Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Kunst und Propaganda: Ein Gespräch mit Sergei Loznitsa

Sergei Loznitsa

Sergei Loznitsa – geboren in Weißrussland, aufgewachsen in der Ukraine, wohnhaft in Deutschland – ist einer der intelligentesten lebenden Filmemacher. Seine Intelligenz äußert sich in einem ausgeprägten Bewusstsein für Form, historische Zusammenhänge, und wie das eine dem anderen Ausdruck verleihen kann. Sein aktuellster Film Sobytie (The Event, 2015) fertigt aus faszinierendem Archivmaterial ein komplexes Traktat über den Moskauer Augustputsch 1991. Das folgende Interview wurde noch vor dessen Veröffentlichung geführt – am 25. April 2015 im Zuge eines Loznitsa-Tributes des Crossing-Europe-Filmfestivals in Linz.

Sergei Loznitsa: Woher kommen Sie?

Andrey Arnold: Ursprünglich aus Russland, aber meine Eltern sind ausgewandert, als ich vier Jahre alt war – um Arbeit zu finden, zuerst nach Amerika, kurz darauf nach Österreich.

Das war die richtige Entscheidung, soviel kann ich Ihnen gleich sagen (lacht).

Damals gab es kaum Alternativen für jemanden, der wie mein Vater ausgebildeter Physiker war.

Daran hat sich nicht viel geändert. Es gibt zwar Arbeit, aber kaum Möglichkeiten sich zu verwirklichen. Maximal als Theoretiker, wie Grigori Perelman – ihm ist es egal, wo er lebt, ob in der Schweiz oder in Russland.

Das bringt mich zu meiner ersten Frage: Sie haben als Wissenschaftler angefangen. Wann haben Sie sich entschieden, Filmemacher zu werden, hatten Sie schon immer Interesse am Kino? Wie hat sich diese Leidenschaft entwickelt?

Mein ursprüngliches Kinointeresse entsprach wohl dem der meisten Menschen. Als Kind und als Schüler ging ich oft ins Kino, damals war es mir aber nicht besonders ernst damit. Weil meine Eltern beide Mathematiker sind, habe ich dieselbe Richtung eingeschlagen. Das Lernen fiel mir immer leicht, ich musste nie viel Zeit dafür aufwenden. Mein Interesse galt eher den Kinderspielen draußen im Hof (lacht).

Haben sie Fußball gespielt?

Nein, ich habe lieber gezündelt, Feuer gemacht (lacht). Ich war fasziniert vom Verwandlungsprozess, wie etwas zu etwas anderem wird – das physikalische Phänomen der Transformation von Materie in Energie (lacht). Etwas daran hat mich angezogen, der Abglanz des Feuers.

Auf eine gewisse Weise ist das ja bereits Kino.

Jedenfalls gibt es darin schon das rudimentäre Moment einer Illusion, die sich auf der Netzhaut abzeichnet. Den ersten starken Kinoeindruck hinterließ bei mir Ettore Scolas Film Le bal, der als Echo des Moskauer Filmfestivals in Kiew landete. Ein geniales Werk – komplett ohne Dialog, drei Stunden lang, nur Musik. Die Zeit vergeht in einem Tanzsaal. Man erkennt die jeweilige Ära an den wechselnden Kostümen und Tänzen. Es kommen immer die gleichen Leute, wir sehen den Lauf des Lebens, der Geschichte, Krieg und Frieden, der Saal wird zur Metapher. Die Konzeption, Inszenierung und Wirkung haben mich überwältigt. Davor hielt ich es eher mit Filmen wie Robinson jr., Zorro und dergleichen (lacht). Der zweite Markstein meiner filmischen Sozialisation war 8 ½. Danach habe ich begriffen, dass Kino eine seriöse Angelegenheit sein kann – nicht nur als Kunst, sondern als Nachforschung, als philosophischer und existentieller Text. Später kam es, dass ich in Kiew am Institut für Kybernetik beschäftigt war, in der Abteilung für künstliche Intelligenz. Dort ging es um Expertensysteme, logische und deklarative Programmiersprachen…

Sehr abstrakte Problemstellungen.

