Videoveröffentlichung LATER von Helena Wittmann

LATER from Helena Wittmann on Vimeo.

 

HD I stereo I 16:9 I colour I 5′

Quixadá, Brazil. The sun goes down and the darkness reveals its fine layers of light on the last mountain to fall into darkness. The light continues inside it.
Darkness is not only the absence of light in vision. It is clearly audible.

The video was produced as part of THE DARKNESS COLLECTION which was curated by Oskar Alegria and published by Punto de Vista – International Documentary Film Festival of Navarra.

Annie Dillard’s Rain

“At a certain point you say to the woods, to the sea, to the mountains, the world, Now I am ready. Now I will stop and be wholly attentive. You empty yourself and wait, listening. After a time you hear it: there is nothing there. There is nothing but those things only, those created objects, discrete, growing or holding, or swaying, being rained on or raining, held, flooding or ebbing, standing, or spread. You feel the world’s word as a tension, a hum, a single chorused note everywhere the same. This is it: this hum is the silence. Nature does utter a peep—just this one.“

(Annie Dillard, Teaching a Stone to Talk)

“If I walk along a shore towards a ship which has run aground, and the funnel or masts merge into the forest bordering on the sand dune, there will be a moment when these details suddenly become part of the ship, and indissolubly fused with it. As I approached, I did not perceive resemblances or proximities which finally came together to form a continuous picture of the upper part of the ship. I merely felt that the look of the object was on the point of altering, that something was imminent in this tension, as a storm is imminent in storm clouds.“

(Maurice Merleau-Ponty, Phenomenology of Perception)

„I cherish mental images I have of three perfectly happy people. One collects stones. Another—an Englishman, say—watches clouds. The third lives on a coast and collects drops of seawater which he examines microscopically and mounts. But I don’t see what the specialist sees, and so I cut myself off, not only from the total picture, but from the various forms of happiness.“

(Annie Dillard. Pilgrim at Tinker Creek)

“The sun was now low beneath the horizon. Darkness spread rapidly. None of my selves could see anything beyond the tapering light of our headlamps on the hedge. I summoned them together. “Now,” I said, “comes the season of making up our accounts. Now we have got to collect ourselves; we have got to be one self. Nothing is to be seen any more, except one wedge of road and bank which our lights repeat incessantly. We are perfectly provided for. We are warmly wrapped in a rug; we are protected from wind and rain. We are alone. Now is the time of reckoning.“

(Virginia Woolf, Evening Over Sussex: Reflections in a Motor Car)

„Pitching snow filled all the windows, and shapes of dark rock. I had no notion which way was up. Everything was black or gray or white except the fatal crevasses; everything made noise and shook. I felt my face smashed sideways and saw rushing abstractions of snow in the windshield. Patches of cloud obscured the snow fleetingly.“

(Annie Dillard, The Writing Life)

Petrichor

von Patrick Holzapfel

Matsch, Patsch, Gatsch, ich sehe Fußspuren im Schlamm. Die Erde bewegt sich noch, kaum sichtbar, aber da gibt es kleine Bläschen im Dreck, einen Regenwurm in seinem Element; alles tropft wie Honigwachs von langen Kerzen in der Nacht. Im Gras liegen Äste und hoffnungslose Borkenteile. Ein schwarzer Käfer klettert dort. Er hat Schmerzen, hat zu viel Wasser geschluckt. Die Wunden heilen langsam. Entfernt hört man noch ein Donnern, sieht gebrochene Wolken, erkennt ein Donnerlittchen, jemand beruhigt: Es zieht weg, es ist vorbei. Der Hund zittert bis jetzt, kommt nicht aus seinem Versteck. Es rinnt und tröpfelt aus der Regenrinne, die Vater neulich repariert hat. Wie geht es wohl dem Spatz, der dort sein Nest errichtete? Plattgedrückte Ringelblumen strecken sich nach der durch die Wolken drängenden Sonne, der Garten eine Trümmerlandschaft, man sieht es. Die Fliegen schütteln und trösten sich unter den Blättern, aber Vorsicht ist geboten, denn aus den Baumkronen plätschert es beim kleinsten Wind.

