angekündigt war. Dass er zu einem Festival kommt, das seit der Gründung das Zeigen rumänischer Filme als einem seiner Hauptziele hat, ist jedoch nicht überraschend).

Der große Off-Screen-Humor-Moment des Festivals wird auch von ihm geliefert. In Witzmodus nimmt er das Standmikrofon, neigt es wie ein Rockstar und kündigt an, dass er ein Lied der (furchtbaren) rumänischen Band Iris singen wird. Sonst nimmt er (bösartig) Bezug auf eine der Fragen, die ihm bei der Pressekonferenz in Cannes gestellt wurden.

Was passiert sonst auf dem Festival? Ich gehe, wie immer auf Festivals, auf denen es so etwas gibt, brav in die rumänischen Kurzfilmprogramme, in der (komischen) Hoffnung, dass ich wahnsinnig interessante Filmmemacher lange bevor sie internationale Anerkennung erlangen, entdecken werde.  Auch wie fast immer, passiert das kaum. Das Kurzfilmprogramm „Schauspieler hinter der Kamera“, in dem Filme von Danny DeVito, Chloë Sevigny und Laetitia Casta laufen, verpasse ich, weil ich wegen der zeitlichen Verschiebung des ganzen Abendprogramms nicht mehr verstehe, wann was anfangen soll.

Während ich mit nassen Haaren, einem leichten Sonnenstich (schattenloser 20-minütiger Weg zum Schwarzen Meer), in Flip Flops und nach einer klebrigen Mischung aus Mückenspray, Sonnencreme und Meer stinkend im Kino direkt unter der Klimaanlage sitze, verstehe ich (schon wieder), dass meine Filmfestivalroutine und meine Urlaub-am-Meer Routine nicht kompatibel sind. Irgendwann frage ich mich, ob ich die einzige bin, die es bereut, das Festival im Jahr als Nuri Bilge Ceylan zu Gast war, verpasst zu haben.

Das Festival fand zwischen dem 8. und dem 14. August statt. 

A Spoonful of Sugar: Fuocoammare von Gianfranco Rosi

Fuocoammare von Gianfranco Rosi

Im letzten Drittel von Gianfranco Rosis Fuocoammare wird in einer langen Sequenz gezeigt, wie ein im Meer treibendes Flüchtlingsboot evakuiert wird. Die Kamera befindet sich dabei zunächst auf einem der Beiboote, das von den größeren Schiffen der italienischen Küstenwache zu Wasser gelassen wurde. Die entkräfteten Menschen werden von den Helfern aus dem überfüllten Boot geborgen und mit den Beibooten zum Schiff gebracht. Später sieht man, wie die Flüchtlinge medizinisch erstversorgt und amtlich registriert werden. Nach endlosem hin und her zwischen Flüchtlingsboot und Rettungsschiff ist die Evakuierung abgeschlossen und nur mehr die Leichen jener, die die Tortur im stickigen Laderaum nicht überstanden haben, sind zurückgeblieben. Dann ist die Zeit gekommen und Rosi steigt mit seiner Kamera selbst in den Rumpf der schwimmenden Todesfalle hinab. Für diese Sequenz hat Rosi einen idealen Drehtag ausgesucht: das Boot in seiner ganzen farbenfrohen Pracht liegt bei Sonnenschein auf stiller See, im Laderaum werden die Leichen von gedimmten Licht ins ästhetisch rechte Licht gerückt.

Es ist vermutlich falsch, eine bestimmte Inszenierungsweise allzu schnell aufgrund ethischer Überlegungen zu kritisieren. Kritik in dieser Form endet oft in reaktionären normativen Zuschreibungen, darüber „was Kunst darf“ bzw. was sie nach Ansicht des Kritikers „nicht darf“. Im Fall von Fuocoammare ist es jedoch angebracht näher zu betrachten, wie sich der Anspruch von Weltbezug und die Verliebtheit in die eigenen Bilder (man könnte auch sagen der Ästhetizismus) zueinander verhalten. Fuocoammare entstand als Versuch einer Gegenüberstellung vom Leben einiger Bewohner Lampedusas, deren Leben kaum von der humanitären Tragödie in ihrer unmittelbaren Nähe beeinträchtigt wird, und dem Schicksal der Flüchtlinge, die Stunden und Tage in Lebensgefahr verbracht haben, um in ein Europa zu gelangen, das nicht so recht weiß, wie es mit ihnen verfahren soll. In der Theorie scheint das ein innovativer Weg zu sein neue Perspektiven auf die Welt zu gewinnen, um besser verstehen zu können, was die Flüchtlinge dazu bewegt unendliche Strapazen auf sich zu nehmen, im Wissen ihr Ziel womöglich nie zu erreichen, aber auch um Einblick zu bekommen in dieses wenig bekannte Randgebiet der Europäischen Union, wo Idealismus und Bürokratie einen unerbittlichen Zweikampf austragen. Leider bleibt der Film ein großes Versprechen, das nie eingelöst wird und das liegt zum größten Teil daran, dass Rosi augenscheinlich kein Interesse an der Welt hat, sondern narzisstisch an seinen Bildern hängt. Diese Diagnose trifft gleichermaßen auf beide Erzählebenen zu.

Fuocoammare von Gianfranco Rosi

Gleich zu Beginn des Films wird der neunjährige Samuele eingeführt, wie er sich eine Steinschleuder bastelt. Er ist die zentrale Figur des Films, ein durchschnittlicher, aufgeweckter und leicht exzentrischer Junge. Die Kamera folgt ihm als er mit seiner Schleuder Jagd auf Vögel macht, Kakteen zu Zielscheiben zurechtschnitzt und seinen Vater beim Fischen begleitet. Als Erwachsener möchte Samuele selbst einmal zu See fahren, weshalb er im Hafen das Rudern übt. Auf einer seiner Übungsfahrten mit dem Ruderboot wird er von Rosis Kamera begleitet. Unter Aufsicht eines älteren Schulkollegen zeigt er sich zwar bemüht, stellt sich aber nicht allzu geschickt mit dem Ruder an. Es folgt ein harter Cut und man sieht Samuele, wie er zwischen zwei der Schiffe der italienischen Küstenwache gelangt ist, die tagtäglich auf der Suche nach Flüchtlingsbooten das Meer um Lampedusa durchkreuzen und hier im Hafen vor Anker liegen. Mithilfe des Freundes kann er sich aus seiner misslichen Lage befreien, doch es bleibt unklar, wie er überhaupt in die Nähe dieser Schiffe gelangen konnte, um so plakativ das Verhältnis von Zivilbevölkerung und Flüchtlingshilfe, von Land und Meer zu veranschaulichen. Der dokumentarische Realitätseindruck, der vom Film angestrebt wird, um ein Gefühl der Unmittelbarkeit zu erzeugen, wird wiederholt durch solche grobschlächtig inszenierten Einschübe unterbrochen. Ein anderes Mal zeigt der Film einen Harpunenfischer, der eine Steilküste überwinden muss, um zum Meer zu gelangen. Die Kamera ist ihm dabei immer schon voraus (selbst als er ins Wasser eintaucht), der Taucher folgt quasi den Bedürfnissen der mise-en-scène, die Welt ordnet sich dem Bild unter. Es scheint, als traue Rosi der Welt nicht zu für sich selbst zu sprechen (oder er misstraut seinen eigenen Fähigkeiten als Beobachter), weshalb er sich genötigt fühlt, immerzu Pointierungen einzufügen, um seinen Punkt klar zu machen. Das Potenzial „dokumentarischer Unmittelbarkeit“ Raum für Ambivalenzen offen zu lassen und die Deutungshoheit an den Zuschauer abzugeben wird durch solche Pointierungen freilich zunichtegemacht, das bildgestalterische Streben nach unmittelbarer Welterfahrung entpuppt sich als leere Geste.

Fuocoammare von Gianfranco Rosi

Mit der Inszenierung der Flüchtlinge verhält es sich nicht anders. Wie schon Mary Poppins wusste, hilft ein Löffel Zucker, um bittere Medizin zu schlucken, folgerichtig wird jeder Einbruch der Realität, jeder Hammerschlag des Schicksals durch Ästhetisierung abgeschwächt: im überfüllten Flüchtlingslager wird Fußball gespielt und gesungen, das im Meer treibende Flüchtlingsboot schillert in prächtigen Farben, die Leichen werden in samtenes Dämmerlicht gehüllt. Die unendliche Ungerechtigkeit, das unfassbare Elend dieser Menschen geht in dieser Weichzeichnung ebenso verloren wie die unbändige Macht des Realen – alles wirkt stattdessen „wie im Film“. Fuocoammare formuliert den Anspruch „die Welt zu zeigen“, indem er bewusst den Alltag von Bewohnern Lampedusas und den Alltag der Flüchtlinge, wenn man ihn so nennen kann, gegenüberstellt. Der Film möchte durch diese Konfrontation eine emotionale Reaktion hervorrufen und setzt dabei auf Mittel der Fokalisierung und Narrativisierung, die schlussendlich die Bilder und deren Weltbezug ersticken: wo ist der Unterschied zwischen der Bergung des Flüchtlingsboots wie Rosi sie inszeniert und einer ähnlichen Szene in einem Spielfilm? Jede Form von Unmittelbarkeit wird hier durch inszenatorische Kunstgriffe abgeschwächt, die Farben, das Licht, die Kadrierung, der Schnittrhythmus zwischen Szenen aus dem Beiboot und Szenen der Erstversorgung auf dem großen Schiff – das alles sind bewusste Entscheidungen, um das Material in formelhafte Schablonen zu pressen und an medial eingeübte Muster anzuschließen. Das soll nicht heißen, dass Fiktionalisierung, Fokalisierung und Narrativisierung in einem Film mit dokumentarischem Anspruch keinen Platz haben (ganz im Gegenteil), die Frage ist nur auf welche Art und Weise man diese Mittel einsetzt. Bevor die Kinovorführung losging habe ich Einbahnstraße von Walter Benjamin gelesen. Benjamin ist ein meisterhafter Beobachter, der im Stande ist seine Beobachtungen in poetischen Allegorien und Metaphern auszudrücken, in Einbahnstraße oder auch in seinen Städtebildern wird das besonders deutlich. Diese Transferleistung gelingt Fuocoammare nicht, der Film formuliert seine politische/humanistische/künstlerische Botschaft nicht aus dem Material heraus, sondern zwingt sie ihm auf, die Beobachtung dient nur mehr als Mittel zum Zweck (mit größerem Budget könnte sie durch sorgsam orchestrierte Sets, Kostüme und Statisten ersetzt werden). Es ist also symptomatisch, dass ein Film wie Fuocoammare den Hauptpreis eines Festivals (der Berlinale) gewinnt, dass nicht verstanden hat, dass das (politische) Potenzial von Film nicht darin liegt eine Idee filmisch zu illustrieren, sondern vielmehr darin filmisch eine (politische) Position zu formulieren.

Scherzhafte Schmerzhaftigkeit: Ein kritisches Gespräch über Toni Erdmann

Vor einigen Wochen hatte Toni Erdmann seinen offiziellen Kinostart in Deutschland und Österreich. Der Film, der ohne Übertreibung als eine der größten Cannes-Sensationen aller Zeiten gefeiert wurde, schafft das seltene Kunststück die Kritikergemeinde und Zuseher gleichermaßen zu begeistern. Als ich den Film zum ersten Mal bei einer Vorpremiere im Österreichischen Filmmuseum sehen durfte, stellte sich schnell Enttäuschung ein. Ich habe einen guten Film gesehen, aber keinen, der mich vollends begeisterte. Einige Dinge missfielen mir sogar. Nach dem Screening stand ich also etwas verloren vor dem Kino und traute mich gar nichts zu sagen. Der Kinosaal schien begeistert, etwas mit mir schien nicht zu stimmen. Vielleicht ist das der Gruppenzwang eines Konsens. Nach wenigen Minuten fand ich in Alejandro Bachmann und später in Katharina Müller zwei Verbündete. Beide beschäftigen sich beruflich, weitestgehend vermittelnd und/oder wissenschaftlich mit Kino und Film. Wir verabredeten ein Treffen, um über den Film zu diskutieren. Es ging uns weniger darum, Toni Erdmann aufgrund einer Laune schlecht zu reden, als eine Annäherung an eine mögliche Kritik des Films zu wagen. Denn wenn uns eine Sache wirklich in dieses Gespräch trieb, so war es eine Verwunderung über die Reaktion der Filmkritik auf Toni Erdmann. Herausgekommen ist ein herumwanderndes Gespräch, das irgendwie auch von der Schwierigkeit einer Formulierung von Kritik handelt. Letztlich hat es uns allen gezeigt, dass die Dinge selten so einfach sind wie man sie selbst im Kino wahrnimmt. Das gilt im Positiven wie im Negativen.