Mathematik ist prinzipiell abstrakt. In der ersten Mathematikstunde wird einem erklärt, das es 0, 1, 2, 3 und 4 gibt. Absurd! Dass diese Dinge eigentlich nonexistent sind, verrät keiner. Denn dann würde man fragen: Wenn es das nicht gibt, warum brauche ich es dann? Wie soll man auch einem Kind erläutern, dass es sich hier nur um ein Modell handelt. Dabei ist das das Wichtigste – wozu ist das gut, wie sieht die praktische Anwendung aus? Wissen sie, wer die Null erfunden hat? Indische Philosophen, irgendwann im 3. Jahrhundert vor Christus. Einsiedler, die sich mit Fünfzig in ihre Klause im Wald verzogen haben (lacht)! Diese Erfindung der Null ist eine kolossale Idee, eine Sternstunde des menschlichen Denkens, der menschlichen Weltanschauung. Aber wie soll man das Kindern erklären? Am Institut war ich jedenfalls mit ähnlich seltsamen Sachen beschäftigt, allerlei Formalisierungen diverser alltäglicher Vorgänge. In diese Zeit fiel eine beträchtliche Zunahme an verfügbarem Lesematerial. Philosophie gab es schon früher, Platon hat zum Glück niemand verboten – eigentlich kein Wunder, das ist auch eine lange Geschichte (lacht)… In diesem Moment gab es also ein Art Publikationsboom, die sowjetischen Machthaber entschieden sich mir nichts dir nichts – aber eigentlich durchaus bewusst und mit konkreten Absichten – die kulturellen Pforten zu öffnen. Und irgendwann schien es gar nicht mehr so abwegig, sich einer Weltbeschreibung zu widmen, die für andere so zugänglich ist wie das Kino. Scheinbar zugänglich: Man kann in einen Film ja auch Komplexitäten einbetten, aber dem Zuschauer eine Legende zur Entzifferung an die Hand geben. Mein filmisches Interesse hatte sich parallel weiterentwickelt, es gab ein persönliches Bedürfnis nach einer anderen Ausbildung, und die Umstände im Zuge der kurzzeitigen Freiheitseuphorie schienen günstig. Also bewarb ich mich am VGIK [Gerassimow-Institut für Kinematographie, Moskaus legendäre Filmhochschule, Anm. d. Red.], das erste Mal 1990, ohne Erfolg. 1991 wieder ohne Erfolg – diesmal blieb ich allerdings als außerordentlicher Hörer, ich war schon 27 und wollte nicht mehr warten. Zwei Jahre später wurde ich offiziell aufgenommen. Wirklich sicher, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte, war ich mir aber erst nach meinem dritten Film – 10 Jahre nachdem mir der Gedanke, Regisseur zu werden, zum ersten Mal gekommen war.

Life, Autumn von Sergei Loznitsa

Ich habe gelesen, dass sie die Spielfilmklasse belegt haben, aber ihre ersten Filme waren dokumentarisch – wenngleich nicht im klassischen Sinne. Warum haben sie damit begonnen?

Man kann sagen, dass es sich so ergeben hat. Ich war mir nicht wirklich sicher, was ein Spielfilm von mir fordern würde. Mir schien, bevor man sich daran macht, eine eigene Welt zu kreieren, sollte man auf Tuchfühlung gehen mit der Technik, dem Handwerk, dem Phänomen Kino. Sich eine Vorstellung verschaffen von dem, womit man es zu tun hat, von den Mitteln, derer man sich bedienen wird. Wenn man z.B. mit geringen Mengen radioaktiven Materials hantiert, verwendet man spezielle Instrumente und Schutzhandschuhe. Kino ist auch so ein Instrument – man muss erstmal die Hände reinstecken und ein Gefühl dafür bekommen (lacht). Meines Erachtens ist eine der besten Methoden, die Sprache des Kinos zu erlernen, nicht die Konstruktion einer eigenen Welt – dazu kommt man früh genug – sondern die Beschäftigung mit seiner unmittelbaren Umgebung, indem man eine Kamera nimmt, dreht, ausprobiert. Das war mein Eintritt. Wir haben unsere Kamera ans Fenster gestellt und eine Baustelle aufgezeichnet [Segodnya my postroim dom (Today We Are Going to Build a House), 1996, Anm. d. Red.].

