Vladimir Golovnitskiy – Tondesigner

Stimmen verschlingen sich gegenseitig in der Kollaboration von Vladimir Golovnitskiy und Sergei Loznitsa. Kalter Wind und die wilden, klagenden Schreie einer Kuh. Die Lieder der Revolution und beständige Parolen aus den Lautsprechern. Die Landschaften werden spürbar in fast starren Portraitaufnahmen. Denn während das Bild in den Nebelschwaden einer fantastischen Entfremdung und Totalen einer sozialen Wirklichkeit kaum Rückschlüsse auf die Seele zu lässt, dringt der Ton tief in sie ein. Manchmal ist außer einem sanften Wind die einzige Bewegung im Ton hörbar, der Ton bewegt sich selbst unter den starren Bildern: Ein langsames Knarzen, ein trabendes Pferd, der Atem. Jeder Ton bedeutet etwas und die Bedeutung wird mit den Bildern assoziiert. So steht das Geräusch angehender Schweinwerfer für eine schnelles Schneiden mit dem Messer und wenn es eingesetzt wird, dann wird damit ein dramaturgischer Bruch betont. Auf bis zu 60 Tonebenen arbeitet Golovnitskiy, der so sehr an die Magie des Unsichtbaren glaubt wie Loznitsa selbst. Golovnitski arbeitet monatelang an Kurzfilmen, die er fast manisch durchkomponiert. Dabei steht an erster Stelle (und so sollte das bei jedem Tonmann sein) die Idee von Film als visuelles Medium.

Der Ton ist darin eine andere Ebene und so gehört es (zumindest in der Zusammenarbeit mit Loznitsa) zu den Selbstverständlichkeiten, dass es nicht darum geht Dialoge verständlich zu machen, Kommentare über die Bilder zu legen oder einen Naturalismus zu erzeugen. Vielmehr ähnelt der Ansatz des Duos jenem des großen Jacques Tati, der bekanntlich seinen Ton völlig unabhängig vom Bild gestaltete und gewissermaßen zweimal Regie führte. Zunächst für das Bild und dann für den Ton. Loznitsa und Tati (zum Teil in Zusammenarbeit mit dem großen Jacques Carrère) treffen sich im Gemurmel und der Klarheit ihrer Unverständlichkeit. Im hypnotisch-formalistischen Landscape erzählen sich wartende Menschen Geschichten, die wir nicht sehen, die aber gesprochen werden; sie spielen zwischen den abgeschwenkten Nahaufnahmen frierender Gesichter und liefern wie oft bei Golovnitskiy einen Kontext, ein Gefühl, aber nicht eine klare dramaturgische Linie. Die Alltäglichkeit und Gewalt des menschlichen Wartens drückt sich so auf der Tonebene aus und lässt uns erahnen und fühlen, was unter den Bildern liegt. Der Ton ist für ihn eine Imagination, die aus der künstlerischen Wahrheit der Dokumentationen entsteht. Das gilt für dringliche, politische Dokumentationen im Stil von Maidan genauso wie für Fiktionen wie My Joy. Golovnitskiy, der von Loznitsa als Genie bezeichnet wird, betont die Bilder nicht im Sinn einer Verstärkung sondern im Sinn einer neuen Ebene, die nicht autonom entsteht sondern aus den Bildern geboren wird, assoziativ, frei und nach einer Wahrheit suchend. Diese Wahrheit liegt eben nicht nur im objektiven Ton, über den insbesondere im deutschen Kino kaum hinausgereicht wird sondern im subjektiven Ton, im assoziativen Ton, im symbolischen Ton und im surrealistischen Ton. Manchmal wechselt sich die Erzählperspektive alleine im Ton, manchmal wird das Bild davon deformiert. Distanz und Nähe werden oft ausschließlich im Ton erzeugt in der Kollaboration von Golovnitskiy und Loznitsa. Dies ist insbesondere dann spannend, wenn Golovnitskiy an Found Footage Material arbeitet und dieses beispielsweise seiner propagandistischen Funktion beraubt. Das ist auch eine Umarmung der Manipulation, der Fantasie im Dokumentarischen, die allerdings immer von einer moralischen Strenge überwacht wird. Jener eines Künstlers, der nach Wahrheit sucht.