'Toni Erdmann' premiere - 69th Cannes Film Festival

Patrick Holzapfel: Die Frage, die mich bei Toni Erdmann umtreibt ist, wie es sein kann, dass sich bei einem Film, den wir alle drei nicht furchtbar fanden, aber auch nicht herausragend, wie kann es da sein, dass es so lange keine negativen Stimmen dazu in der Kritik gibt? Jetzt gab es vor kurzem einige kritische Äußerungen von Christoph Hochhäusler, aber davor war gar nichts zu hören. Ich denke schon, dass wenn wir jetzt über den Film sprechen, dann müssen wir das mitdenken, also, was für eine Erwartung da aufgebaut wurde. Der Film wurde ja von der Mainstream-Kritik und der kunstaffineren Kritik national und international gleichermaßen gefeiert. Das sind natürlich enorme Erwartungen, die einen Einfluss auf die Rezeption des Filmes haben  Ich hätte den Film jedenfalls gerne gesehen ohne diese Erwartungen. Also vielleicht fangen wir damit einfach an. Woher glaubt ihr denn, dass dieser Hype kommt?

Katharina Müller: Ich glaube, dass man das nicht trennen kann von dem Kontext, dass der Film in Cannes Premiere gefeiert hat. Und diese Premiere hat sich auch in eine Abfolge von Ereignissen eingereiht, in der immer wieder dieses „Altherrenkino“, diese „Altherrenideologie“ kritisiert wurde, wo zum Beispiel die Cahiers du Cinéma 2012 demonstrativ nach Cannes diese Extraausgabe zu „Où sont les femmes?“  gebracht haben, als Michael Haneke gewonnen hat. Da ging es auch um Maren Ade in der Ausgabe so nach dem Motto: Da ist doch eine neue Generation, warum funktioniert das nicht? Und von dieser Geschichte kann man die Rezeption nicht lösen, also dass da hier eine Frau einen Film macht, der zumindest zum Teil einen Strang hat, der dieses Mansplaining thematisiert und das auch auf eine Art bloßstellt…

Alejandro Bachmann: Mansplaining? Ist das ein Begriff für uns die Welt erklärende weiße Männer?

K.M.: Genau. Das ist ein Begriff von Rebecca Solnit. Da geht es genau um dieses Phänomen: Weißer Mann erklärt die Welt.

A.B.: Das ist von daher interessant, weil genau das hat mich am Film eigentlich dann doch geärgert. Er vertritt in gewisser Weise eine Ideologie, in der uns der alte weise und weiße Mann die Welt erklärt. Und das scheint auch für mich an extrem wenigen Stellen im Film wirklich gebrochen zu werden. Das hat zum einen vielleicht damit zu tun, dass es – wie das womöglich auch in Christoph Hochhäuslers Kritik anklingt – eine gewisse schwarz-weiß Zeichnung gibt. Und das interessante ist, wenn man sich die Kritiken durchliest, zum Beispiel auf Mubi Notebook oder auch im Standard, dann gibt es einen Konsens , dass der Film auf dem Papier erst einmal ganz einfach gebaut ist. Aber sie benutzen immer eine Redewendung, um das zu relativieren und zwar schreiben sie, dass das nur auf dem Papier  sehr einfach wirkt in dieser Konstellation. Dann müsste man aber konsequent weiterfragen, ob dann auf filmischer Ebene Ambivalenzen hinzukommen und diese schwarz-weiß Zeichnungen, dieser alte weise Mann und die junge, etwas verwirrte Karrierefrau und so weiter, ob die sich auflösen. Das interessante ist, dass keine einzige der Filmkritiken, die ich gelesen habe, darauf eingeht, wie sich das dann filmisch übersetzt oder auflöst. Es wird gesagt, das sei alles viel komplexer als es beschreibbar ist, aber einen tatsächlichen Versuch, das Unbeschreibbare zu Umschreiben habe ich nicht gefunden.  Was mir auch bei den Kritiken aufgefallen ist: Es wird immer von einem Humanismus gesprochen. Also fast alle Kritiken sagen, dass das ein durch und durch humanistischer Film ist, der uns unsere gemeinsamen humanistischen Werte und Ideale noch mal spiegelt oder bewusst macht. Und das finde ich insofern problematisch, weil der Film eine zutiefst politische Ebene hat. Nämlich in dem, was schon angesprochen wurde bezüglich Gender-Politics, also Wahrnehmung von Frauen als Filmemacherinnen, aber auch so was wie eine weibliche Perspektive und auch bezüglich des Verhältnis von Osten und Westen, nämlich von Rumänien und Deutschland. Also alles politische Themen, die auch zeitgeschichtlich, politisch aktuell sind und die aber in den Kritiken fast keine Rolle spielen. Stattdessen wird dann der  Humanismus der Geschichte oder dieser Konstellation hervorgehoben. Das empfinde ich verwirrend. Stellenweise kam es mir vor, als wollte man damit etwas umgehen…

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P.H.: Erstmal vielleicht zu dieser Einfachheit des Films. Ich habe zum Beispiel bei Mark Peranson in der Cinema-Scope darüber gelesen und er geht explizit auf die letzte Szene des Films ein, in der es eben für ihn nicht alles so einfach ist, weil sie eben nicht einfach von ihrem Vater gelernt hat oder so. Sie nimmt dann ja die Zähne raus, sobald er geht, um den Fotoapparat zu holen. Sie fällt also wieder in das gleiche Muster wie zuvor. Jetzt ist das aber für mich eine Szene, in der Ambivalenzen förmlich ersticken. In der Szene gibt es für mich vier oder fünf Augenblicke, in der Maren Ade dieses ambivalente Ende wirklich hätte finden können, aber ihr letzter Blick, mit dem der Film endet, sagt uns ganz genau und so wie Peranson schreibt: Ja, sie kann jetzt nicht einfach in dieser Rolle ihres Vaters bleiben. Also wenn ich so einfach zeige, dass es so einfach nicht ist, dann ist dieses Nicht-Einfache wieder vereinfacht, finde ich. Und was vielleicht zur der Vereinfachung noch wichtig ist, der Film ist schon auch eine Komödie, oder?

K. M.: Mit gemäßigtem Witz.

P.H.: Na ja, sie hat ihre Momente, bei denen ein ganzer Kinosaal lacht. Und das hängt auch mit der Einstiegsfrage zusammen. Da spüre ich so einen kollektiven Hunger nach dem Lachen, der Komödie und das hängt immer auch mit Vereinfachungen zusammen in den Figuren. Weil solche Situationen wie: Jetzt kommt dieser Toni Erdmann in diese Businesswelt…das funktioniert natürlich genau deshalb so gut, das kann man ja mit Slapstick, Lubitsch und so weiter vergleichen, weil die Figur so vereinfacht ist. Das widerspricht  irgendwie nur dem Realismus des Films.

K.M.: Ich glaube es funktioniert nicht nur deshalb, weil es vereinfacht ist, sondern auch nach dem klassischen Prinzip des Clownhaften. Nur statt einer roten Nase gibt es hier ein falsches Gebiss. Das muss ja nach einem einfachen Prinzip verfahren. In dem Moment, in dem er diese Zähne reintut, darf er nur mehr scheitern. Das gelingt ja alles nicht. Sein Mansplaining ist ja kein gelungenes. (Im Sinne von: er stößt dabei an seine Grenzen.) Am Ende des Films kommt für mich jetzt nicht raus: Alter weißer Mann erklärt die Welt (erfolgreich), sondern junge weiße Frau bekommt von altem weißen Mann die Welt erklärt. Das wäre für mich die Essenz, wenn man denn eine Essenz daraus ziehen wollte.

P.H.: Aber nimmt die Figur das für dich in dieser letzten Szene an?

K.M.: Das ist ja vollkommen egal. Ich finde es bleibt offen genug. Sie hat ein Angebot und kann es annehmen. Und als Zuseher hat man dieses Angebot auch. Und ich fand aus dieser Perspektive gab es schon extrem starke Szenen, zum Beispiel wenn sie zu ihrem Arbeitskollegen sagt: „Wenn ich Feministin wäre, würde ich mit dir gar nicht reden.“ In dieser Mischung aus Zynismus und vermeintlichem Nicht-Feminismus ist das schon eine starke Aussage und das zeigt schon, dass es da auch kein Auskommen gibt.

P.H.: Jetzt ist Alejandro mehr auf alte Welt und neue Welt gegangen und Katharina geht mehr so auf Männerwelt und Frauenwelt.

K.M.: Also den Generationenkonflikt sehe ich nicht so stark als solchen. Weil beide Generationen bzw. der vermeintliche Generationenkonflikt selbst auf eine Art bloßgestellt werden. Da ist ja dann keiner im Recht, das bleibt relativ unentschieden. Ich finde den Post-68er genauso „lächerlich“ wie sie.

A.B.: Das kann ich teilweise nachvollziehen, aber am Ende erlaubt der Film ja ein Abschlussplädoyer. Das wird dem Alt-68er-Mann überlassen, der noch einmal zusammenfasst, warum er glaubt, dass seine Tochter das falsche Leben führt und dann sind wir noch mal zurückgelassen mit der anderen Figur, der Tochter, die darüber nachzudenken hat und sich zu positionieren hat – zu dem Plädoyer für ein besseres Leben des alten weißen Mannes. Sagen wir es so: Für mich bricht der Film das Lebenskonzept des Alt-68ers deutlich weniger, als das Lebenskonzept der neoliberalen Karrierefrau und was mich dann einfach geärgert hat, obwohl ich auch meine Momente hatte mit dem Film, ist dass der Film überhaupt keine Zusammenhänge zwischen dem Alt-68er und der Karrierefrau artikuliert. Stattdessen wird das Lebenskonzept der Frau als etwas Bizarres und vom Leben befreites dargestellt und der Alt-68er ist der, der weil er andere Werte vertritt, uns noch mal zeigen kann, was wir verloren haben. Und „wir“ sage ich natürlich, weil ich mich natürlich der Generation der Frauenfigur eher nahe fühle.

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K.M. : Aber es ist ja nicht das Leben DER Frau, sondern das Leben einer ostentativ im Kapitalismus verfangenen Figur, die als „Frau“ geschlechternormativ konstruiert ist (ihrem Umfeld gemäß).

A.B.: Genau, aber der Alt-68er hat sein eigenes Haus und die Nähe zu Freunden, die auch ein riesiges Haus haben mit schönem Garten und schönem Schmuck. Die haben ja auch vom System profitiert, aber der Film verfolgt kein…

K.M.: …aber das ist ja genau der Punkt. Du sagst, da wird keine Verbindung gezogen zwischen dem Alt-68er und der jungen Frau, aber genau in dem System liegt ja die Verbindung.

A.B.: Aber hast du nicht das Gefühl, dass Toni Erdmann der Sympathieträger ist. Toni Erdmann ist doch die Figur, die Sympathien zieht und Veränderungen hervorbringt. Die andere Figur ist eine in Stasis und gewisser Blindheit verfangene Figur, die Toni Erdmann braucht, um ein besseres Leben zu erkennen und der Film markiert, finde ich, an keiner Stelle, dass dieses vermeintlich bessere Leben mal hinterfragt wird.

K.M.: Ich glaube, Toni Erdmann hat auch das Problem, dass er Simonischek ist. Da liegt ja dieses Josefstadt-Tradition drin…

A.B.: Was meinst du mit der Josefstadt-Tradition?

K.M.: Na ja, der alte weiße Theatermann. Das ist noch einmal eine Steigerung zum alten weißen Mann. Das ist eines der „Probleme“. Das ist so schwer trennbar. Daher hatte ich an dieser Linie zwischen den beiden Figuren viel Schlimmeres erwartet. Ich war dann eher positiv überrascht, Simonischek so entkräftet in diesen Konnotationen zu sehen.

P.H.: Ich bin da schon eher bei Alejandro und diesem Fehlen der Verbindung, auch wenn ich mich schon an ein paar Stellen erinnern kann, in der das versucht wird. Was Alejandro so ein bisschen fehlt, ist ja auch, dass sie dem Simonischek mal ganz klar sagt auch, dass sie jetzt nicht nur so ist, weil sie das Leben so besser findet, sondern weil sie muss. Das fehlt vielleicht ein bisschen. Das ist ja auch ein Überlebensdrang. Und manchmal werden die im Film so gegenüber gestellt, als würden beide Figuren der gleichen Berufsrealität entspringen. Allerdings sagt sie ihm schon ein paar Mal so in etwa: „Willst du eigentlich noch was vom Leben? Willst du jetzt nur noch Furzkissen unter den Hintern von Leuten schieben? Ich kenne Männer in deinem Alter, die wollen noch was.“ Und so weiter. Wo ich aber wieder bei Alejandro bin…man nimmt das halt wie eine Erlösung wahr, wenn sie dann endlich Humor bekommt. Also gerade auf der legendären Nacktparty, aber auch schon zuvor, wenn sie anfängt selbst Spiele zu spielen. Dann wird sie plötzlich sympathisch, davor ist sie was Totes. Das ist natürlich auch im Schauspiel so angelegt. man schaut ja so durch die Leute hindurch. Das ist für mich ein Problem. Ich kann diese Figuren viel zu einfach lesen.