Danach haben sie viel am Land gedreht, in der Provinz, in der großen Einöde Russlands. Was hat sie dorthin verschlagen?

Wiederum hat es sich so ergeben. Unser erster Film gewann auf einem Filmfestival in Leipzig den Hauptpreis, wir lernten einen deutschen Produzenten kennen, der mit uns zusammenarbeiten wollte, und bekamen eine Förderung. Ich bin in der Stadt aufgewachsen, und die städtische Umgebung – Häuser, Autos, Asphalt – hat mich weniger interessiert als alles, was jenseits liegt. Es war also Intuition: Mich reizt das, was ich nicht kenne.

Nur mit unschuldigem Blick kann man die Dinge wirklich erschließen.

Genau. Man sieht klar. In der Stadt steht der Text schon, bevor man die Augen aufmacht, man müsste ihn erst streichen. Wir fuhren also in die Smolensk-Region, und der Eindruck – um nicht zu sagen Schock – war enorm. Man hatte das Gefühl, der Krieg sei eben erst zu Ende gegangen. Das Territorium wirkte wie zerbombt, mit etwas Gras drüber. Das gilt nicht zwangsläufig für das gesamte Land, aber die Orte zwischen St. Petersburg und Moskau, die ich inzwischen gut kenne, befinden sich in diesem Zustand. Natürlich gibt es dort auch intakte Häuser, aber wenn man einen Film macht, dann macht man ihn über das, was einem dominant vorkommt, was heraussticht und wesentlich scheint. Die Dominante dieser Orte schien mir genau diese Verwahrlosung zu sein. Weiters hat mich überrascht, dass dort hauptsächlich alte Menschen leben. In unserem zweiten Film Zhizn, osin (Life, Autumn, 1999) ging es in Folge um sterbende Folklore. Diese Generation kennt Lieder, die mit ihnen verschwinden werden. Es geht um das Verschwindende, den Kern dieser Kultur. Kultur trägt alles in sich. Sie war diese ganze Zeit Objekt der Vernichtung, das fing beim Genossen Lenin an und geht heute weiter. Was jetzt in Russland passiert, ist die mehr oder weniger planmäßige Vernichtung der Kinokultur. Die Einführung von Zensur, das Verbot bestimmter Themen, die Verfolgung bestimmter Autoren, die Einschränkung von Freiheiten. Natürlich brechen trotzdem interessante Filme durch, die der Situation entsprechen, die ihre Klagen herausschreien. Doch was Stalin früher sagte: „Andere Autoren habe ich nicht!“, das gilt vielleicht auch heute: Noch gibt es keine anderen Regisseure, aber langsam erscheinen sie am Horizont, die „fröhlichen Burschen“ (lacht)! In den Neunzigern und Anfang der Nullerjahre, war der ideologische Druck noch nicht so groß. Ich achte gerade darauf, wie es um die Verteilung von Fördergeldern bestellt ist – Kino ist schließlich von Geld nicht ganz unabhängig – und die Lage sieht ziemlich trist aus.

Dass ein Film wie Leviafan gefördert wurde, ist kein Hoffnungsschimmer?

Wir befinden uns in einem stetigen Prozess, und eine allgemeine Tendenz zeichnet sich ab: Wenn Sie jetzt einen Film über Stalins Lager drehen wollen – im Gegensatz zur Literatur ist das im russischen Kino beinahe Terra incognita – bin ich mir sicher, dass Sie keinerlei Unterstützung finden werden. Trotzdem konnte ein Film wie Trudno byt bogom (Hard to Be a God, Aleksey German, 2013), verhältnismäßig explizit in seiner kritischen Textur, mit teilweiser Beihilfe staatlicher Instanzen entstehen und erscheinen. Die restriktiven Strukturen sind also nicht einheitlich. Dennoch ist die Freiheit, sich seinen Interessen und Talenten gemäß zu betätigen, gegenwärtig stärker eingeschränkt als früher.

Eine Formfrage: Schon in Ihren frühen Dokumentarfilmen ist die außerordentlich sorgfältige Konstruktion der Tonebene auffällig. Können sie etwas über ihren diesbezüglichen Zugang erzählen?

