Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

L'Atelier von Laurent Cantet

Viennale 2017: L’Atelier von Laurent Cantet

Die Darden­ne-Brü­der haben den Höhe­punkt ihres Schaf­fens allem Anschein nach bereits hin­ter sich. Ein selt­sa­mer Zeit­punkt also, um einen Text mit einer posi­ti­ven Bemer­kung über die Bel­gi­er zu begin­nen. Es hat sich aber erge­ben, dass ich mit L’Atelier von Lau­rent Can­tet einen Film gese­hen habe, der mich bes­ser begrei­fen hat las­sen, was die Brü­der Darden­ne zu ihren Hoch­zei­ten (und mit Abstri­chen auch noch heu­te) aus­ge­zeich­net hat. Sie ste­hen für die Popu­la­ri­sie­rung eines Film­stils, der „aus dem Leben gegrif­fen“ erscheint. Ihre ein­fluss­rei­che Form der Insze­nie­rung mit Hand­ka­me­ra und extre­mer Nähe zu den Prot­ago­nis­ten ist glei­cher­ma­ßen ein Fluch, denn ihr Stil hat unzäh­li­ge weni­ger talen­tier­te Nach­ah­mer gefun­den. Die Nach­ah­mer (und zum Teil auch die Darden­nes selbst) haben die Form vul­ga­ri­siert, haben die Ästhe­tik der beweg­li­chen, hek­ti­schen, „doku­men­ta­ri­schen“ Kame­ra zweck­ent­frem­det und auf alle mög­li­chen und unmög­li­chen Sze­na­ri­en ange­wen­det. Nähe wird dann oft her­ge­stellt, wo sie eigent­lich gar nicht ist. Eines haben die Darden­nes in ihren bes­ten Fil­men näm­lich beher­zigt: dass der Rea­lis­mus­ein­druck, den sie anstre­ben im Wider­spruch zum Mythos steht. Das soll hei­ßen, der Kon­flikt, der ihre Fil­me antreibt, kann eigent­lich nicht in ihrer Ästhe­tik dar­ge­stellt wer­den, ohne fehl am Platz zu wir­ken. Die „sus­pen­si­on of dis­be­lief“, die dafür not­wen­dig ist, steht von Natur aus im Gegen­satz zu jedem Ver­spre­chen einer authen­ti­schen Beob­ach­tung des Lebens, die der Stil der Darden­nes ver­spricht. Um die­ses Dilem­ma zu lösen, geht der Kon­flikt ihren Fil­men vor­an bezie­hungs­wei­se er steht als Expo­si­ti­on ganz am Anfang: es ist jemand getö­tet, zurück­ge­las­sen oder arbeits­los gewor­den – die Prä­mis­se steht fest bevor die Hand­lung des Films ein­setzt. Was im Film gezeigt wird, sind die Fol­gen und Dyna­mi­ken, die sich aus die­sem Ursprungs­kon­flikt erge­ben – das Gan­ze funk­tio­niert in etwa nach der Struk­tur eines Whodunit.

L’Atelier zählt wie bereits Can­tets Ent­re les murs ohne Zwei­fel zu den Fil­men, die einen an die Fil­me der Darden­ne-Brü­der den­ken lässt – die Hand­ka­me­ra bleibt immer nah an den Figu­ren, regel­mä­ßi­ge doku­men­ta­ri­sche Wack­ler sol­len «Authen­ti­zi­tät» ver­mit­teln. Am Anfang: eine Grup­pe Jugend­li­cher und eine etwa 40-jäh­ri­ge Frau. Sie sam­meln Ideen für einen Roman. Die Jugend­li­chen sind Teil­neh­mer eines Work­shops für Arbeits­su­chen­de, die Frau ist erfolg­rei­che Roman­au­to­rin. Statt den Som­mer über in Aus­hilfs­jobs zu arbei­ten, sol­len die Teil­neh­mer des Work­shops ihre sozia­len Kom­pe­ten­zen und ihre Krea­ti­vi­tät trai­nie­ren. Die Zusam­men­set­zung der Grup­pe scheint einem Leit­fa­den für Diver­si­tät zu fol­gen: da sind unter ande­rem zwei blon­de Jun­gen, ein Schwar­zer, zwei Ara­ber. Selbst für unge­üb­te Ohren, klingt das Fran­zö­sisch der Jugend­li­chen aus dem fran­zö­si­schen Süden deut­lich anders, als der Pari­ser Intel­lek­tu­el­len­sprech der Schrift­stel­le­rin. Der Schau­platz des Films ist La Cio­tat an der fran­zö­si­schen Mit­tel­meer­küs­te (seit den Lumiè­res eine Stadt, die unwei­ger­lich mit der Geschich­te des Kinos ver­bun­den ist). Gekonnt und nicht zu auf­dring­lich stellt Can­tet die ein­zel­nen Figu­ren vor und zeigt uns ihr Ver­hält­nis zuein­an­der. Beson­ders Augen­merk legt er auf Antoine, einen der zwei Work­shop-Teil­neh­mer ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Antoine ver­bringt sei­ne Nach­mit­ta­ge schwim­mend und son­nen­ba­dend am Meer, sei­ne Aben­de vor dem Lap­top, wo er sich Pro­mo­vi­de­os der fran­zö­si­schen Armee und eines rechts­extre­men Dem­ago­gen ansieht, und sei­ne Näch­te mit sei­nem Cou­sin und des­sen Freun­den mit Alko­hol, einer Pis­to­le und Gewalt­fan­ta­sien. Einen Prot­ago­nis­ten wie Antoine sieht man nicht all­zu oft im Kino, zumal er nicht bloß als dum­mer, gewalt­ver­herr­li­chen­der Psy­cho­path dar­ge­stellt wird, son­dern von Can­tet mit Ambi­va­lenz und cha­rak­ter­li­cher Tie­fe bedacht ist. Die ers­ten rund drei­ßig Minu­ten des Films las­sen dar­auf hof­fen, dass auf die­se prä­zi­se und dich­te Figu­ren­be­schrei­bung mehr folgt.