Am Anfang von O Milagre de Santo Antonio hören wie eine wehende Fahne (wir sehen sie auch). Außerdem Vogelgezwitscher und Grillen. Dann folgt eine Schwarzblende, die Loznitsa zur Rhythmitisierung seiner Filme gerne einsetzt. Wir hören eine Glocke, es klingt wie eine Kuhglocke. Dazu nach wie vor der Wind und die Vögel. Nun sehen wir einen Stier in einem Gebüsch. Er kaut und die Schmatzgeräusche sind sehr deutlich zu hören. Dazu rhythmisch und etwas schneller die Kuhglocke, entfernt bellt ein Hund. Langsam blendet das Geräusch von Trommelschlägen auf. Erst entfernt, dann immer lauter. Der Hirsch verharrt kurz reglos, das Bild wird schwarz. Der Titel erscheint, die Trommeln werden geschlagen. Dazu hört man männliche Stimmen reden.Und immer noch der Wind und die Vögel. Es gibt eine Überblendung im Ton. Wir hören jetzt andere Vögel, eine andere Stimmung. Ein junges Mädchen schaut uns hinter einem Absperrband genauso an wie vor ihr der Stier. Entfernt hören wir laute Stimmen und schwere Gegenstände, die bewegt werden. Sie klingen wie das Echo der Trommel. Hinter dem Mädchen ist ein Eingang. Kommen die Geräusche dort heraus? Die Geräusche werden hektischer, die Vögel werden lauter. Wie so oft geht die Geräuschkulisse über den Schnitt hinaus und zeigt damit an, dass sie nicht unbedingt zum Bild gehören muss. Wir sehen einen Eingang. Aus ihm kommt ein Arbeiter. Wir hören seine Schritte, sie sind synchron.Er wirft einen Karton auf einen Haufen und zieht eine Folie aus dem Dunkeln. Die Folie scheint endlos lang zu sein. Das Geräusch wird lauter als der Mann auf die Kamera zugeht damit und schließlich daran vorbei und es klingt nun wie das Meeresrauschen in einer Muschel. Eine weitere Blende im Ton, ein harter Schnitt im Bild. Nun sehen wir einen Mann mit einem Besen kehren. Wir hören das Kehrgeräusch und im Hintergrund nach wie vor die arbeitenden Männer. Nun auch Frauenstimmen. Kurz nach den Frauenstimmen, kommt ein Mann um die Ecke gelaufen und im selben Moment setzen Kirchenglocken ein. Sie spielen eine Melodie, die über den nächsten Schnitt (ein weiterer Mann mit einem Besen) hinweggeht. Überall Schritte, es entsteht das Gefühl eines gemeinschaftlichen Treibens. Die Vögel sind wieder zu hören. Das Geräusch eines grillenden Spatzes geht über in das hohe Geräusch einer Schnur, an der ein Mann zieht. Dazu weiter die Kirchenglocken. Der Mann mit der Schnur blickt ins Off und dort hört man ein Geräusch als wäre etwas umgefallen. Es rumpelt hier und da. Wir hören jetzt ein Fahrzeug im Off. Es bleibt stehen (nichts davon ist zu sehen, aber der Mann mit der Schnur blickt ins Off). Türen gehen auf, eine Schiebetür eines Sprinters. Das Vogelgezwitscher wird lauter. Ein metallenes Geräusch während wir nun im Bildvordergrund einen Mann mit einer großen Schnur sehen und im Hintergrund den Sprinter und zwei Männer. Golovnitskiy lässt uns oft das nächste Bild erahnen durch seine Tongestaltung.

Das waren die ersten drei Minuten des Films und das ist ganz großes Kino.

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