Es wird wieder wärmer. Die Nachbarin kann kaum warten bis sie das gefallene Laub vom Trottoir entfernt, erst ganz sachte tritt sie auf die Straße mit ihrer Regenjacke und den Gummistiefeln, als könnte sie ertrinken, dann immer bestimmter weht sie wie das Laub, das sie entfernt, über den Asphalt. Ihr Ziel: Den Regen vergessen. Ich blicke aus dem Fenster. Die Rispen, eine Kraterlandschaft, die Böschungen wie der Flieder, niedergedrückt. Warten auf Erholung. Am Schönsten ist es, wenn man trocknet.

Es ist stiller nach dem Regen. Von den Zweigen melden sich die Vögel, sie verkünden, dass sie überlebt haben. Hier bin ich noch, sagen sie, alles gut, unter den Federn ist es trocken, aber das Fliegen fällt jetzt schwer. Welch Unglück, die Regenwürmer im Pfuhl wären so bekömmlich! Irgendwo tropft es, es ist beinahe als würde die Regendecke schmelzen. Unter ihr hat niemand geschlafen. Das Moos ist ein riesiger grüner Schwamm. In ihm eine Seenlandschaft, ein Morast aus Morcheln und Insekten; wabenartig scheint das Moos die Wiese zu besetzen. Ich sollte nach dem Schimmel sehen.

Bei uns im Keller hat er die ganze Wand bedeckt. Kahmschichten schillern in Grau und Lila, es ist zu feucht. Mir wird etwas mulmig im Keller, alles scheint angefault, als würde der Regen hier im Verborgenen weiterprasseln. Ich frage meinen Vater, er hat den Keller aufgegeben. Was soll man machen, sagt er, bei solchem Regen? Wir setzen uns auf die Terrasse und sehen der Welt zu. Ein Mädchen springt barfuss durch die Pfützen. Sie lacht dabei. Sobald jemand durch Pfützen springt, denke ich immer an meine Großmutter, die zu Pfützen Batschlach sagt. Der Regen malt Laute in kräftigeren Farben als die Sonne oder der stille Schnee.

Meine Füße sinken etwas ein in die Erde, es gibt dieses Geräusch, das klingt als ob man mit Speichel zwischen Vorderzähnen und Oberlippe spielt, erste Schritte, mach nicht wieder deine Hose schmutzig, aber ich muss schauen, ob die Tomaten den Regen gut überstanden haben. Sie mögen ihn nicht. Die Gänse lugen aus dem Stall, ihre Füße sind besser geeignet für dieses Wetter. „Du hast keine Gänsefüße“, hat mein Schwimmlehrer immer gesagt, ich weiß nicht mehr weshalb.

Es riecht anders jetzt. Petrichor, das Blut der Götter. Schwebestoffe sind als Erinnerung an den Regen bei uns geblieben. Modrig wohltuend, ungefiltert aus der Erde steigende Bakterien, die milliardenfach durch die Luft wirbeln. Sie sind das Echo des Regens. Es riecht nach dem, was man vergessen hat. Unter den Fingernägeln hat es auch so gerochen, wenn man als Kind im Regen spielte. Ich atme tief ein. Die Katze am Fenster gegenüber tut es mir gleich.

Wir sollten die Wäsche wieder aufhängen, sagt mein Vater. Ich hänge das Gewand auf, denke mir, dass es doch eigentlich einen Regenbogen geben müsste, aber sehe nichts. Stattdessen höre ich einen leisen Ruf von der Wiese. Es gibt einen dampfenden Nebel in der Luft, ich kann nicht viel erkennen, aber dort ist ein Regenpfeifer. Seine Flügel wie Paddel, er ist aufgeregt: „kiju-wit“, schreit er, „kiju-wit“, „komm mit!“. Als ich mich frage, ob er damit mich meint, sehe ich eine riesige schwarze Wolke, die sich vor die Sonne schiebt. Ich lasse die Kleidung hängen, was soll man schon machen, bei solchem Regen?