Mir scheint, dass die meisten Regisseure dem Ton keine besondere Aufmerksamkeit zollen. Der Ton enthält die Rede, deren Klarheit entscheidend ist. Es gibt diverse Geräusche, die der Anordnung der Dinge entsprechen müssen. Üblicherweise werden für die Toninszenierung zwei Wochen oder ein Monat aufgewendet. Man hat den O-Ton, fügt vielleicht noch das eine oder andere hinzu, und das war’s. Spielfilmregisseure konzentrieren sich auf die schauspielerischen Leistungen, die Dramaturgie, die Klarheit des Texts, die Montage und andere Aspekte der Darstellung. In Michael Hanekes wunderbarem Film Das weiße Band gibt es etwa einen Moment, in dem die weibliche Hauptfigur durch einen ruhigen Raum geht, und man hört im Hintergrund das Stapfen der Crew. Kaum merklich, aber wenn man genau aufpasst, merkt man sogar auf der DVD, dass das nicht entfernt wurde (lacht). Warum? Was sind das für fremde Schritte? Gespenster (lacht)? Das ist weder gut noch schlecht, es ist einfach so. Jedenfalls eröffnet der Ton ungeahnte Möglichkeiten. Man kann die dramaturgische Funktion in den Ton verlagern. Man kann mit einem einzigen Ton die Bedeutung eines ganzen Films ändern. Ich bin ein Formalist und interessiere mich für verschiedene Spielarten der Formgebung. In meinem Film V tumane (In the Fog, 2012) ist der Protagonist am Ende auf sich selbst zurückgeworfen. Im Wald, mit einer Waffe in der Hand, seine Lage ist aussichtslos. Der Nebel zieht ein und verdeckt die Szenerie, und dann ertönt ein Schuss. Gibt es diesen Schuss nicht, entlässt uns der Film mit einer bestimmten Geschichte, gibt es ihn, mit einer anderen. Solche Effekte sind für mich von besonderem Interesse, ganz abgesehen davon, dass es außerordentlich spannend ist, den Ton eines Films wie ein Musikstück zu gestalten. Ich arbeite seit 2003 mit dem hervorragenden Tondesigner Vladimir Golovnitskiy zusammen, der in diesen Angelegenheiten genauso ein Fanatiker ist wie ich. Ich bin sehr glücklich, ihn getroffen zu haben. Ich konnte mich nicht mehr alleine um den Ton kümmern und war auf der Suche nach jemandem, der fähig und bereit war, sich auf demselben Niveau damit zu beschäftigen – zu verstehen, zu erfinden und zu verwirklichen. Ich lasse ihm jede Freiheit und sage ihm immer, dass ich meine Aufnahmen nur mache, damit wir anschließend die Arbeit am Ton genießen können (lacht).

Maidan von Sergei Loznitsa

Wie gehen Sie konkret an die Aufnahme des Tons heran? Ich denke an Maidan (2014) und O Milagre de Santo Antonio (2012).

Bei O Milagre de Santo Antonio hat Vladimir die Tonspuren geliefert. Bei Maidan haben wir die Tonspur aus Kameraton und O-Ton zusammengebaut, weiters kam eine Audioarchiv zum Einsatz, dass ich per Annonce gefunden habe. Ein unabhängiger Toningenieur hatte ca. 100 GB qualitativ hochwertiges, vor Ort aufgezeichnetes Material. Kämpfe wie die in Maidan klingen natürlich ganz anders, wenn man dabei ist. Für Schritte, aufprallende Steine und ähnliches haben wir Foley-Effekte verwendet. O-Ton reicht einfach nicht aus für eine adäquate künstlerische Gestaltung: Ein spezifischer Schrittklang ist imstande, einem Menschen auf der Leinwand einen bestimmen Charakter zu verleihen.

In Interviews sagen Sie oft, dass sie Propaganda unterlaufen und dem Zuschauer die Möglichkeit geben wollen, von seinem Denken Gebrauch zu machen und sich seine eigene Meinung zu bilden. Ist diese Art subtiler Tonmanipulation, die einem ungeschulten Ohr fraglos nicht immer auffallen wird, nicht auch eine Form von Propaganda?