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K.M.: Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen. Liegt nicht gerade in dieser Einfachheit und Ausgestelltheit der Kniff letztlich, um das ganze Ausmaß der Absurdität zu zeigen. Diese Frage stelle ich mir.

A.B.: Ich glaube schon, dass du Recht hast. Der Film baut binäre Oppositionen, weil genau daraus kann das Absurde ja auch besonders hervorbrechen. Das Interessante ist aber, dass er sich in seiner filmischen Ästhetik dem Realismus verpflichtet fühlt. All jene surrealen, grotesken oder fast schon slapstick-artigen Momente begegnen mir in einer realistischen Ästhetik, weil der Film ja eigentlich sagt, dass er an der Realität interessiert ist und zwar in einem hohen Maß.

K.M.: Aber das ist ja auch ein Kontrast.

A.B.: Aber das Problem ist, dass er für mich dann weder das eine noch das andere dann so richtig einlöst.

K.M.: Aber das hat das Absurde halt so an sich…

A.B.: Ja genau, aber weder ist der Film schreiend komisch noch ist er besonders realistisch. Ich empfinde es als merkwürdig: Einerseits zeigt uns der Film sehr genau familiäre Situationen, Konflikte der Arbeitswelt – mit einem großen Gespür für Kleinigkeiten, Gesten, Gegenstände, dann aber und dann gibt es diesen Moment, in dem all die Interventionen von Toni Erdmann in der Berufswelt seiner Tochter scheinbar überhaupt keinen realen Effekt haben:Am Ende geht sie nach Shanghai. Das wird ja vorher als ihr nächstes berufliches Ziel etabliert. Es hat also keinen Unterschied gemacht, dass sie sich nicht nach den Etiketten verhalten hat, dass sie  nicht die Codes der Arbeitswelt eingehalten hat, dass sie ihre Geschäftspartner brüskiert hat. All das spielt keine Rolle am Ende. Sie geht einfach nach Shanghai.

K.M.: Weil sie eine „Frau“ ist!. Mit dieser Kausalität von Geschlechternormen spielt der Film schon irgendwie. Sie braucht ja keine Codes. Es geht nur darum, dass sie mit der Gattin des Chefs einkaufen geht. So habe ich das gelesen. Das hat schon eine Wucht. Sie kann gar nicht entkommen, sie kann sich gar nicht disqualifizieren. Darin liegt eine der Grausamkeiten.

P.H.: Es gibt aber eine Szene, in der sie ihrem direkten Vorgesetzten, der dann später auf der Nacktparty erscheint, spricht und klar wird, dass er da ein Entscheidungsträger ist. Ich finde es komisch, dass das dann keine Rolle spielt. Aber das führt mich wieder zu diesem Coda, ich finde das sehr merkwürdig am Ende, als das alles gesagt wird.

K.M.: Der Film ist einfach viel zu explikativ auf eine Art. Aber für mich ist das gerechtfertigt durch dieses Mansplaining, das ja hier auch ein großes Thema ist, das heißt, dass er ja auch irgendwie explikativ sein muss, um seiner Rolle gerecht zu werden. Aber noch mal zum Realismus. Für mich gibt es zwei Momente, in denen der total drinnen ist, zwei ganz starke Momente. Zum einen diese Szene mit dem Zehennagel. Sie trennt ihn ab und dann beißt sie sich durch. Die bekommst du nie so stark in ihrer Schmerzhaftigkeit hin, wenn der Film nicht bis dahin schon diese dem Realismus verschriebenen ästhetischen Methoden anwendet. Aber da tut es richtig weh. Und Schmerz ist ja auch ein großes Thema des Films. Der andere Moment, der wie ein Emblem oder Sinnbild des Films funktioniert, ist diese Szene, in der Sandra Hüller nicht aus dem Kleid kommt. Sinnbild aber nicht nur im positiven Sinne, weil das auch für diese Verklemmung steht.

P.H.: Das sind zwei körperliche Szenen.

K.M.: Ja und da wird so eine Verklemmung spürbar, die irgendwie auf alles übergreift, was nicht per se schlecht ist, aber was vielleicht auch diesen Cannes-Erfolg bedingte…

A.B.: Was meinst du mit Verklemmtheit?

K.M.: Ich glaube, dass der Film in manchen Sequenzen nicht weit genug geht. Das müsste doch mehr aus dem Vollen heraus schöpfen. Wenn dann mehr Furzkissen und mehr…da muss dann wirklich was passieren.

A.B.: Und die Nagelszene wäre dann eine Szene für dich, in der der Film weit genug geht?

K.M.: Da geht es sehr weit. Wenn der Film dort visuell weiter ginge, also mehr zeigen würde, dann würde sich das Gewalt-und Schmerzpotential der Szene wohl aufheben. Hier setzt er aber auf unsere Vorstellungskraft und erreicht dabei maximale Intensität. Das schmerzt.

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P.H.: Für mich ist Realismus in dem Film auch oft Konvention. Das ist jetzt keine radikale Realismushaltung. Da geht der Film auch nicht sehr weit. Das ist sehr häufig in Schuss-Gegenschuss aufgelöst, die Kamera ist immer so platziert, dass sie mehr oder weniger alles überblicken kann, es werden eigentlich nur handlungsrelevante Dinge gezeigt. Ich will es jetzt nicht übertreiben, aber das geht schon in Richtung Hollywood-Realismus. Und dann komme ich zu etwas, was Alejandro am Anfang gesagt hat, nämlich die Frage, ob im Filmischen, in der Form sich dann Ambivalenzen öffnen. Aber so wie der Film arbeitet, können da ja gar keine Ambivalenzen sein, denn dort ist meist Konvention. Klar ist das Realismus, Ade setzt auf Naturalismus im Spiel, im Szenenbild und so weiter…aber sie geht überhaupt nicht weit damit. Was Katharina da vermisst an Radikalität bezüglich der Thematik vermisse ich vielleicht im Bezug zur Form. Das könnte aber daran liegen, dass mich der Film auf die Spur von Realismus gezogen hat und das nicht eingehalten hat und Katharina eher mehr Absurdität gelöst vom Realismus wollte. Der Film hängt so dazwischen und irgendwie scheint genau das zu ziehen. Für mich sind da dann auch schwammige Dinge, wo Ade eher eine Idee filmt, als eine Realität, aber diese Idee aussehen lassen will wie Realismus. Zum Beispiel in der Frage, was sie uns von Rumänien zeigt. Also wenn ein Blick in dem Film aus dem Fenster geht, dann wird auf Armut geblickt. Ich verstehe die Idee und die Idee gefällt mir auch. Sie sagt: Seht her, da ist diese neue, europäische Businesswelt und dann gibt es da aber auch ein reales Land, das man halt mal so durchs Fenster sieht.

K.M.: Sie zeigt ja deren Blick. Den Blick der Businessleute hinunter auf „Rumänien“.

P.H.: Ja genau, das verstehe ich auch als Idee. Nur, wenn dieser Blick ein realistischer wäre, dann wäre er nicht so einseitig. Und das führt uns wieder zu den schwarz-weiss Zeichnungen. Es wird mir eigentlich beständig eine Idee vermittelt, die nichts mit der filmischen Realität dort zu tun haben kann, aber dauernd so tut als ob.

K.M.: Was wäre denn für dich ästhetisch radikal? Gab es für dich eine Szene, auf die du gewartet hast? Ich habe ja immer darauf gewartet, dass  Toni Erdmann auch nackt auf der Party erscheint. Und ich bin mir überdies nicht sicher, ob man das Absurde vom Realistischen so einfach trennen kann.

P.H.: Natürlich kann man das Absurde nicht vom Realistischen trennen, weil man das Realistische ja nicht vom Absurden trennen kann. Ich meine nur, dass die Absurdität hier weniger aus dem realistischen kommt, als aus dem Drehbuch. Also formal kann man das ja nicht machen. Du kannst ja nicht einfach so eine formal radikale Szene in so einen Film schneiden. Es geht mir auch nicht darum, dass ich es schlimm finde, dass der Film darauf verzichtet. Mit Radikalität meine ich eigentlich konsequenteren Realismus. Der Film spielt ja in Rumänien und in Nebenrollen finden sich auch einige Stars des rumänischen Kinos, die hier schlicht nichts zu tun haben. Ade hat sich da ja auch inspirieren lassen offensichtlich. Aber natürlich denke ich da, vielleicht ein wenig ungerecht, auch an Cristi Puiu, weil der eben dieses Jahr mit Sieranevada auch in Cannes war. Und bei Puiu gab es inhaltlich wie ästhetisch die Idee, dass es immer mehrere Wahrheiten gibt, konstruierte Wahrheiten, unklare Konflikte in einzelnen Figuren. Also ziemlich genau das Gegenteil dieser Vereinfachung bei Ade. Und natürlich stört mich da mehr die Bevorzugung letzterer in der Rezeption als ihr prinzipielles Vorgehen. Und Puiu unterstützt diese Weltsicht formal, weil er die Kamera meist nur an einen festen Ort stellt, schwenkt und gar nicht alles sehen kann beziehungsweise mal diesem folgt und mal jenem. Er entscheidet sich dafür, sich auf eine Beobachtung zu reduzieren. Da geht jemand mit der Idee von Realismus radikaler um. Für manche ist das verkopfte Verklemmung…die würde aber ja auch super passen bei Toni Erdmann. Aber die Idee, dass mal jemand hinter einer Tür verschwindet oder hinter einer Ecke und die Kamera muss warten bis die Figur zurückkommt, ist etwas, was ich mir an sich sehr gut hätte vorstellen können in Toni Erdmann wenn ich etwas nennen müsste.

K.M.: Aber braucht es das?

P.H.: Diese Frage kann man immer stellen. Ich will mir auch keinen Film wünschen, ich will über den nachdenken, den es gibt. Meine Kritik ist nicht: Der Film hätte das gebraucht, sondern der Film ist unglaublich konventionell. Immer auch vor dem Hintergrund dieses extremen Hypes. Das hier war ein Vorschlag. Ich denke, dass es viele Ideen gibt dafür.

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A.B.: Aber lass uns da doch noch mal einhaken. Die Kritiken sind eigentlich durchgehend begeistert. Keiner von uns findet den Film jetzt total schrecklich, sondern wir sind eher verwundert, wo die große Begeisterung herkommt.

K.M.: Die nationale Komponente ist vermutlich auch noch wichtig. Deutsche Regie, seit acht Jahren keine deutsche Regie mehr dort und so weiter. Auch aus politischen Gründen.

A.B.: Das auf jeden Fall. Darauf will ich hinaus. Also wir drei können nicht verstehen, wieso die Kritiken so überschwänglich sind. Wir sind uns einig, dass es eine gewisse Einfachheit in der Konstruktion der Geschichte gibt, die teilweise in das humoristische Potenzial hineinspielt. Dann gibt es diese Aspekte mit der Repräsentation von Rumänien, es gibt die Frage nach dem Verhältnis von Männern und Frauen und so weiter und daran anhängend die Frage nach einer weiblichen Filmemacherin in Cannes. Und all diese Kritiken sind durchweg begeistert und nennen alle den Humanismus. Der Humanismus ist ein Wort, das immer wieder fällt. Für mich hat bislang niemand in den Kritiken formuliert, worin eigentlich dieser besondere Humanismus des Films liegt. Viele Kritiken sind sich auch darüber einig, dass es einfach gebaut ist, sagen aber, dass es filmisch – also als Film – dann eine Komplexität erhält. Was mir eklatant erscheint ist, dass viele der KritikerInnen, die darüber geschrieben haben, eine spezifisch kinematographische Handschrift gut finden, also etwas, das visuell , also über bewegte Bilder und Töne erzählt. Aber habt ihr das Gefühl, dass Toni Erdmann im besonderen Maße über die Mittel des Kinos erzählt? Oder ist das nicht eigentlich eine Form von extrem dialoglastigem und wie Patrick gesagt hat nach sehr klassichen Mustern aufgelöstes Kino?

K.M.: Das wäre auch einer meiner Einwände. Also dass Ade in einer politischen Betrachtung des Films mit den Methoden, ich sage das vorsichtig, des klassischen Theaterfilms oder Kammerspiels mit einer sehr traditionellen und damit auch „männlich“ belasteten Arbeitsweise herangeht. Und ich glaube, was es mit dem Humanismus auf sich hat, ist glaube ich einfach, dass das Wesen dieses Films in einem Carpe Diem für arbeitendes, bürgerliches Publikum liegt.

A.B.: Nur um es richtig zu verstehen, würdest du sagen, der Film adressiert geradezu Filmkritikerinnen und Filmkritiker, die in einem neoliberalen Kultursystem daran gewöhnt sind, permanent auf Festivals mit iPads herumzulaufen, Texte zu schreiben, Filme zu schauen, bis spät in die Nacht zu arbeiten und zu netzwerken und dann kommt ein Film und sagt: Stimmt, ihr müsst mal durchatmen?