Nebel bei Dickens: Raum, Zeit und der bleierne Geist

von Marius Hrdy

Meine erste bildhafte Assoziation ist der epochale Beginn von Bleak House, einem Fortsetzungsroman von Charles Dickens. Dickens führt in die langsam mahlenden Mühlen der Rechtsbürokratie durch den dichten und undurchsichtigen Londoner Nebel um Lincoln’s Inn Hall ein und durchmisst damit gleichzeitig die Topographie sowohl politisch und geographisch: „Fog everywhere. Fog up the river, where it flows among green aits and meadows; fog down the river, where it rolls defiled among the tiers of shipping and the waterside pollutions of a great (and dirty) city….“) Mit bilddeutenden Mitteln beschreibt er die Stadt und düstere Umgebung seines Londons der 1820er und allmählich richtet er die Stimmung vom Ungewissen des Außen auf das klaustrophobische Innen.

Dickens Ausdruck wenn er eine Szene beschreibt ist wie der eines Malers, eine Szenenauflösung wie in einem Gefühl durch die Stadt wandelnd und schließlich bei seinem Protagonisten- der Rechtsinstitution ankommend: „Am rauesten ist der Nachmittag; da ist der Nebel am dicksten, die Straße am schmutzigsten in der Nähe jenes dickschädligen steinernen Hindernisses, das so recht eine passende Zier für die Schwelle der dickschädligen alten Korporation – des »Tempels« – ist.“ Dabei ist das durchaus impressionistisch, an Monet’s Nebelbilder wie Londres, le Parlement. Trouée de soleil dans le brouillard, erinnernd. Der Nebel in seiner schmutzigen Ausformung- der Ruß der wild wuchernden Industrie- werden spürbar in jeder Ritze der Syntax. Dickens erschafft so ein Gefühlsbild der mühsamen Bewegung, des gesellschaftlichen Stillstands. In der Doppelbödigkeit der Rechtssysteme der Courts of Law entgegen der Courts of Equity, eine Art Schiedsgericht/Schlichtungsstelle, liegt eine Zwiedeutung der Natur des britischen Rechtssystem zugrunde, das der ungeschriebenen Verfassung geschuldet ist.

Dazu eine Erklärung: Der Lord Chancellor war pro forma das Gewissen des Königs um durch Rechtsbilligkeit Gerechtigkeit zu erreichen. Die Courts of Chancery waren ein eigenes Rechtssystem, in dem ein durch at law gesprochenes Urteil direkt durch den König in equity gemildert werden konnte, um die Strenge einzelner gerichtlicher Entscheidungen auszugleichen. Dabei ging es meistens um Erbschaften, Eigentumssachen, Schuldenverfahren und Eherecht. Als Anwaltsangestellter in einer Anwaltskammer hatte Dickens täglichen Umgang mit Rechtsangelegenheiten. Aus dieser Erfahrung bezeichnet er in Bleak House die endlos ausgedehnten Verfahren in den Courts of Chancery auch mit der „Länge der Eiszeit“. Dies hatte technische Gründe: Eine Klage vor dem Common Law -Gericht konnte nicht gleichzeitig mit dem der Courts of Chancery laufen, was jahrzehntelange Prozesse mit sich zog, im Schnitt dauerte ein Prozess zwölf Jahre. Mitunter überlebten die Fälle oft ihre eigenen Kläger. Erst 1833 wurden mit den Judicature Acts die beiden Systeme miteinander verbunden (actions in law and equity (1) ).

Dickens beschreibt hier wie lächerlich dieses System ist: Die Prozesse dienen vornehmlich den Bürokraten, um ihre Bedeutung zu behalten, diese in die Länge zu ziehen und sich derweil an den Kosten zu bereichern. Die gesellschaftliche Dimension wird hierbei gänzlich ausgeblendet. Rechtsanwälte nehmen das ganze Geld, Verfahrensteilnehmer werden endlos angehört und Entscheidungen vertagt. Vieles in Bleak House ist Einführung von Charakteren, sinnlose Gespräche und Auftritte von Vertretern, die mit dem Fall Jarndyce vs. Jarndyce irgendwie oder im Entferntesten verstrickt sind, fast schon wie eine Parade von Schaulustigen, die auch dabei sein wollen.