Man muss erstmal den Begriff „Manipulation“ definieren. Ein Zauberkünstler manipuliert das Publikum, indem er einen Trick vollführt. Buchstäblich: Er macht geschickt von seinen Händen Gebrauch.

Aber wir wissen von Anfang an, dass er ein Zauberkünstler ist.

Wir wissen auch von Anfang an, dass wir einen Film sehen.

Ist die Sache im Dokumentarfilm nicht prekärer?

Das hängt von der Beziehung zum Gesehenen ab, von unserer Beziehung zum Dokumentarfilm. Ich bestehe darauf, dass jeder Dokumentarfilm ein Kunstwerk ist, mit künstlerischen Mitteln konstruiert nach den Regeln der Kunst, und insofern eine absolute Fiktion darstellt, wenngleich unter Verwendung dokumentarischen Materials. Dokumentarfilme bilden keine Bestätigung dessen, was wirklich geschehen ist, obwohl sie Elemente dieser Wirklichkeit in sich tragen. Das gilt im Übrigen für jeden Film. Es beginnt bei der Auswahl des Materials, die einen fiktionalen Akt konstituiert. In diesem Sinne ist das dokumentarische Kino sehr listig. Es prätendiert darauf, ein Abbild der Wirklichkeit zu sein, ist es aber nie.

Vielleicht erhebt es selber gar keinen Anspruch darauf, sondern die Zuschauer?

Das wiederum hängt ab von Bildung und Erziehung sowie dem Verständnis des Wesens der Bilder. Früher hatten die Menschen ein ähnliches Verhältnis zu Texten, Gemälden oder Theatervorstellungen. Inzwischen empfinden wir Ikonen nicht mehr als buchstäbliches Abbild göttlicher Entitäten. Dafür als künstlerische Geste, als Hologramm und Abstraktion, die als Metapher multiple Bedeutungen birgt. Künstlerische Gestaltungsmittel sind stets manipulativ. Mal angenommen, ich würde gerne der Manipulation entsagen: Also mache ich einen Film, der nur aus einer Einstellung besteht, die Ankunft eines Zuges. Ich entäußere mich der Montage, die manipulativ Zusammenhänge herstellt und Bedeutungen generiert. Aber die Optik bleibt bestehen, ebenso die Komposition – beides entscheidende ästhetische Determinanten. Ich kann ein Weitwinkelobjektiv verwenden, mich ganz weit weg aufstellen, und der Zug wird auf Ameisengröße zusammenschrumpfen (lacht).

Und wie steht es mit der Ideologie des Blicks, ist die etwa auch nicht zu beseitigen?

Doch. Ist Poesie ideologisch?

Ich würde sagen, dass sie es in diffuser Form durchaus sein kann.

Ich sage Ihnen, wie sich Propaganda vom Kunstwerk unterscheidet. Ein Kunstwerk regt zum Denken an. Indem man an der Seite des Kunstwerks bestimmte Etappen durchläuft, die den Verstand in Erregung versetzen, beginnt man mit der eigenständigen Erfassung eines gegebenen Themas. Das Kunstwerk evoziert einen Kontemplationsprozess, zu dem einen niemand gezwungen hat, der von einem selbst ausgeht. Was macht Propaganda? Sie ist nicht daran interessiert, dass man denkt. Sie will, dass ein bereits gefälltes Urteil übernommen wird. Etwa, um es mit Orwell zu sagen: Krieg ist Frieden. Wenn der propagandistische Mechanismus gut funktioniert, meint man im Anschluss, diese Idee, die gar keine ist, stamme von einem selbst. Das ist das erklärte Ziel von Propaganda. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen mit meinen Filmen Schlussfolgerungen aufzudrängen. Mein Ziel ist es, Sie dazu anzuregen, darüber nachzudenken, was passiert ist, und wie man damit umgehen soll. Wie eine Figur in einem Film handelt, ist ihre Entscheidung – meine muss ich selbst treffen können.

Warum haben sie den Schuss an den Schluss von V tumane gesetzt?