K.M.: Ja, absolut. Also für mich ist das so ein Aufruf, so ein Carpe Diem. Und da gibt es einige Patzer. Zum Beispiel die Szene mit dem Sarg mit seiner Mutter. Da hätte mehr passieren können, da hätte der Film meiner Meinung nach über die Stränge gehen können. Genauso wie am Ende beim Abschlussplädoyer, das ist einfach zu platt so wie es ist. Natürlich kann man da fragen, ob es das gebraucht hätte. Am Sarg finde ich, hätte schon etwas passieren können, um nicht so stark in die Hauptabendprogrammfernsehideologie reinzudriften: Ein nicht unterdrückbarer Lacher, ein Klappsarg oder so. Am Schluss war es schon auch schön so, weil sein ganzes Mansplaining da so aufgelöst wird.

P.H.: Aber das ist doch eine schöne Szene für unser Problem. Aus einer inhaltlichen Perspektive scheint das sehr relevant, aus einer formalen Perspektive ist das halt wieder auf den Dialog gelegt. Das kann man so machen, aber ich finde das erklärt mir sehr viel. Ich habe schon einige spezifisch kinematographische Bilder im Film gesehen . Zwei fallen mir jetzt ein. Zuerst mal als der Hund von ihm stirbt. Ich finde, dass das sehr gut eingefangen ist. Sie ist nahe und zugleich fern, der Raum wird sehr klein in diesem Garten, es gibt keinen Ausweg, man sieht den Hund auch nicht richtig, da entsteht etwas sehr Trauriges, ohne dass viel gemacht wird. Das ist schon ein Moment, in dem der Film in Kinobildern denkt. Und ich finde schon, selbst wenn das sehr groß und fast plakativ inszeniert ist, dass wenn die sich da am Ende im Park umarmen, das ist ein Kinobild. Dieses prinzipielle Lösen von solchen Sachen war für mich aber sehr überraschend, weil ich das zum Beispiel in ihrem Alle Anderen, den ich sehr mochte, viel mehr gesehen habe. Das ist natürlich auch ein Kammerspiel-Film mit viel Dialog, aber ich hatte da beständig das Gefühl, dass in dieser Rauheit der Inszenierung etwas über den Inhalt mit vermittelt wird. Das ist gleichzeitig beobachtender und näher an den Gefühlen der Eingesperrtheit und Hitze im Film.

A.B.: Es wirkt auch deutlich zerrissener. Bei Alle Anderen hat man nie das Gefühl, dass man weiß: Ah, jetzt kommt die Position und jetzt kommt die Position, sondern es ist ein permanentes Zwischendrin.

P.H.: Und in Alle Anderen findet sich für mich vielleicht auch die Brücke zum Humanismus in Toni Erdmann. Ich finde da einen großen Unterschied und das führt mich auch wieder zu Cristi Puiu, dem ja manchmal das Gegenteil nachgesagt wird, also dass er Menschen nicht mag. Aber da geht es doch um die Idee, dass man Schwächen nicht unbedingt gegen Stärken spielt, sondern das Schwächen vielleicht Stärken sind oder Stärken Schwächen. Dass Menschen vielleicht unsympathisch sind, untragbar, dass es da keinen Funken gibt, der zeigt, wo sie hin müssen oder dass man beständig spürt, wer sie eigentlich sind, sondern dass sie vielleicht aufgrund einer bestimmten Situation oder in einer bestimmten Beziehung einfach so sind wie sie sind. Ohne Besser und Schlechter. Dieser Humanismus ist mir viel näher. Jemand sagt mir: Da ist eine Person, ich verurteile sie nicht, sie kann einen zärtlichen Moment haben, sie kann einen furchtbaren Moment haben. Das ist für mich eine humanistische Idee, einen Menschen zu zeigen, ihn zu umarmen, auch wenn das für den Zuseher vielleicht viel schwieriger ist. In Toni Erdmann gibt es das schon auch, aber oft so klar abgetrennt voneinander. Nur, weil man eine Person mag, muss das doch kein Humanismus sein. Das könnte auch eine Lüge sein.

A.B.: Das wird ja in den Kritiken auch oft genannt. Es wird oft geschrieben, wie erstaunlich es ist, dass der Film es auch schafft, dass wir eine klassische neoliberale Arbeitsbiene  – mit all den Werten, von denen wir natürlich als kritisch denkende Menschen Abstand nehmen würden – dass der Film es doch schafft, dass wir auch sie mögen, auch sie verstehen. Aber da denke ich mir so ein bisschen, dass das doch für wirklich extrem viele Filme zutrifft, die es schaffen, Figuren facettenreich zu zeigen. Aber interessanterweise wird das dem Film so zu Gute gehalten. Deshalb finde ich ja, was Katharina sagt gar nicht so uninteressant. Vielleicht ist das ein Film, der eben auch die Leute adressiert, die im Kulturbetrieb arbeiten.

K.M.: Ich sehe in dieser Figur von Sandra Hüller, man kann sicher mehr darin sehen, aber ich sehe darin einen bestimmten Typus von deutscher Kritikerin, die in Cannes herumrennt und darüber klagt, dass es zu warm ist, dass so viel zu tun und das Kleid unangenehm ist. Deshalb wundert mich auch der Erfolg des Films nicht. Und ich sehe mich natürlich auch selbst ein bisschen in der Figur.

A.B.: Ich glaube auch, dass der Film darauf bauen kann: Wir sehen uns alle ein bisschen auch in dem Konflikt, der da thematisiert wird. Im Übrigen sehe ich da auch eine Gemeinsamkeit zu Alle Anderen – den habe ich damals mit 5 Personen gesehen und absolut jede/r sah die Geschehnisse mit ganz eigenen Augen.

K.M.: Ja natürlich, weil da ja auch ohne gröberes Gewalteinwirken von außen oder durch den Ausbruch innerer Gewalt kein Auskommen angezeigt ist. Aber um noch mal zu dem Formalen zurückzukommen. Mich hat das nicht so gestört. Ich glaube, dass der Film formale Besonderheiten bzw. Spielereien auch gar nicht vertragen würde. Und zwar basierend auf der künstlerischen Idee der Minimalmaske dieses Clowns, der ja irgendwie scheitern muss und für mich da am Ende auch zumindest bei ihr (nicht beim Publikum) gar nicht durchkommt mit seinem „Plädoyer“. Er muss scheitern und es ist von Anfang an klar, dass er scheitern wird, weil er eben diese Maske trägt. Das ist eben eine klassische Form von theatraler Kunst und für das Theatrale brauchst du, glaube ich, eine traditionelle Form. Sonst funktioniert das nicht. Der Clown lacht ja nicht selbst über sich. Sonst funktioniert er ja nicht. Der Film darf auch nicht über sich selbst lachen, sonst funktioniert er auch nicht. Und immer wenn er doch ein bisschen über sich selber lacht, das gibt es ein bisschen, dann hat es auch nicht funktioniert.

P.H.: Also natürlich ist es so, wenn ich sage, dass ich da was Formales vermisse, dann hängt das erstmal mit der Rezeption zusammen, weil ich erwarte von einer Filmkritik in einer solchen Breite nicht, dass sie sich so darüber freut, wenn formale Dinge über Bord geworfen werden. Aber man hat genau dieses Gefühl. Da wird gesagt: Endlich mal ein Film der Kunst ist, aber der nicht so verkopft ist und anstrengend und so weiter. Und das stört mich einfach. Zumal wir gesagt haben, dass der Film absolut politisch ist und Politik im Film schon auch sehr an der Form hängt. Und ich erwarte von der Filmkritik, dass sie Experimente fördert und bin enttäuscht, dass es solche Reaktionen durchgehend bei einem konventionellen Film gibt.

K.M.: Aber ich glaube eben, dass Toni Erdmann für solche Wünsche zu nah am tatsächlichen Filmkritiker, der Filmkritikerin angesiedelt ist und da gibt es dann eine Überwältigung. Im Verzicht auf formale Spielerei, selbst wenn sie sich da und dort anböte, liegt für mich auch eine Kunst. Mich hat es ja auch erwischt so kurz vor Semesterende, dass ich mir gedacht habe: Wie absurd, mit welcher Art von Pseudo-Ernsthaftigkeit ich das alles mache. Und ich habe mich auch in beiden Figuren gesehen, ich fand mich schon auch in der „männlichen“ Figur wieder, in der Kaspelei, die auch nicht „funktioniert“, aber zur Gegenwärtigkeit führt – und damit ein feinsinniges Gegenmoment zu einer durchgetakteten Welt ist, in der alles „funktionieren“ muss und die immer auf eine Konsequenz (Erfolg), also nicht auf den Moment gerichtet ist. Es sind grundsätzlich zwei gut aufgebaute Identifikationsfiguren.

P.H.: Das ist ja auch einer der Punkte…dieses Aufbauen der Figuren…das ist sehr klar. Der Film nimmt sich ja unfassbar lange Zeit für das Einführen der Figuren. Am Anfang wird seine Figur aufgebaut, dann treffen sie sich zum ersten Mal, dann wird ihre Figur aufgebaut und dann geht es eigentlich erst los mit Toni Erdmann. Das ist vielleicht auch so eine Sache. Ich habe in mehreren Kritiken gelesen, dass das einer der wenigen Filme ist, die Kunstanspruch haben und sich dennoch viel Zeit für einen psychologischen Charakteraufbau lassen. Ich spüre da eine Sehnsucht nach Psychologie. Man will wieder nachvollziehen, wer was weshalb macht und so weiter. 

A.B.: Beim Hollywood Reporter stand als  Bottom Line “The best 162-minute German comedy you’ll ever see.“ Das bringt mich auf zwei Sachen. Der Satz ist nämlich ganz witzig, weil er diese Betonung auf die 162 Minuten legt und es natürlich kaum eine andere 162minütige deutsche Komödie gibt. Es bringt uns aber auch noch mal auf diese Rolle von Deutschland. Nämlich in der internationalen Wahrnehmung. Patrick hat ja auch über deutschen Humor geschrieben. Und in der Gruppe, in der wir nach dem Film standen, gab es zum Beispiel Bezüge zu Filmen wie Männerpension oder so Til Schweiger/Katja Riemann-Klassiker der 90er Jahre, die in Deutschland ja eine große Aufmerksamkeit genossen haben. Zum einen wie „deutsch“ ist der Film? Und wie sehr wird der Film als „deutscher“ Film wahrgenommen?

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K.M.: Das „Nationale“ ist für mich und meine Forschungen ein wichtiges Thema und das wird ja gerade immer spannender auch im gröberen Kontext der Nationalisierung, Re-Nationalisierung, der nationalen Aufladung von Gesellschaft. Das erste, was mir aufgefallen ist, ist aus einer Kritik, die ich gelesen habe in einer französischen Zeitung. Der Artikel kritisiert, dass Ken Loach gewonnen hat und damit wieder die „Altherrenideologie“ und nicht der Film, der genau diese kritisiert (also Toni Erdmann).

P.H.: Ich denke aber schon, dass der Ken Loach Film auch Kapitalismus kritisiert? Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber gehe schon schwer davon aus.

K.M.: Es war nur interessant, das zu lesen. Da wurden auch Verbindungen zum bevorstehenden Brexit gezogen und so weiter. Das ist nur die Meinung dieser Kritik. Ich finde den Film sehr deutsch.

A.B.: Ja, das würde mich eben genauer interessieren. Ich kann das nämlich nachvollziehen. Ich habe ihn ja in Österreich im Kino gesehen und habe sehr viel Gelächter wahrgenommen. Darüber könnte man vielleicht auch noch mal reden, diese Frage des Gelächters und die Tatsache, dass Maren Ade schon betont, dass es sich nicht um eine Komödie handeln würde. Etwas, bei dem ich sie sehr gut verstehen kann, weil die depressiven Momente haben bei mir funktioniert, die lustigen haben bei mir praktisch gar nicht funktioniert. Und ich bin zwar kein Deutscher, aber ich bin in Deutschland sozialisiert worden und ich habe mir die ganze Zeit gedacht: Meine Fresse, der Film ist deutsch. Aber woher kommt das?

K.M.: Deutschland ist für mich spürbar im Sexismus…

A.B.: Das musst du jetzt etwas genauer erklären?

K.M.: Also ich meine in einer bestimmten Form. In Österreich ist ebendieser so ostentativ, da muss man gar nicht darüber reden. In Deutschland funktioniert das besser vor allem vor dem Hintergrund von Leuten wie Til Schweiger oder diesen Fick-Komödien. Vor diesem Hintergrund ist der Film natürlich auf eine Art begrüßenswert, weil die Mehrzahl der Komödien, und das betrifft nicht nur Deutschland, die in letzter Zeit vor allem aus Europa ins Kino kommen, sind entweder Fick-Komödien oder „Multikulti“-Komödien. Da ist Toni Erdmann natürlich ein Fortschritt. Aus „österreichischer“ Wahrnehmung ist das „Deutsche“ daran vielleicht diese bestimmte Verklemmung. Eine „österreichische“ Variante davon wäre dann vielleicht das, was ich schon gesagt habe…also viel mehr Furzkissen, viel mehr Gaga-Humor, mehr Fremdschämen und es ist auch nicht immer ganz stimmig mit Simonischek. Man merkt, dass er da sehr eingedeutscht wirkt. Improvisiert wären da andere Formen von Humor rausgekommen wahrscheinlich. Ich will jetzt „dem Deutschen“ nicht den Humor absprechen. Manche Szenen funktionieren da auch ganz wunderbar. Und sind vielleicht gerade in ihrer „Trockenheit“ dem Lachen sehr förderlich.