Das alles erlebt man lesend mit wie im Purgatorium, wie ein Gefangener auf dem Fährweg über dem Styx, mit dem Versprechen auf Erlösung, aber in der Mitte des Flusses auf ewig mit den Wellen kämpfend, weil man die Überfahrt ins Totenreich nicht bezahlen kann. Nicht tot, nicht lebendig. Der Nebel ist bei Dickens ein Geisteszustand, die prismenhafte Spiegelungen und Streuungen jeglichen übergebliebenen Lichts reflektieren den emotionalen Haushalt, das drückende Opak unterbricht alle funktionierenden Nervenwege. Die Metapher ist Ausdruck eines Sittenbildes und die Taktilität des Nebels schlägt sich auch im Körperlichen nieder, dessen Metamorphose zu schwarzem Rauch und Ruß durch das Einatmen des Menschen körperlich verinnerlicht werden. Der Mensch und seine Muskeln gewöhnen sich an die Umgebung. So wird der Nebel selbst Teil des Menschen, der jeden Gedanken und jedes eigenständige Bewusstsein lähmt.

Mit dem Nebelbegriff erforscht Dickens die Zonen der Liminalität. Licht und Schatten und das Spiel in deren Übergängen sind omnipräsent, das Umherirren in unbedeutenden Zonen, geschichtslosen Zeiten ist Mainstream. Dickens setzt durch diese Konstruktion die Undurchdringlichkeit des Nebels mit der Undurchdringlichkeit der Gesellschaftsordnung gleich. Legt man diese Stimmung auf die Gegenwart um, blühen parallele Assoziationen: Das Bild der Umbewertung von Wert und Wichtigkeit, der erodierte Respekt vor einer die Gesellschaft ordnenden Autorität, die bewusste Diffusität der herrschenden Klassen um Machtstrukturen zu erhalten. Den Ursprung dieser Diskussion nimmt die Lähmung durch die Austeritätspolitik als Resultat der durch Immobilienschulden getriebenen Weltwirtschaftskrise 2008, die weiterhin eine schlafwandelnde Gesellschaft wie ewig unter dem Einfluss eines Antidepressivums erzeugt. Keine Spitzen mehr, kein American Dream, nur mehr gleichmäßiges Untertanentum. Die Suche nach Erneuerung, in der die Grammatik von Sprache nichts mehr zu beschreiben vermag, da Infragestellung wichtiger ist als Lösungsutopien für eine „bessere“ Welt zu finden, die auf Qualität aufbaut. Die konkreten Vergleiche mit Dickens sind frappant: Die Subsysteme der Rechtssprechung, die Aushöhlung und ad-hoc Reinterpretation der Bedeutung von Recht wie zum Beispiel bei einer präsidentiellen Executive Order in den USA, Kriegsspiele die mit dem roten Tuch des Terrorismus ihre Rechtfertigung finden und so internationales Recht umgehen. Das moderne Menschenbild ist fatalistisch und bipolar. Die Pressefreiheit, die nur mehr als Zier gedacht wird, da das „Essenzielle“ des „Volkes“ wichtiger ist; ja was ist eigentlich das Essenzielle? Schon vergessen.

Darüber stülpt sich eine Glasglocke der Trance und in ihr rundherum schwebt der Nebel des Ungewissen. Eine Linke die sich nur damit beschäftigt, exklusiv zu sein, eine neue Biedermeierei für den Rückzug in das Private, Ballsäle voll, das Silberputzen auf der untergehenden Titanic als Primat sehend. Draussen noch immer Nebel. Die Strategie der Nachahmung leerer Hüllen ohne Bedeutung, das „als ob“ als Ideal. Im häuslichen kann man keine Revolution starten. Demonstrationen werden immer mehr zu choreographierten Theaterstücken, bedienen sich der Bildpolitik des Effekts jedoch ist die Übergabe der Gewaltzonen nicht mehr in einer generellen Öffentlichkeit zu sehen, abgestumpft in die „erlaubten“ Zonen gedrängt, in der nun das Private über allem steht. Individuelle Selbstverwirklichung, die Anbetung des Berühmten als Ausflucht aus der eigenen Depression, die Introspektion zur Maxime erhoben. Ohne der Bereitung von Möglichkeiten einer ganzheitlich gedachten Entwicklung bleibt der Mensch Einzelkind. In der Auflösung der Sicherheiten bedeutet was genau Mensch sein? Die Lokalität, die Nation? Nation ist der Lösungsansatz von Kleinmut. Was macht die Bürgerinnen eigentlich aus, was heisst es in dieser diffusen Welt, Mensch zu sein? Was sehe ich im Dickicht treiben, Lichter stehen im dumpfen Fahl, erhellend gerade nötig um den Atem zu erkennen. Schwer liegt mir die Luft am Herzen, bald sind wir da…der Bug deutet die Richtung. Es wird dunkel, der Geist wiegt Blei…im Wanken wohnt die Ruh.