So steht es in der Bykow-Vorlage (lacht)! Es ist aber auch meine Haltung. Meiner Ansicht nach ist dies der einzige würdige Ausweg unter diesen Umständen. Wie in Hamlet: Warum haben sich da alle abgestochen? Weil es ihrer Haltung entsprach. Die Hauptfigur wird durch diesen Akt erst ein Mensch. Natürlich hat er eine Wahl. Die Paradoxie liegt darin, dass erst die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, einen zum Menschen macht. Das ist der Preis der Menschlichkeit. Niemand kommt auf einen zu und sagt: Würden Sie gerne ein Mensch sein? Bitteschön (lacht)! Als die Sowjetunion sich aufgelöst hat und alle Sattelitenstaaten des Ostblocks ihre Freiheit erlangten, konnte man auch nur mit offenem Mund dasitzen und staunen: Wie großmütig, so viel Land einfach herzuschenken! Aber dann meldeten sie sich wieder und es war vorbei mit dem Großmut.

In the Fog von Sergei Loznitsa

Eine sehr spezifische Frage: Am Ende des Films Blokada (Blockade, 2006) werden Menschen gehängt. Wer und warum?

Man sollte zuerst fragen: Wer waren die Zuschauer? Die Bewohner Leningrads. Also sind es entweder deutsche Soldaten oder Kollaborateure, die gehängt werden. Macht das einen Unterschied? Prinzipiell handelt es sich in beiden Fällen um „Feinde“.

Aber die einen könnten Nachbarn sein, die anderen nicht.

Es sind deutsche Soldaten, aber ich glaube, dass es genauso gut Kollaborateure hätten sein können. Diese Exekution gehört zu einer Reihe öffentlicher Hinrichtungen, die nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs in allen großen russischen Städten stattfanden. Eine Stichprobe von Autoritätsfiguren der Gegenseite wurde öffentlich angeklagt und gehängt. Die Todesstrafe gibt es schließlich nicht für den, der stirbt, sondern für die anderen, als Abschreckung. Es ist ein Spektakel, wie im 17. Jahrhundert in Amsterdam, als man den Leichnam des Gehenkten öffentlich zur Schau stellte – Rembrandt hat das gezeichnet.

Aber gerade in dieser Beziehung macht es doch einen Unterschied, ob es sich um deutsche Soldaten handelt oder um Kollaborateure. Letzteres impliziert ja, dass da jeder hängen könnte.

Das sind unerhebliche Nuancen, finde ich. Der Schock des mittelalterlichen Aktes ist in beiden Fällen derselbe. Die Fragen, die ich stelle, lauten: Darf man sich über den Tod eines anderen freuen, wie es mache im Publikum taten? Ist dieser Vergeltungsakt gerechtfertigt? Der Staatsterror hat nie aufgehört. Erst jetzt beginnt die Forschung langsam damit, die Belagerungszeit aufzuarbeiten. Ich hoffe sehr, dass wir nun erfahren werden, warum damals zu einer bestimmten Zeit leere Autos hinein- und mit Leuten beladen herausfuhren, warum die Stadt nicht mit Lebensmittel versorgt werden konnte, etwa über den Ladogasee, warum die Parteigranden Törtchen aßen, während die Bevölkerung Hunger litt. Auch das ist Terror, vergleichbar mit der Aktion in Kiew 1941, als die Rote Armee das Zentrum der Stadt komplett verminte, bevor sie abzog. Niemand hat den Bewohnern mitgeteilt, dass ihre Häuser explodieren würden. 948 an der Zahl. Das Ziel dieses Terrors war dezidiert, das Stadtzentrum und die Kultur, die es beherbergte, zusammen mit 300 oder 400 deutschen Soldaten dem Erdboden gleich zu machen.

War das wirklich die erklärte Absicht?