P.H.: Ich finde schon, dass der Film an Stellen geht, zum Beispiel bei der Party, an die normal deutsche Komödien gar nicht rangehen, also so Over-the-Top Momente…die gibt es schon, aber dann sehr billig, in dem was du „Fick-Komödien“ nennst. Da finde ich geht Toni Erdmann schon einen Schritt weiter und zwar auf intelligente Art und Weise. Aber was mich an der Verklemmung interessiert, Katharina, das habe ich nicht ganz verstanden. Sagst du, dass die Verklemmung in der Filmemacherin liegt oder in dem, was sie thematisiert?

K.M.: Ich glaube weder in der Filmemacherin, noch zwangsläufig in dem, was sie intentional thematisiert und schon gar nicht in der Art und Weise. Sondern die Verklemmung ist eine identifizierbare Thematik des Films. Ob sie intendiert ist oder nicht, sei dahin gestellt.

A.B.: Also du würdest sagen die Verklemmung der weiblichen Hauptfigur, also da kann man ja schon von einer Verklemmung sprechen…eine Figur, die sehr steif in diesen Arbeitsprozessen ist und natürlich gleichzeitig so eine Professionalität hält, die sich aber zum Beispiel auf ihrer Geburtstagsparty kaum entspannen kann… du würdest sagen, das erinnert an so eine Art „deutsche“ Professionalität auch?

K.M.: Möglich, ja. Sagen wir, es ist eine Konvention davon. Mein Arbeitsumfeld ist voll von „deutscher Professionalität“ und ich schließe mich dem zum Teil gerne an. Mir fehlt, wie gesagt, dass Toni auch nackt auf die Party kommt. An was mich die Partyszene übrigens erinnert hat, ist Max, mon amour von Nagisa Oshima. Da spielt ja Charlotte Rampling die Gattin eines britischen Botschafters in Paris und betrügt ihn mit einem Affen. Ich finde ja, dass Sandra Hüller und Charlotte Rampling sich da schauspielerisch auf einem gleich hohen Niveau bewegen. Das ist für mich ein ganz ähnlicher Film. Und auch ästhetisch für Oshima-Verhältnisse total konventionell. Ich glaube je absurder du etwas machen willst, desto mehr muss sich die Mise-en-Scène zurücknehmen.

P.H.: Naja…also wenn ich mir Porumboiu-Filme oder Hong Sang-soo-Filme ansehe…das ist Absurdität und es ist formal. Also da ist schon ein Unterschied.

A.B.: Ja, da gibt es aber schon Unterschiede zwischen den Ansätzen. Ein Film, den ich formal gar nicht so extravagant finde und der mich stellenweise auch an Toni Erdmann erinnert, ist Le charme discret de la bourgeoisie von Luis Buñuel. Oder auch andere Filme von ihm, bei denen man formal keine großen Spielereien hat und die Absurdität und das Groteske genau daraus entsteht, dass du eigentlich ein ganz normales bürgerliches Abendessen in einer ganz normalen konventionellen Art und Weise der Inszenierung beobachtest und sich da plötzlich Verschiebungen auftun, mit denen du mal klarkommen musst.

P.H.: Also ich finde ihr macht es euch da zu einfach. Form heißt doch nicht automatische Extravaganz. Also Buñuel achtet in diesem Film doch unglaublich auf die Kadrierung, auf Symmetrien, auf das Zusammenspiel von Kostüm und Szenenbild. Und in Toni Erdmann sind all diese Dinge für mich einer Idee von Realismus untergeordnet. Da habe ich gar nicht das Gefühl, dass da eine Filmemacherin arbeitet, die mir diese Absurdität auch in der Form wiedergeben will, wie das bei Buñuel eben schon passiert, sondern bei Maren Ade kommt die Absurdität rein inhaltlich. Bei Buñuel liegt die Absurdität auch in der Kamera.Es geht mir auch nicht darum, hier einen Formalismus zu fordern. Ich finde es ja okay, dass Toni Erdmann das zurückschraubt. Alles was ich sage ist, dass der Film das was er versucht, also diese Absurdität und dieses Gegeneinanderstellen von Dingen mir mit einer Absurdität in der Kamera stärker hätte vermitteln können. Wie Katharina fordert, dass er inhaltlich manchmal hätte weiter gehen sollen, so habe ich da formal einfach sehr wenig gesehen. Ich glaube, es ist sehr ähnlich, was uns da fehlt.

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K.M.: Ich glaube, dass die Zuschauer_innenfreundlichkeit des Films sich trotz der Länge eben auch in dieser Formlosigkeit bekräftigt. Und das hängt auch damit zusammen, dass der Film eigentlich unerträglich ist, in dem was er zeigt. Weil das ist furchtbar, das ist zum permanent Wegschauen. Ich finde, dass das eine sehr intelligente Annäherung an das Wesen des Kapitalismus ist und eine formal extravagante oder auch nur subtil feine formalistische Herangehensweise könnte da meines Erachtens auch ein Fehler sein.

A.B.: Also ich finde der Film hat eine nicht unerhebliche politische Dimension, da geht es um Generationen, da geht es um Lebensmodelle, aber da geht es auch um Verhältnisse zwischen dem Westen Europas und dem Osten Europas, also Dinge, die heute sehr relevant sind. Gleichzeitig aber sagt Katharina, dass der Film mit dem Hinterfragen des Lebens der Ines-Figur etwas anspricht, was uns sehr gut reingeht. Mit „uns“ meine ich jetzt die Kulturschaffenden, die Kritiker und so weiter. Und wenn man das weiter denkt, dann finde ich es unheimlich spannend, dass Maren Ade sagt, dass es eigentlich nicht als Komödie gedacht war, sondern als ein Film mit Traurigkeit und Frustration. Und diese Momente haben bei mir ehrlich gesagt auch funktioniert. Zum Beispiel wenn der Vater vor Augen geführt bekommt, was seine Tochter tatsächlich für ein Leben führt. Sei es das Koksen nach einem Besuch im Nachtclub, das nicht mehr vom Handy Weggehen oder das schlechte Behandeln von Hotelpersonal. Diese Szenen tragen für mich tatsächlich eine Tragik in sich.

K.M.: Da spricht jetzt aber ein sehr alter Mann aus dir!

A.B.: Da spricht kein alter Mann aus mir, da spricht ein Bewusstsein dafür,, dass das Verständnis zwischen den Generationen oder die Wahrheit darüber, inwiefern wir eigentlich wissen wie „die Jungen“ und wie „die Alten leben“, dass es da eine erhebliche Diskrepanz gibt. Auf der einen Seite gibt es ein Familienfest und dort gibt es diesen Moment: „Mensch, du bist so erfolgreich, du kommst überall rum…“ Aber in dem Moment, in dem man das Leben dann tatsächlich sieht, stellt man dann fest, dass es eine Fassade ist. Und Fassaden sind natürlich Themen des Films. Jetzt kam mir das Lachen im Kino teilweise hysterisch oder forciert vor, weil vielleicht die tragischen und drückenden Elemente des Films Leute adressieren, die genau wissen, von was da eigentlich gesprochen wird. Das Lachen ist dann eine Verteidigung, ein Abtun.

K.M: Deshalb fand ich die sehr schöne Whitney Houston-Szene zum Beispiel in keiner Sekunde lustig. Die war in einer Weise gewaltig.

A.B.: Die hat zum Beispiel bei mir nicht funktioniert. Da hatte ich wirklich das Gefühl, dass ich jetzt ein Klischee sehe. Das kenne ich aus so vielen amerikanischen „Indie“-Filmen (also jene, die tatsächlich schon so gelabelt produziert werden), dass ein Popsong schlecht gesungen wird, aber dann die Tiefe des Popsongs mir  eigentlich etwas über die Gesamtsituation sagt.

P.H.: Das war doch auch ein Spiegel zu Alle Anderen, oder? Da gibt es doch diese Grönemeyer-Szene. Das empfinde ich schon als Maren Ade Kniff. Hat auch mit Entblößung zu tun.

K.M.: Für mich ist das eine Nötigung einfach. Sie beugt sich dieser Nötigung. Und das macht es ziemlich schmerzhaft.

A.B.: Was meinst du damit?

K.M.: Sie beugt sich seiner Nötigung, dort zu singen.

P.H.: Aber warum singt sie denn dann mit dieser Inbrunst? Irgendwann geht sie aus sich heraus. Sie schreit ja das Lied. Das ist dann ja auch eine Art von Befreiung.

K.M.: Ja, schon. Aber eben eine Befreiung via Nötigung. Das ist keine Befreiung, das ist eine erzwungene Befreiung und das ist etwas anderes. Das ist das schmerzhafte an der Szene. Sie geht zwar aus sich heraus, aber es ist irreversibel…

P.H.: Aber liegt darin dann vielleicht etwas Deutsches? In dieser erzwungenen Gleichzeitigkeit von Verklemmung und Entblößung?

K.M.: Ja. Das trifft vielleicht auch ein bisschen so eine Reality-TV-Geilheit.

P.H.: Oder auf einem deutlich höherem Niveau, ist das eine Sache, die zum Beispiel Fassbinder ständig gemacht hat. Diese Idee von: Du wirst angeschaut, du entblößt dich, du willst nicht…Fassbinder wird oft nicht als komödiantisch wahrgenommen, aber da gibt es schon Argumente…diese ständige Peinlichkeit. Da könnte etwas Deutsches liegen in dieser Steifheit bei gleichzeitigem Ehrgeiz.

K.M.: Es gibt ja auch Analogien zum Erfolg verschiedenster Fernsehformate. Und da überschreitet der Film diesen bürgerlichen Anspruch dann auch wieder, wobei er sich wohl genau auf der Grenze von dem bewegt, was bürgerlich ist und was bürgerlich sein will. Da hätte ich mir eben gewünscht, dass der Film mehr darüber hinausgeht oder das mehr mit so popkulturellen Dingen, Big Brother Momenten verknüpft und engschaltet. Der Film ist ja auch ganz stark Fernsehen.

A.B.: In der Einfachheit der Konstellation, in den vielen Großaufnahmen…

P.H.: Es ist auch Loriot.

K.M.: Auch Didi Hallervorden und vor allem auch: Helge Schneider!

A.B.: Und Jerry Lewis.

P.H.: Es ist alles…also ich finde da zeigt sich auch immer eine Grenze, wenn man über den nationalen Charakter eines Films spricht. Der Film ist gleichzeitig sehr deutsch und sehr international. Das liegt an den Figuren, die man als europäisch wahrnehmen kann, aber wo Deutschland eben auch ein Aushängeschild momentan ist. Bei einem Franzosen in diesem Milieu wäre das wohl recht ähnlich.

K.M.: Das ist das Wesen des Internationalen. Es kommt ohne das Nationale nicht aus.

P.H.: Also an was mich der Film erinnert hat, auf einem höheren Niveau..also der Film ist für mich eigentlich eine Fortsetzung von Up in the Air von Jason Reitman. Da würde mich mal Katharinas feministische Perspektive dazu interessieren…

K.M.: Ich weiß nicht, ob ich eine feministische Perspektive habe. Da würde ich mir diesen Film wahrscheinlich gar nicht anschauen.

P.H.: Das könnte jetzt ein Satz aus Toni Erdmann sein…auf jeden Fall finde ich, dass die Figur von George Clooney in Up in the Air in stark vereinfachter, artgerecht zubereiteter Form natürlich ganz ähnliche Konflikte durchmacht wie Sandra Hüller hier. Da werden auch ganz ähnliche Welten gegeneinander gestellt. Auch wenn Clooney natürlich nie so körperlich ist und immerzu seine Souveränität halten muss.

K.M.: Moment mal, wo verliert sie ihre Souveränität?

P.H.: Zum Beispiel wenn sie ihr Kleid nicht aufbekommt.

K.M.: Gehört das zur Souveränität, ob man sein Kleid aufbekommt?

A.B.: Nein, aber wenn du eine souveräne Figur in einem Film zeigst, zeigst du keine minutenlange Szene, in der sie ihr Kleid nicht aufbekommt.

K.M.: Das ist schon spannend, wenn das jetzt das Kriterium ist…

A.B.: Es ist nicht das Kriterium, es ist ein Beispiel. Jemand, der sich den Nagel entfernt und dadurch Blut auf die Bluse vor einer wichtigen Präsentation spritzt und so weiter. Es gibt schon sehr viele Momente, die das sagen und ein zentrales Thema im Film sind ja Masken. Und der Film artikuliert ja immer wieder, dass Masken Masken sind. Und wenn einsame, neo-liberale Karrieremenschen alleine sind, dann haben sie niemanden, der ihnen das Kleid aufmacht.