Als Coda und Denkanstoß Alberto Toscano zum Thema Raum und Widerstand in einem Interview hier: “To try to articulate a critical social and political theory in a period marked by imperialist wars, and mortgage-debt driven financial crises – but also by catastrophic anthropogenic climate change and mass migration – is ultimately impossible without truly attending to spatiality.” (2) Und weiter: “We could also think of the ways in which opacity, secrecy, and the clandestine might also become, in different spaces and times, resources for opposition to abasement and domination”.

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Originaltext aus: Charles Dickens, Bleak House, Kapitel 1.

Fog everywhere. Fog up the river, where it flows among green aits and meadows; fog down the river, where it rolls deified among the tiers of shipping and the waterside pollutions of a great (and dirty) city. Fog on the Essex marshes, fog on the Kentish heights. Fog creeping into the cabooses of collier-brigs; fog lying out on the yards and hovering in the rigging of great ships; fog drooping on the gunwales of barges and small boats. Fog in the eyes and throats of ancient Greenwich pensioners, wheezing by the firesides of their wards; fog in the stem and bowl of the afternoon pipe of the wrathful skipper, down in his close cabin; fog cruelly pinching the toes and fingers of his shivering little ‘prentice boy on deck. Chance people on the bridges peeping over the parapets into a nether sky of fog, with fog all round them, as if they were up in a balloon and hanging in the misty clouds.
Gas looming through the fog in diverse places in the streets, much as the sun may, from the spongey fields, be seen to loom by husbandman and ploughboy. Most of the shops lighted two hours before their time — as the gas seems to know, for it has a haggard and unwilling look.
The raw afternoon is rawest, and the dense fog is densest, and the muddy streets are muddiest near that leaden-headed old obstruction, appropriate ornament for the threshold of a leaden-headed old corporation, Temple Bar. And hard by Temple Bar, in Lincoln’s Inn Hall, at the very heart of the fog, sits the Lord High Chancellor in his High Court of Chancery.

(1) Charles Dickens: Bleak House. Edited with an introduction and notes by Stephen Gill. Oxford University Press. May 2008. (Ersterscheinung in 20 Fortsetzungen: März 1852- September 1853)

(2) Stephen Connolly, Matthew Gibson, Patrick Brian Smith: Visualising Spatial Injustice Q&A (Part One: Alberto Toscano). In: Mediapolis, A Journal of Cities and Culture. July 2018

Windeseile

von Helena Wittmann

Eins.
Es ist sehr warm, es ist heiß. Mag sein, dass die Wolken von oben langsam zu drücken beginnen. Trotzdem scheint es mir unwahrscheinlich, dass es regnen wird. Der Boden ist trocken, rote Erde, roter Staub. Es gibt Pflanzen, aber die scheinen nicht viel Wasser zu brauchen. Wir sind an einem besonderen Ort, es war ein weiter Weg hierher. Die Brüder, die hier in der Nähe leben, als Einzige, drängen zur Eile. Wenn uns der Regen zuvorkommt, dann wird der Weg zum reißenden Schlammstrom. Dann kommen wir mit den Motorrädern nicht mehr zurück zum Haus.

Dort steht das Auto. Ich mache Filmaufnahmen und bin längst nicht fertig. Das macht mich zu derjenigen, die die verbleibende Zeitspanne so weit wie möglich auszudehnen versucht. Ein Ruf der Brüder, der Tonfall freundlich aber bestimmt, und alle springen auf die geliehenen Motorräder und dann über die Löcher und Felsen im Weg. Ich sitze hinten und vermutlich lache ich, weil es Spass macht. Es macht Spass, weil das Unterfangen nicht die volle Sicherheit verspricht, auf diesem alten Motorrad, auf diesem staubig holprigen Weg, in Eile und mit Respekt vor unerhörten Wassermassen, die sich nun auch für mich spürbar ankündigen. Die Motorräder sind laut. Doch um uns, über uns und unter uns ist es ruhig. Noch ruhiger als es ohne den gewohnten Menschenlärm ohnehin schon wäre. Nun scheint auch all das andere Leben verstummt zu sein. Der Wind verbirgt sich im Kostüm der Ruhe und entzieht sich unseren Sinnen. In dieser Stille feuchter, fester Luft schneiden die Maschinen scharfe Risse. Dazu unser Lachen, zwei warme Körper auf einem Dings aus Stahl und Öl.