Glauben Sie, dass die Franzosen imstande wären, im Ausnahmezustand das Zentrum von Paris zu zerbomben? Ich zweifle daran. In Kiew hat man es sich erlaubt, weil es mit einem Schlag eine ganze Reihe von Problemen beseitigte. Es hat die Bevölkerung von den Besatzern abgespalten, weil kurz darauf Repressionen folgten – etwa das Massaker in Babyn Jar. Aber natürlich weckte es auch den Hass gegen die russische Staatsmacht, die bereit war, Verbündete auf diese Weise zu opfern, als wären sie durch die Okkupation automatisch zu Feinden geworden, und damit demonstrierte, welch geringen Wert sie Menschenleben beimaß. In diesem Sinne ist es egal, wer in Leningrad gehängt wurde. Kürzlich ist ein Buch über die Besatzung von Odessa erschienen, in dem beschrieben wird, wie die abziehenden russischen Truppen ihre verbleibende Munition in Richtung der Stadt verschossen. Das ist kein Einzelfall. So war das Verhältnis zu denen, die weder gestorben sind noch die Städte verlassen haben. Sie wurden automatisch zu Verrätern und Feinden. Auch das ist Teil der russischen Kultur.

Es gibt also keinen Graubereich.

Nein. Und das ist bis heute so. Es gab vor nicht allzu langer Zeit einen Fall, wo ein Soldat nach Georgien geflohen ist. Der Aufschrei war groß, die Kommentare ätzten, er wäre zum „Feind“ übergelaufen. Dabei hatte er andere Gründe: Vorschriftswidriges Verhalten seiner Vorgesetzten, Schikanen durch andere Soldaten, Urlaubsverweigerung usw. Es gibt also eine spezifische Fixation. Diese Grabenkriegsmentalität, die überall Feinde wittert, und sogar neue erfindet, wenn es keine gibt – dieses Bewusstsein ist typisch für den historischen Komplex Russland.

Kann man sagen, dass ihre Filme versuchen, ebendiese historischen Zusammenhänge ins Zuschauerbewusstsein zu heben?

Es gibt einfach sehr wichtige Momente, die einen verpflichten, darüber zu sprechen, weil sie die Wurzel dessen darstellen, was heute in Russland passiert. Weil nach der Auflösung der Sowjetunion von Ent-Kommunisierung keine Rede war. Weil die wenigsten wissen, dass es von 1921 bis 1923 furchtbare Hungersnöte gegeben hat, von denen 35 Millionen Menschen betroffen waren und die über 6 Millionen das Leben kosteten. Diese Toten gehen auf das Kerbholz der Bolschewisten, die mit einem einzigen Handstreich die gesamte Getreidewirtschaft zum Stillstand brachten. Während des ersten Weltkriegs starben eineinhalb Millionen Russen, in diesen zwei Jahren verhungerten dreimal so viele, und dieser Hunger war ein Machtinstrument. Wenn man weiß, was Lenin und andere Architekten der Sowjetunion in dieser Zeit geschrieben haben, wie gleichgültig sie diesem Massenmord als Mittel zum Zweck gegenüberstanden, möchte man ohne zu Zögern sämtliche Monumente zu ihren Ehren niederreißen, alle nach ihnen benannten Straßen umbenennen. Denn Straßen und Monumente sind Texte, die sich im Unbewussten festsetzen und diesem ganzen verdrängten Alptraum ihren Segen erteilen. Es gibt ein großartiges polnisches Buch, eine Sammlung von Fotografien der Orte zwischen Sibirien und der Ukraine, an denen Erschießungen vorgenommen wurden. Die meisten dieser Orte sind heute Wälder, Deponien, Müllkippen. Es gibt Ausnahmen, aber die Mehrheit lässt jede Spur eines Gedenkens vermissen. Und das erzählt uns nicht nur einiges über unsere Beziehung zu den Toten der Vergangenheit, sondern auch über jene zu den Toten der Gegenwart und Zukunft. Deswegen ist es unabdinglich, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Zum Glück gibt es auch eine Handvoll Historiker, die das tun, auch wenn ihre Bücher nur in kleinen Auflagen erscheinen. Es gibt etwa ein tolles Buch von Viktor Topoljanski, Durchzug aus der Vergangenheit [das Buch ist derzeit nur in russischer Sprache erhältlich, Anm. d. Red.], das ich jedem empfehlen kann. Dort können Sie nachlesen, wie und unter welchen Umständen die Sowjetmacht geboren wurde. Die heutige Macht bedient sich ähnlicher Methoden, nur ist ihr Menschenmaterial williger. Daher muss man sich damit beschäftigen, weil es den Alltag eines jeden betrifft.