K.M.: Ja, aber das hat ja nichts mit der Souveränität zu tun, die sie ausstrahlen muss. Die Souveränität liegt ja im Nicht-Zubekommen. Genau darin, dass sie diese Schale nicht mehr zubekommt. Das ist für mich souverän. Es ist ja nur in dieser kapitalistischen Bildökonomie nicht souverän.

P.H.: Ich finde sie erst souverän, als sie sich entscheidet, das dann ganz zu lassen mit dem Kleid.

K.M.: Nein, ich finde schon das Nicht-Zurechtkommen souverän.

P.H.: Das verstehe ich nicht. Das ist natürlich eine Definitionsfrage von „souverän“. Aber sie hat doch keine Ruhe, in dieser Szene. Da ist ja Panik. Es gibt immer wieder Momente, in denen sie in Panik verfällt. Zum Beispiel als sie morgens zu spät aufwacht, weil ihr Vater sie nicht geweckt hat, da ist sie in Alarmzustand.

A.B.: Also ich würde das auch so sehen. Der Moment, in dem sie in irgendeiner Form souverän damit umgeht, dass sie Teil eines Systems ist, das sie nicht glücklich macht, ist dann der finale Moment der Nacktparty, wenn sie sagt: „Scheiß drauf“, wir feiern heute nackt und wer nicht mitmachen will, kann gehen. Das ist für mich eine souveräne Handlung. Aber davor wird sie oft demontiert. Der Film zeigt eine ganze Weile lang, dass ihre vermeintliche Souveränität in der Arbeitswelt ein Fake ist. Sie hat bestimmte Aufgaben und sie scheitert eigentlich permanent daran, diese Aufgaben in einer adäquaten Form zu erfüllen.

P.H.: Es gibt ja auch dieses Businessgespräch am Abend, wo sie was „Falsches“ sagt. Das ist ja auch das, was mich so ein bisschen stört. Ich sehe beständig durch sie hindurch. Ich sehe keine Sekunde diese Fassade. Das ist oft durchschaubar und langweilig. Bei der männlichen Figur sagt der Film: Schaut euch die Traurigkeit unter dem Witz an. Und bei ihr: Schaut euch die Überforderung unter dem Karriere-Drive an. Da frage ich mich schon, ob das wirklich eine komplexe Charakterzeichnung ist.  Für was wird der Vater so lange eingeführt? Interessiert mich die alte Frau, die stirbt? Interessieren mich die Nebenfiguren?

A.B.: Die Mutter stirbt nur für ihn. Um ihn zu zeichnen, um seinem Handeln einen Motor zu geben.

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K.M.: Ja, das sind so Szenen, bei denen es mehr gebraucht hätte für mich. So geht das irgendwie in Richtung Fernsehen. Rosamunde Pilcher oder sowas.

A.B.: Ihre Figur wird ja auch schon telefonierend eingeführt. Erst diese kurze Begegnung und Distanz im Wohnzimmer, dann hinter dem Haus telefonierend.  Und das sind so Sachen, auch im Sinn eines Realismus, da stimmt einfach das Timing nicht. Wie sie da das Telefon in die Hand nimmt und so tut als würde sie telefonieren: Das ist nicht nur für ihn offensichtlich, das ist für uns, das ist für die ganze Welt sichtbar. Sie wird von Anfang an als eine Fakerin etabliert, die eine Oberfläche versucht zu repräsentieren, die sie gar nicht repräsentieren kann. Sie ist auch gegenüber dem Zuseher nie wirklich souverän in ihrem Unternehmerberatungsdasein.

K.M.: Aber das ist dann ja vielleicht das, was so „gut tut“. Das meinte ich mit Carpe Diem für einen bestimmten, nicht selten vorhandenen Typus von Arbeitsmensch. Das ist ja die Einladung gewissermaßen. Es ist total angenehm, auch sie scheitern zu sehen genauso wie ihn. Das stellt die eigene „Souveränität“ in Frage. Der Film lädt einen ja ein zu denken, dass es sowieso nicht so schlimm ist, wenn man Fehler macht. Zumindest nicht, wenn sie von einer „Frau“ gemacht werden. Das ist so die Tragik dieses Films.

P.H.: Das klingt für mich nach einer American Psycho-Logik. Jemand kann sich alles erlauben, aber am Schluss hat ihm keiner zugesehen? Und in dem Fall, weil es eine Frau ist…

K.M.: Genau, nicht „Jemand“, sondern eine „Frau“. Weil ihre Souveränität eben nichts zählt in diesem Umfeld.

P.H.: So nimmst du dann auch so eine Szene wahr, in der ihr Kollege nach der Präsentation  zu ihr sagt: „Du bist ein Tier.“? Da haben wir als Zuseher ja eher eine andere Wahrnehmung von ihr, oder? Also sagt er das zu ihr deiner Meinung nach, weil sie eine Frau ist?

K.M.: You‘re fuckable, heißt das für mich. Oder: You have to be fucked. Das schlimme für mich ist, dass es in diesem auf Konsequenzen (Erfolg) angelegten Dasein keine Konsequenzen gibt bei all dem was passiert. Und das hat schon damit zu tun, dass sie eh nur „die Frau“ ist, dass es eh nur wichtig ist, dass sie mit der Gattin da shoppen geht. Sie wird dort gar nicht ernst genommen, kann also alles machen. Und auch die Nacktparty wird ihr nicht zum Nachteil. Das perpetuiert den Kapitalismus. Souveränität perpetuiert den Kapitalismus. Und damit meine ich auch die Souveränität in der vermeintlichen „Unfähigkeit“ (etwa das Kleid abzustreifen). Man kann auch souverän eingeklemmt sein.

P.H.: Für mich hat das sehr wenig damit zu tun, dass sie eine Frau ist.

K.M.: Ja, das sagst du jetzt von deinem Bildungsgrad als elitärer, kritischer Mensch.

A.B.: Ich glaube der umgekehrte Ansatz, also der aufstrebende Unternehmensberater-Junge mit 27 Jahren und die Mutter macht sich dann auf den Weg, um ihm zu zeigen, dass er vom rechten Weg abgekommen ist, zeigt ihm, was  das Leben eigentlich ist, nämlich eine Gemütlichkeit, ein schönes Leben in einem kleinen Häuschen, das man sich in den Wirtschaftshochzeiten Deutschlands hingebaut hatließe sich mit einer Männerfigur als neoliberale Arbeitsmaschine in dieser Art und Weise nicht durchziehen. Tatsächlich sind doch alle Interventionen des Vaters in ihr Leben und nicht in das System. In dem Moment, in dem eine Frau diese Kritik an ihrem Sohn üben würde, wäre es eine Kritik am ganzen System. So ist es immer eine Kritik an: Wie führst du denn dein Leben? Und der Film impliziert das, was Katharina sagt, also man lässt das der Frau durchgehen, weil ihre eigentliche Rolle ist dann doch mit der reichen Geschäftsfrau einkaufen zu gehen, gut auszusehen, all diese Dinge.

K.M.: Ja und das ist für mich dann auch das Objekt der Kritik des Films.

P.H.: Es gibt aber ja noch diese männliche Figur, mit der sie diesen Nicht-Sex hat. Sie behandelt ihn ja ziemlich krass. Verständlicherweise. Aber es gibt auch diese Szene bevor sie sich allein im Hotel treffen. Da fahren sie im Auto und er fragt, ob er beim Vortrag dabei sein darf und sie sagt recht klipp und klar nein. Die Sexszene ist ja dann so ein erster Ausbruch von ihr, aus dem was man sonst so tut. Da wird sie schon kurz zu Toni Erdmann…nur krasser.

K.M.: Für mich sind sowieso beide Figuren Toni Erdmann.

P.H.: Ja, genau. Sie heißt ja dann auch Schnuck. Aber zurück zu diesem schmierigen Typen da…der steht irgendwie für mich schon dafür, dass hier nicht so eindeutige Mann-Frau-Gegensätze aufgezeichnet werden. So auch diese rumänische Helferin von ihr. Da sind einfach so kapitalistische Auswüchse. Ich würde euch da schon ein wenig widersprechen, dass der Film nur in dieser Konstellation funktioniert. Klar, ein Film funktioniert immer nur so wie er ist.

A.B.: Aber auch vor dem Hintergrund des Films, den Ade davor gemacht hat, da geht es ja tatsächlich um ein Mann-Frau-Verhältnis in der Konstellation eines Paares. Was ich in dem Gespräch interessant finde: Wir waren uns ja irgendwie einig, dass allzu viele Ambivalenzen nicht vorhanden sind, sondern dass das eher eine schwarz-weiß Konstellation ist, die dann durchexerziert wird. Wenn wir jetzt aber über einzelne Momente reden, sind die Wahrnehmungen dann doch sehr, sehr unterschiedlich.

Toni Erdmann Premiere - 69th Cannes Film Festival

K.M.: Der Film ist hochambivalent, nämlich über bzw. durch dieses permanente Inszenieren von schwarz und weiß.

A.B.: Also eine Szene, bei dem es jetzt beim Sprechen bei mir noch mal Klick gemacht hat ist diese Szene, in der sie dann singen muss. Diese Szene habe ich ganz anders wahrgenommen. Ich habe da gesehen, klar, dass der Vater das initiiert, dass er das so dahin steuert mit dem ganzen Besuch und sie halt etwas widerwillig mitmacht…aber eigentlich waren da für mich Vater und Tochter wieder eins und sie ersingt da in diesem vermeintlich trivialen Popsong die Tiefe der komplexen Emotionen. Katharinas Lesart scheint mir aber jetzt doch treffender. Es ist eine Nötigung. Da sind man dann doch wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind, weil im Kino hatte ich auch das Gefühl, dass es überall Rührung gab.

K.M.: Mir sind auch Tränen gekommen. Aber nicht aus Rührung, sondern weil es extrem schmerzhaft ist. Also mit dem Zehennagel ist das eine andere Form von Schmerz. Ein zunächst physischer Schmerz und beim Singen ist es ein psychischer Schmerz. Das ist brutal diese Nötigung dann von einer Frau zu einer Kind-Frau. Das ist heftig. Das ist ja unabhängig davon, dass sie dann tatsächlich aus sich herausgeht in dieser Situation.

P.H.: Ich habe das Gefühl, dass wenn man über den Film spricht, dann spürt man sehr viele Ambivalenzen, man spürt Bitterkeit, Härte und Schmerz, aber ich habe in dem Film auch so etwas süßliches, wie wir gesagt haben tröstliches gespürt. Also gerade im vergleich zu Alle Anderen, den können manche ja gar nicht ansehen, weil er so wehtut, habe ich bei dem Film das Gefühl, dass er mich immer so ein bisschen umarmt. Also ich verstehe, was Katharina da sagt, empfinde den Film aber als deutlich wärmer.

K.M.: Ja, wir reden aber auch über einzelne Momente. Das sind arge Momente, aber das wird dann eben zu diesem versöhnlichen Film am Ende. Deshalb sage ich ja Carpe Diem. Dazu braucht es beide Seiten und genau in der Ambivalenz. Ich meine das in einem epochenromantischen Sinn. Ich finde auch, man geht raus und ist jetzt nicht schwer belastet.

P.H.: Vielleicht gibt es da einfach zwei Arten von Ambivalenz, die wir unterscheiden müssen. Einmal die Ambivalenz in der Figurenzeichnung…die fehlt uns vielleicht ein bisschen hier, aber es gibt eben auch eine Ambivalenz trotzdem etablieren kann genau zwischen diesen Figuren. Bestimmte Einfachheiten werden gegeneinander gesetzt und daraus entsteht eine Ambivalenz. Da liegt zumindest für mich auch ein Problem mit diesem Realismus des Films. Denn er behauptet ja, dass er eine echte Welt erzählt, aber dann müssten doch die Figuren viel ambivalenter sein. Aber dann, wenn man über den Film als ganzes nachdenkt, weil Film halt auch mehr ist als Realismus, dann hält er das. Aber das ist nicht immer besonders gut gelöst. Also einmal dieses Einführen der Figuren, diese Szenen und Dialoge, die nur dafür da sind, damit mir erklärt wird, wer diese Figuren sind und so weiter. Und das widerspricht sich so ein bisschen mit dem Realismusstreben des Films. Jetzt kann man wie Katharina sagen, dass es diesen Widerspruch braucht, um zu dieser Absurdität und Ambivalenz zu gelangen. Man kann aber auch sagen, dass dieser Widerspruch, ich überspitze das bewusst, ein wenig eine Anbiederung ist und nicht konsequent.