Springen wir auf unsere Füße und laufen zum Haus, weil die ersten Tropfen bereits fallen? Oder bleibt uns noch Zeit, die zwanzig Meter in Ruhe zu durchschreiten? Sicher ist, dass uns die Frau des älteren Bruders auf der Veranda erwartet. Uns bleibt noch etwas Zeit. Wir nehmen Platz, es gibt Kaffee und selbstgemachten Käse. Wir schauen erwartungsvoll in die Landschaft.

Die ersten Blätter zittern, dann breitet sich der Wind aus. Es dauert nicht lange, da fegt er bereits irre durch die Landschaft. Die Bäume legen sich vor ihm auf die Seite, die Wasseroberflächen kräuseln sich, das Eisentor schwingt auf und zu und singt und wir sitzen auf der Veranda und schauen aufgeregt und ich staune nur, wie alles in Windeseile seine Erscheinung verändert. Und plötzlich umgibt uns ein lautes Rauschen und der Regen ist so dicht, dass der Hintergrund im Weiß verschwindet, es gibt jetzt nur noch Vordergrund und da ist keine Lücke, da scheint keine Luft mehr zu sein, da ist nur Wasser, das vom Himmel stürzt.

Zwei.
Es ist lange her. Und es wird das einzige Mal sein, dass ich mich ernsthaft in Wintersport versuche. An diesem Tag ist es sehr still. Ich bin allein und nehme den Lift nicht allzu weit nach oben. Je höher es geht, desto dichter der Nebel, desto stiller wird es. Das Klackern des Liftes, wenn er über die Träger gezogen wird, ist überdurchschnittlich laut. Aber das Geräusch hallt nicht in den Raum, es bleibt, wo es entstanden ist. Ein trockener Klang im matten Weiß. Weiß unten und Weiß überall. Ein kleiner Sprung in den knirschenden Schnee, dann auf das Brett, dann hinab. Ich höre meinen Atem und das Brett auf dem Schnee. Aber ich erinnere mich nun nicht mehr, wie das klingt. Ich erinnere, wie sich der Raum auflöst, denn ich bin dicht umgeben vom Weiß. Die Bewegung spüre ich nicht, keine Geschwindigkeit, keinerlei räumliche Anhaltspunkte. (Man sitzt im Zug und denkt, dass er langsam anfährt, um den Bahnhof zu verlassen. Und dann stellt man fest, dass es der Zug auf dem Nebengleis ist, der schließlich aus dem Blickfeld verschwindet und die Bewegungslosigkeit des eigenen Zuges offenbart. Umgekehrt.) Ich fliege? Durch eine dichte träge Wolke. Oder stehe ich doch still? Ich wundere mich, wie wenig eindeutig sich die Bewegung auf meinen Körper überträgt. Und kann es wirklich sein, dass ich hier ganz allein bin? Dass keine Geräusche zu mir durchdringen? Es passiert etwas mit dem Zeitgefühl, es löst sich auf, es kondensiert in den Nebel, es wird träges, leichtes, feuchtes Weiß, es hatte mit meinem Körper zu tun und nun nicht mehr.