L'Atelier von Laurent Cantet

Doch dann implo­diert der Film und das hat mit dem zu tun, was ich ein­gangs über die Darden­nes geschrie­ben habe. Die vola­ti­le Natur Anto­i­nes und sei­ne kru­den poli­ti­schen Ansich­ten sor­gen für Rei­bun­gen inner­halb der Grup­pe. Dadurch gerät er in Kon­flikt mit den ande­ren Work­shop-Teil­neh­mern und mit der Kurs­lei­te­rin Oli­via. Obwohl sie sei­ne poli­ti­sche Hal­tung ablehnt, fin­det Oli­via Gefal­len an der rohen Ener­gie, die in Antoine steckt und die sich auch in sei­ner Pro­sa äußert – es ent­wi­ckelt sich eine bei­na­he ero­ti­sche Span­nung. Die­se Span­nung sti­li­siert Can­tet zu einem monu­men­ta­len Kon­flikt hoch. Der Film zer­bricht dar­an, die Form, die ver­mit­teln will, dass es sich bei die­sen Figu­ren und ihrer Umwelt, um einen Aus­schnitt aus dem „ech­ten Leben“ han­delt, zer­schellt an der fil­mi­schen Kli­max, als Antoine mit Pis­to­le im Anschlag vor Oli­vi­as Haus erscheint und sie wie in einem mit­tel­mä­ßi­gen B‑Western in die Wild­nis führt. Der Film wirft die fei­ne Psy­cho­lo­gi­sie­rung und Figu­ren­zeich­nung des ers­ten Drit­tels des Films ein­fach über Bord, opfert sie einem Show­down, der in die­sem Film eigent­lich gar kei­nen Platz hat. Es scheint, als ob es die­se Zuspit­zung nur gibt, um die Span­nung zu ent­la­den, um über­haupt zu recht­fer­ti­gen, dass sich im Lau­fe des Films ein dra­ma­ti­scher Kon­flikt abge­zeich­net hat.

L’Atelier steht und fällt mit sei­nem Höhe­punkt. Der Film lässt die müh­sam erar­bei­te­te Tie­fe und Ambi­va­lenz ein­fach zuguns­ten einer Span­nungs­ent­la­dung ver­puf­fen. Das ist sicher­lich nicht das ein­zi­ge Pro­blem des Films – bereits an ande­ren Stel­len folgt die Grup­pen­dy­na­mik eher dra­ma­tur­gi­schen Vor­ga­ben als einer genau­en Beob­ach­tung der Rea­li­tät, wenn sich die Work­shop-Teil­neh­mer, obwohl sie bei­na­he hand­greif­lich wer­den, trotz­dem noch immer artig gegen­sei­tig aus­spre­chen las­sen – die Gesprächs­kul­tur die­ser „Pro­blem­teen­ager“ ist wahr­lich beacht­lich, eben­so ihr unum­stöß­li­ches und strin­gen­tes Arti­ku­lie­ren gefes­tig­ter Welt­bil­der. An die­sen Stel­len spürt man eben­falls schmerz­haft, wie das Dreh­buch die Insze­nie­rung erdrückt – genau das wuss­ten die Darden­nes in ihren bes­ten Fil­men stets zu vermeiden.