A.B.: Was mir ein entscheidender Punkt zu sein scheint, weshalb wir auch diese Diskussion geführt haben: Das ist ein zutiefst politischer Film. Und das Gespräch hier hat mich ein bisschen versöhnt mit dem Film, weil ich da wahrnehme, dass das alles viel komplexer ist als meine eigene Wahrnehmung des Filmes und die Wahrnehmung der Stimmung im Kino. Aber ich frage mich: Warum schreibt fast niemand über diese politischen Ebenen? Wenn ich das lese, lese ich von Ambivalenzen, das wird sehr offen gelassen, Ambivalenzen hier und dort. Und von einem großen Humanismus. Aber er wird gar nicht als politisches Statement begriffen. Und da stellt sich dann vielleicht die Frage, ob das vielleicht etwas mit Anbiederung zu tun hat. Aber die Politik spielt für mich eine sehr, sehr kleine Rolle in der Diskursivierung des Films.

K.M.: Das sagt aber viel über die Gesellschaft, in der er landet aus.

A.B.: Ja, das sagt mehr über die Leute aus, die Kritiken schreiben, ohne dass man da verallgemeinern könnte, als über den Film.

K.M.: Da gibt es dieses Zitat von Haneke. Der sagt, dass man Menschen sehr viel zumuten kann, aber was die Gesellschaft nach wie vor nicht verträgt, das sind Ambivalenzen. Ich denke, dass da auch viel verloren geht im Potenzial einer solchen Kritik, wenn man diesem Reflex folgt, sich da auf die Ambivalenzen zu stürzen. Weil das genau das ist, was man offenbar gemeinhin am wenigsten verarbeiten kann. Und ich verstehe, was Patrick meint mit diesem Explikativen. Aber für mich war das im Film auch so ein Ausstellen dieses Explikativen. Also auch in dieser Schlussszene, wenn er so pathetisch und konventionell daherredet.

P.H.: Genau da verstehe ich eben, warum du Dir den Film  extremer wünschst, so dass dieses Ausstellen noch mehr betrieben wird. Du willst da eben mehr, wogegen ich will, dass der Film noch realistischer ist. Aber klar, diese Unentschiedenheit zeichnet den Film auch aus und es ist immer schwer sich einen anderen Film vorzustellen. Aber so ein Wunsch nach etwas anderem entsteht ja nicht einfach so.

K.M.: Ich bin auf jeden Fall noch nie mit Leuten zusammengekommen wegen eines Films, um aufzunehmen, was wir darüber denken. Also das spricht für den Film.

P.H.: Oder die Reaktion auf diesen Film löst das auf. Ich habe noch nie eine derart breite Zuneigung für einen Film gesehen. Der Film trifft ja nicht nur einen Zeitnerv, sondern auch etwas, was sich Filmzuseher wünschen. Da wird Kritik eigentlich ausgehebelt. Für mich ist das eine Armutserklärung, wenn lange Zeit nur Lob zu hören ist, man aber beim Lesen nie ganz versteht, woher dieses Lob eigentlich kommt.

K.M.: Als Amour von Haneke in Cannes gewonnen hat, habe ich mir die Zeit genommen nationenübergreifend die Presse zu lesen und da hat sich auch so eine Überwältigung breitgemacht. Da war auch unglaublich viel Inhaltslosigkeit in der Bezugnahme. Da war der Film halt plötzlich ein „Euthanasie-Drama“. Ich glaube, dass das auch damit zusammenhängt, dass man da ein Bemühen erkennen kann, bestimmte Filme eben auf ein Podium zu stellen, einen Film zum Palmenfavoriten zu machen. Kritiker schaffen das eben auch durch enorme Schwärmerei. Das hat auch mit dieser Ermächtigungssituation zu tun. Ein Festival und gerade Cannes liefert eben den Kontext, wo es noch mal diese alte Macht gibt, einen Film zu positionieren und Filmemacher mit zu erheben. Insofern finde ich diese Lobeshymnen vertretbar. Gerade auch wenn man den politischen Kontext mit dem „Altherrenkino“ mitdenkt. Klar, das hängt nicht nur damit zusammen, dass ihn eine Frau gemacht hat, das ist schon stark vereinfachend und auch wenn er uns nicht vom Hocker gerissen hat, so ist er doch die beste 162-minütige deutsche Komödie.

Turin Horses: La Mort du Louis XIV von Albert Serra

Albert Serras Obsessionen mit dem Tod erklimmen in seinem La Mort du Louis XIV den friedlichen, elegischen Gipfel einer Banalität. Statt wie in seinem hypnotisch herumschweifenden Història de la meva mort zwischen Leben und Tod, Verführung und Mord zu schweben, saugt er hier einfach das Leben aus seiner Figur. Es gibt kein Aufbegehren, kein Drama nur die schleichende Erschlaffung eines Unberührbaren. Zum ersten Mal handelt es sich für Serra dabei um eine Figur, die zwar nicht frei von Fiktionen ist, deren Leben wir aber nicht primär aus der (fiktionalen) Literatur kennen: Der Sonnenkönig Frankreichs, Louis XIV, Vertreter des höfischen Absolutismus, eine historische Figur. Was ihn mit den Heiligen Drei Königen, Don Quixote, Casanova oder Dracula eint, ist seine ikonische Wahrnehmung. Serra macht sich erneut auf, diese zu brechen, wenn auch deutlich behutsamer als in seinen vorherigen Filmen. In der Rolle des Königs sehen wir Jean-Pierre Léaud, dessen Filmkarriere als rennendes Kind begann, das Milch in einem Zug aus Flaschen leerte und der hier an sein Bett gefesselt kaum einen Bissen von seinen Silberlöffeln hinunter bekommt. Es konnte nicht anders kommen mit Serra: La Mort du Louis XIV ist auch ein Film über Jean-Pierre Léaud und damit das Kino. Genauso unberührbar und magisch wie der König. Ein langsamer Fade, der bereits in der Dunkelheit beginnt. Der Film fesselt sich mit Léaud in ein fensterloses Zimmer ohne Ausweg.

Zwischen Tod und Leben arbeitet bei Serra oft die Unschuld als ästhetisches und inhaltliches Element. Im Fall von Léaud/Louis XIV bekommt die Unschuld fast automatisch den Drive einer Kindlichkeit. Im Gegenüber mit dem durch Wundbrand verursachten körperlichen Zerfall entfaltet sich so jene Absurdität, die bei Serra immer auch als Angriff gemeint ist. Hier ist es ein Angriff auf die höfische Etikette, auf die Infantilisierung des absoluten Herrschers, die einhergeht mit einer Handlungsohnmacht von Bediensteten, Ärzten und sonstigen Wunderheilern. Verknappt und zu kurz gegriffen könnte man sagen: Auf die Albernheit von Despoten. In den Gesichtern und Gesten von König und Dienstpersonal erkennt man die wunderhübsch aufgetragenen Masken einer Unfähigkeit man selbst zu sein, zu handeln. Dadurch entsteht das merkwürdige Gefühl einer unsichtbaren Krankheit, einer eingebildeten Krankheit, nicht umsonst wird Molière erwähnt, als es um den Beruf der Ärzte geht. Man denkt ein wenig an Cristi Puius Anti-Hymne auf Hypochondrie: Moartea domnului Lăzărescu. Jedoch ist der Humor von Puiu eine Panik und jener von Serra ein Ersticken.

Louis XiV

Immer wieder konzentriert sich Serra auf die leichten Verformungen in den Gesichtern, die durch eine gewisse Anstrengung und Stumpfheit verursacht werden. Wer hier steht und mit dem fiebrigen König fiebert, steht hier selten aus eigenem Antrieb und doch entstehen wahrhaftige Gefühle über das Schicksal des beliebten Herrschers. Schließlich ist La Mort du Louis XIV auch ein Film über das Ende eines Systems und einer Weltordnung. Nicht nur in der gewohnten Betonung von zeitlichen Abläufen bei Serra, dem Fokus auf existenzielle Handlungen wie das Essen, der Reduzierung auf mehr oder weniger eine Location, sondern auch in dieser inhaltlichen Komponente ähnelt der Film Béla Tarrs A Torinói ló. Es sind Filme über einen Sonnenuntergang, eine Sonnenfinsternis. Dieser dahinsiechende, bewegungsloser Körper ist der letzte Glanz des Königreichs. Man versucht so lange es geht zu verstecken, dass er stirbt. Allerdings gibt es eine Szene, in der Louis XIV seinem Sohn und späteren Nachfolger einige Ratschläge gibt für eine friedlichere Welt. Die Wüste von Tarr hat hier ein Licht, das etwas vereinfacht oder ironisch scheint, da Louis XIV den Weg, den sein Urgroßvater für ihn vorsah nicht annähernd gehen konnte. Vielmehr warteten die ersten Schritte in Richtung der Französischen Revolution.

Im Kern dreht sich der Film um die Gelehrten, die nach Lösungen für eine mögliche Heilung suchen und daran scheitern, dass sie zum einen keine Handlungsfreiheit haben und zum anderen medizinische Sicherheiten fehlen. Es gibt einen Konkurrenzkampf, den Druck einer Verantwortung und eine enorme Ratlosigkeit. Als Vicenç Altaió, der den Casanova in Història de la meva mort spielte, als Mystiker und Wunderheiler erscheint, erkennt man auch einen Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft. Pikant dabei ist natürlich, dass der Herrscher, um dessen Leben es geht, durch Gottes Gnade bestimmt wurde. In dieser Hinsicht ist der der Film ein gut recherchiertes Zeitportrait mit philosophischen Untertönen. Quellen hierfür sind die Memoiren des Duc Saint-Simon und jene des Marquis de Dangeau. Manchmal forciert Serra diesen Konflikt etwas zu sehr. Man wundert sich, dass er die Ärzte nicht öfter beim Schlafen zeigt, denn sie sind bislang im Filmschaffen von Serra die pflichtbewusstesten und am wenigsten abgelenkten Figuren. Anders formuliert: Anhand von ihnen formuliert Serra eine Idee, die über das Vorführen dessen hinausgeht, was der Idee entgleitet. Man denke nur an El cant dels ocells und das Bad im Meer. Nein, die Geradlinigkeit von La mort du Louis XIV ist etwas anderes, auch wenn der Film in seiner Betonung eines Bazin-Realismus im Gegensatz zu Historia de la meva mort wieder mehr an Honor de cavalleria erinnert. Statt Dazwischenheit sucht Serra hier Banalität. Dabei bleibt er einer der wenigen Filmemacher, die so viel Respekt vor Ikonographie haben, dass die Frage, was man von einem König zeigen darf (sein leiden, seinen verfaulten Fuß etc.) für ihn tatsächlich und auf großartige Weise entscheidend ist, obwohl sie es in der echten Welt bedenklicherweise schon lange nicht mehr ist. Serra, der nach einem Setbesuch bei Sokurovs Moloch auch einen sehr spannenden Text über die Darstellung Hitlers geschrieben hat, erinnert uns an die Macht von Bildern. Statt den einfachen Weg der Bloßstellung zu gehen, balanciert Serra aber auch hier zwischen der Würde seiner Figur und seines Darstellers und dessen Körperlichkeit sowie Banalität. Vielleicht liegt es daran, dass der Einsatz von Mozarts Großer Messe in C-moll etwas unpassend wirkt und kaum die Wirkung der entfernten Trommeln im Film oder etwa dem Einsatz der Musik von Pau Casals in El cant dels ocells erreicht.

la-mort-de-louis-xiv

Man darf nicht vergessen, dass Serra sehr bewusst mit dem Kunstmarkt spielt. Er ist ein Filmemacher, der keineswegs versteckt, dass es immer auch ein wenig um seine Rolle als Künstler geht. Verschiedene Motive, das Spiel mit den Erwartungen, die Arbeit an einem Gesamtprojekt, das alles gehört dazu. Um so erstaunlicher, dass er sich hier so sehr zurücknehmen kann und doch auch ein wenig einen Liebesbrief an Jean-Pierre Léaud schreibt und für die Ewigkeit dessen alternden Körper archiviert. Ein wenig verbündet sich der Film gar mit dem Starren von Léaud, aus dessen Augenwinkeln immer wieder das kurze Feuer einer Anerkennung, Arroganz oder Hilfesuche aufflammt. Léaud scheint gegen jede Dekonstruktion immun zu sein. Der Film ist ein klares Bekenntnis zur Unfuckability des großen Schauspielers, dessen Blicke immer auch uns gelten. In einer Szene verlangt er nach einem Hut nur um einige Damen, deren Gesellschaft er ausgeschlagen hat zu grüßen. In einer solchen Szene finden sich Serra und Léaud. Hier die Albernheit, Unangemessenheit dieser Szene, dort der Charme, das Augenzwinkern, die Größe dieser Szene. Am Ende ist es schlicht die Präsenz des Schauspielers in einer höfischen Welt der Repräsentation. Was bleibt in diesem Film ist die Präsenz, was stirbt ist die Repräsentation.

 

LA MORT DE LOUIS XIV by Albert Serra (Teaser) from Andergraun Films on Vimeo.