Drei.
Wir sitzen zu dritt in einem Auto und folgen einem anderen über eine Landstraße in Norddeutschland. Es ist dieser heiße, trockene Sommer. Man sorgt sich. Aber heute kündigt sich eine Veränderung an. Mehrmals versuchen wir, die Wetter-App zu öffnen. Keine Internetverbindung, dann klingelt mein Telefon. Meine Mutter fragt, ob wir die Unwetterwarnung mitbekommen hätten und sagt, dass wir unter keinen Umständen nach draußen gehen sollten. Während ich noch darüber staune, wie passend ihr Anruf ist, schaue ich aus dem Fenster. Der Himmel hat sich giftig grün, ätzend gelb verfärbt und in nicht so großen Abständen wird es sekundenlang gleißend hell. Die Blitze zucken durch das drohende Gelbgrün. (Ich erinnere gerade ein andermal. Da liegen wir in einem Zelt am einsamen Ostseestrand und schauen aus der Öffnung. Es regnet in Strömen und wenn die Blitze in das Meer einschlagen, kann man für den Bruchteil einer Sekunde bis auf den Grund schauen. Das Wasser wird dann türkis.) Am Telefon erzähle ich meiner Mutter davon und sie besteht darauf, dass wir auf keinen Fall aussteigen sollten. Aber habe ich nicht meine Kamera im Kofferraum? Sind wir nicht im Rahmen eines Filmdrehs unterwegs? Unter dem Protest meiner Mutter lege ich auf und bitte den Fahrer aufgeregt, so schnell wie möglich anzuhalten. Irgendwann erreichen wir die Einfahrt zu einem Supermarktparkplatz. F und ich springen aus dem Wagen, bauen die Kamera auf und eigentlich schon währenddessen geht es los. Es wird dunkel, der Himmel bleigrau schwer, Leute rennen zu ihren Autos, manche mit Regenschirmen. Doch der Regen, er beginnt so plötzlich und so mächtig, begleitet von einem Sturm. Da klappen die Schirme um, der Parkplatz ist im Handumdrehen zu einem See geworden, die Lichter der Autos strahlen in das bedrohliche Tagesgrau, der Regen peitscht von allen Seiten, die Welt geht unter, ganz sicher. F und ich lachen, klitschnass, F stemmt den Schirm gegen den Wind, hält das Stativ mit ihrem ganzen leichte Körper, um die Kamera zu schützen.

Vier.
Wir sind achtzehn Jahre alt und fahren auf einer italienischen Autobahn in die Alpen hinein. Hinter uns liegt Venedig, hinter uns liegt der Sommer. Das Auto ist dunkelgrün und verglichen mit den heutigen Modellen ist es relativ klein. Damals kommt es uns groß vor. Die Straße schneidet gerade durch die Landschaft. Dann landen die ersten großen Tropfen auf der Windschutzscheibe und treiben im Fahrtwind auseinander. J stellt den Scheibenwischer auf die niedrigste Stufe, in einen langsamen Rhythmus. Es werden mehr Tropfen, die nächsthöhere Stufe wird eingestellt, noch mehr Tropfen, und dickere, der Scheibenwischer schlägt nun hektisch von rechts nach links und zurück, an den Seiten fließt das Wasser hinunter und über die Karosserie, vom Wind getrieben. Die Sicht verschwimmt, die Fahrbahn spiegelt die Lichter der Autos, die nun immer langsamer werden. Irgendwann sind wir eingeschlossen vom dichten Regen, ausgeschlossen von der näheren Umgebung. Es ist nichts mehr zu sehen. Wir werden langsamer, und langsam langsamer, immer langsamer auf der Autobahn, bis zum Stillstand. Nichts geschieht, kein anderes Auto fährt uns von hinten an, niemand fährt an uns vorbei, aber der Regen! Er donnert auf das Blechdach, trommelt auf die Scheiben, mit aller Wucht auf uns ein.

Eins.
Und uns bleibt nichts zu sagen. Im Stillen fragen wir uns, ob das wohl jemals wieder aufhören wird.
Zwei.
Ich atme ein, aus. Ohne Furcht.
Drei.
Dreißig Sekunden halten wir das aus. Dann wird es zu viel und wir rennen zurück ins Auto. Die aus dem anderen Auto rufen an und halten uns für ein bisschen verrückt.
Vier.
Und dann werden es weniger Tropfen, wird es nicht leise, aber leiser, können wir wieder weiter blicken und die anderen Autos sehen. Alle stehen sie still, in größeren Abständen, und es dauert noch einen Moment, bevor sich der Strom ganz vorsichtig wieder in Bewegung setzt und der Verkehr dann weiter fließt. Und schnell fließt er ganz normal, als wäre nichts geschehen.