Sumpf – Politik – Sumpf: La isla mínima von Alberto Rodríguez

La isla mínima von Alberto Rodríguez

Ein fiktiver Serienmörder entführt Ende der 70er Jahr für Jahr in einem spanischen Provinzkaff sechzehnjährige Schulmädchen tötet sie brutal und entsorgt sie in den umliegenden Sümpfen. Zu dem Zeitpunkt als die beiden Kommissare Pedro Suárez und Juan Robles am Ort des Verbrechens eintreffen ist ihnen dieser Umstand noch nicht bekannt: Einzig der Verbleib zweier jugendlicher Mädchen ist ungewiss, eine Gewalttat wird vermutet, das volle Ausmaß des Verbrechens erschließt sich erst mit Fortdauer des Films.

Raúl Arévalo in La isla mínima

Bereits die ersten Einstellungen von La isla mínima etablieren ein Leitmotiv: Luftaufnahmen zeigen grünliche Sumpfgebiete inmitten einer braunen Steppe. Hier spielt sich ein Kampf zwischen den Mächten des Wassers (des Lebens) und den unwirtlichen Mächten der staubigen Erde (des Todes) ab. Der Spätsommer ist heiß in Südspanien, die Polizeitruppen ähneln in ihrer Adjustierung den legendären Wüstentruppen der Fremdenlegion. Diese sumpfige, unfreundliche Gegend, die die Protagonisten ins Schwitzen bringt, ist aber durch das Zusammenspiel von warmen Klima und ausreichend Feuchtigkeit höchst fruchtbar. Das kostbare Wasser sorgt für ertragreiche Böden, Spätsommer ist Erntezeit und kulturhistorisch bedingt ist das die Zeit der Dorffestivitäten – im Schatten dieser Feierlichkeiten verschwinden alljährlich die Mädchen. Zugleich werden an diesen Tagen die wirtschaftlichen Bedingungen in der Region gnadenlos aufgedeckt. Während Erntehelfer zu Hungerlöhnen schuften versucht die Jugend das Dorf zu verlassen: eine Frau erzählt von ihren Kindern, die die Arbeitssuche über ganz Europa verteilt hat. Dieser Wunsch wegzukommen aus dem ländlichen Gebiet ohne Zukunftsperspektive führt die beiden Polizisten schließlich auch auf die Spur des Täters – das Phantasma Málaga mit seinen luxuriösen Bettenburgen dient ihm als Lockmittel.

Die Puzzleteile setzen sich freilich nur langsam zusammen und der Film schreitet nicht so linear voran, wie man es von vergleichbaren Krimis kennt. Zwar nimmt La isla mínima Anleihen bei anderen Vertretern des Genres – an vielen Stellen erinnert der Film in seinen Bildmotiven sogar sehr stark an ähnliche Filme, die in den amerikanischen Südstaaten spielen –, doch zeichnet sich der Film durch den Versuch aus unterkomplexe Linearität durch Doppelungsmuster zu ersetzen, wie sie bereits in der eingangs erwähnten doppelten Natur der landschaftlichen Gegebenheiten verankert sind. Zunächst ist da das ungleiche Ermittlerpaar des aufstrebenden Pedro Suárez, der eine große Karriere in Madrid vor sich hat und des kranken Juan Robles, der einst unter dem franquistischen Regime seine Hochzeit erlebte. Die Beiden stehen in weiterer Folge für den Konflikt zwischen dem noch neuen demokratischen System und der Militärdiktatur, die noch immer allgegenwärtig ist. Der Geist Francos sucht den Film wiederholt heim: in Form von Graffitis, in Form von alt eingeübten Verhaltensmustern, in Form von etablierten Machtstrukturen, die nur schwer aufgebrochen werden können. Zu diesen Machtstrukturen gehören auch die Geschlechterverhältnisse, denn Männer sind hier die Akteure und Frauen die Opfer. Nicht zuletzt ist diese Schilderung der politischen Zustände im Jahr 1980 auch eine Allegorie auf die Gegenwart, die lokalen Probleme des Dorfes können haben sich seither auf das ganze Land ausgebreitet: Landflucht, Arbeitslosigkeit, Generationskonflikte, politische Unzufriedenheit.

La isla mínima von Alberto Rodríguez

Aus diesen sehr starren Gegenüberstellungen gilt es auszubrechen. Die Rolle des beweglichen Elements, das für agency sorgt, übernimmt Raúl Arévalos Pedro Suárez. Auf Jugend ohne Film legen wir bekanntlich nicht viel Wert auf Kategorien thespischer Schauspielkunst (die für gewöhnlich mit Preisen von diversen Akademien bedacht werden), aber wir schätzen Qualitäten von Körperlichkeit und Ikonizität. Arévalo zeigt eine solche von uns favorisierte Präsenz. Er wandelt zwischen Sumpf und Staub, zwischen Zivilisation und Ödnis, vermittelt zwischen den dominanten aber ablehnenden Männern, und den in Unsichtbarkeit leidenden Frauen. Arévalos Suárez steht für ein demokratisches Spanien, das sich aus den Trümmern der Franco-Diktatur erhebt, aber zugleich von diesen Trümmern am Vorwärtskommen gehindert wird.

Schließlich, und das ist sehr passend, lösen die beiden Kommissare das Kriminalrätsel im strömenden Regen. Das lebensgebende Nass triumphiert über den staubigen Tod, hält aber seinerseits Gefahren bereit (die Straßen werden rutschig, das Auto stürzt beinahe in den Graben). Der Sumpf, wo der Mörder die Mädchen zerstückelt entsorgte wird zu dessen eigenem Grab und das alles ist nur möglich, weil sich die Ermittler arrangieren und der franquistische Robles Suárez letztendlich den Rücken freihält. Die Trümmer werden beiseite geräumt, und es wird, trotz fahlen Nachgeschmacks ein Kompromiss erzielt: La isla mínima löst seine Konflikte in einer mehrschichtigen, symbolischen Synthese auf – es bleibt die Hoffnung sich zu arrangieren, im Jahr 1980 wie heute.

Mehr als Kirschblüten und rote Bohnen: An von Naomi Kawase

An von Naomi Kawase

Die ersten Momente in Naomi Kawases An sind der nüchternen Beschreibung der Lebenswelt Sentaros gewidmet. Er ist Geschäftsführer einer Imbissbude, wo er dorayaki verkauft, das sind eine Art Pfannkuchen, die mit an, einer süßen Paste aus roten Bohnen gefüllt sind. Morgens raucht er eine Zigarette, macht sich auf den Weg zu seinem kleinen Laden, schließt dort auf und bereitet den Teig für die dorayaki zu. Wortkarg verrichtet er seine Arbeit und scheint nicht wirklich für gastronomische Dienstleistungen geschaffen zu sein. Sein Leben wirkt streng umgrenzt, er wirkt isoliert und seine Augen vermitteln den Eindruck einer Ziellosigkeit, die aber zunächst nicht weiter thematisiert wird. Dann betritt die Rentnerin Tokue die Bühne, sprich die kleine Imbissbude, und bewirbt sich als Aushilfe in Sentaros Laden. Als „Bewerbungsschreiben“ bringt sie eine umwerfend gute Bohnenpaste mit. Sentaro stellt die recht gebrechliche Seniorin tatsächlich ein und der Verkaufserfolg gibt ihm zunächst Recht. Es soll im weiteren Verlauf aber nicht die namensgebende Bohnenpaste sein, die für die Entwicklung des Films sorgt, sondern Tokues verkrüppelte Hände.

An von Naomi Kawase

Dazu ein Exkurs: Lepra (oder auch Morbus Hansen) ist eine Infektionskrankheit, die durch Bakterien übertragen wird. Unbehandelt führt die Krankheit zu einem Absterben der Nerven (vor allem in den Extremitäten und im Gesicht) und zur Verstopfung der Gefäße durch Verdickung des Bluts. Die Betroffenen verlieren ihr Schmerzempfinden und verletzen sich in weiterer Folge häufig unbemerkt. Wenn diese Wunden sich infizieren, kann es zu durch Entzündungen zu einem Absterben der Gliedmaßen oder einzelner Gesichtsteile kommen. Aufgrund dieser Komplikationen nahm man lange Zeit an, dass die Krankheit selbst das Abfallen von Extremitäten zur Folge hat. Bei glimpflichem Krankheitsverlauf beginnen sich Geschwüre zu bilden, die Knochen, Sehnen und Muskeln zersetzen können und zur Verformung der Gliedmaßen führen. Leprakranke waren in der Geschichte wiederholt starker Verfolgung und Isolierung ausgesetzt und mussten meist in Quarantäne, in sogenannten Leprakolonien dahinsiechen. Mit der Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsmethoden verbesserte sich im 20. Jahrhundert zumindest in der westlichen Welt ihre Lage und die Krankheit gilt heute als heilbar. Trotz dieses Fortschritts wurden Leprakranke in Japan noch bis 1996 in geschlossenen Heilanstalten untergebracht und von der restlichen Gesellschaft isoliert. Sie durften keine Kinder bekommen und nicht mit der Außenwelt verkehren. Tokue war eine von ihnen und hat rund vierzig Jahre ihres Lebens in vollkommener Isolation verbracht. Trotz der Abschaffung der diskriminierenden Gesetze vor gut zwanzig Jahren steht es um die verbliebenen Leprakranken und deren Rolle in der japanischen Gesellschaft nicht zum Besten. Die Aufhebung der juridischen Ausschlussmechanismen hat nicht zu einem Ende sozialer Ausgrenzung geführt. Die Erkrankten leben auch heute noch in halbversteckten Pflegeanstalten und bleiben weitestgehend unter sich. Wie sich im Laufe des Films herausstellen soll ist Tokue nicht die einzige, die unter Ausschlussmechanismen zu leiden hat. Auch Sentaro und die junge Wakana, Stammgast in Sentaros dorayaki-Laden und seine einzige Bezugsperson, die als dritte im Bunde das Ensemble komplett macht, sind auf ihre Weise isoliert und unfrei. Es sind drei Generationen, die allesamt von einer gewissen Tendenz der japanischen Gesellschaft betroffen sind, höchst komplexe, historisch gewachsene und kulturell determinierte Ausgrenzungspraktiken hervorzubringen. Am Beispiel Tokues wird das am deutlichsten, ihr Leidensweg wird am explizitesten dargestellt, bei Sentaro und vor allem bei Wakana bleibt jedoch vieles unausgesprochen. Wissen wir von Sentaro wenigstens, dass er in der Vergangenheit einen Mann zum Invaliden geschlagen hat und die finanziellen Folgen ihn in eine Art Lohnknechtschaft geführt haben, indem er den Besitzern der dorayaki-Bude seine Schulden abstottern muss, sind es im Fall Wakanas nur Andeutungen, Gesten, Wortfetzen, Blicke. Sie scheint von ihrer Mutter vernachlässigt zu werden, in bescheidenen Verhältnissen zu leben und nur wenig soziale Kontakte zu pflegen. Es ist die Kombination aus sozialer Kälte und finanzieller Verhältnisse, die ihr Leben fremdbestimmen und sie isolieren.

An von Naomi Kawase

In den Händen minderer Filmemacher wäre An wohl zu einem Themenfilm verkommen, der diese Missstände anprangert und diese drei Außenseiter als große Opfer gesellschaftlicher Fehlentwicklungen darstellt. Kawase hingegen ist weder daran interessiert „Freaks“ auszustellen, noch eine explizite politische Botschaft auszusprechen. Ihr Film ist purer Humanismus. Sie nähert sich diesen drei Menschen nicht über den Weg ihres Außenseitertums, sondern lässt sie für die erste Hälfte des Films in einer Art Kammerspiel und ohne große dramaturgische oder narrative Kniffe interagieren. Ihr Tagesablauf, ihre Bewegungen, ihre Gespräche unterscheiden sich nicht von denen der breiten Masse. Eingestreut, pastorale Naturaufnahmen im Stile eines Terrence Malick, die die Analogie verstärken, dass der Mensch ganz einfach, und in erster Linie, ein Naturgeschöpf ist – und als solche Naturgeschöpfe treten auch die drei Hauptfiguren in An auf. Kawase nähert sich ihnen ohne Vorurteile und ohne ihre Vergangenheit zu sehr in den Mittelpunkt zu rücken. Das geschieht nicht zum Zweck am Ende einen großen Twist einzubauen, sondern aus Respekt vor dem Menschen – aus humanistischer Überzeugung – eine Seltenheit in einer Zeit, in der die Unterhaltungsindustrie ohne mit der Wimper zu zucken tausende Unbeteiligte als Kollateralschäden in explosiven Schlachten zwischen „gut“ und „böse“ dahinmetzelt. Das ist keine unreife, melodramatische Naivität, die sich in Kirschblüten-Kitsch auflöst (auch wenn der Film so beworben wird), sondern eine geradlinige Weltsicht, ohne Zynismus und Politisierung (diese Haltung selbst ist natürlich bereits politisch, aber es findet keine Politisierung im Sinne propagandistischer Agitation statt), dafür mit einer gesunden Dosis Optimismus, die man in der heutigen Welt oft vermisst. Wenn Sentaro am Ende des Films eine Art Katharsis durchmacht, dann ist das nicht ein aufgesetztes Happy-End, sondern logische Folge von Kawases Menschenbild und künstlerischem Ausdruck.