Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Le cochon von Jean Eustache und Jean-Michel Barjol

Ein simp­ler Mon­ta­ge-Drei­schritt aus der Wei­te in die Nahe, mit Auf- und Abblen­den ver­bun­den: Eine länd­li­che Sze­ne­rie in Schwarz-Weiß. Ein schlich­tes, stei­ner­nes Haus. Ein Schwein in einem Stall. Am Ende von „Le cochon“ von Jean Eusta­che und Jean-Michel Bar­jol wird die­ses Schwein kei­nes mehr sein, die mate­ri­el­le Basis des­sen, was wir als „Schwein“ bezeich­nen, wird vor unse­ren Augen eine gewalt­sa­me Meta­mor­pho­se durch­lau­fen haben, mit dem Ergeb­nis einer neue Wahr­neh­mungs­ord­nung und zum Preis eines Tier­le­bens. Vor­spiel: Alte Män­ner am Ess­tisch, ein damp­fen­der Ein­topf wird her­um­ge­reicht, Gesprä­che beim Gemein­schafts­mahl. Gleich geht es an die Arbeit. Raus und hin­un­ter über eine klei­ne Stein­trep­pe, hin­ein in den angren­zen­den Stall. Das Schwein wird unter schril­lem Gekreisch aus der Ein­streu gezerrt und auf die Schlacht­bank gehievt. Kaum ist sei­ne Schnau­ze zuge­schnürt, wird es gesto­chen. Man weiß, dass es kommt, und sieht es doch nicht kom­men. Damp­fen­des Blut strömt in einen Kübel, wäh­rend die Män­ner den zucken­den Kör­per fest­hal­ten. Wenn das Leben gar ist, steht der Trans­for­ma­ti­on der Mate­rie nichts mehr im Weg. Suk­zes­si­ve beraubt man die Schwei­ne­er­schei­nung ihrer Kon­tu­ren. Erst wäscht einer den Kada­ver mit hei­ßem Was­ser aus einer Kan­ne ab, wäh­rend ein ande­rer die Bors­ten­haa­re mit dem Mes­ser abschabt. Dann wird der Leib zer­wirkt und in sei­ne Bestand­tei­le zer­legt, das Sinn­li­che neu auf­ge­teilt. Was unlängst noch Schwein war, ist jetzt bereits Schweins­kopf, Schweins­ha­xen, Schwein­s­in­ne­rei­en. Im nächs­ten Schritt wird das ver­rä­te­ri­sche Prä­fix kom­plett getilgt, die Schweins­stü­cke wer­den zu Fleisch, das Fleisch zu Faschier­tem, und letzt­lich presst man das Faschier­te in eine Wurst­haut wie Gehalt in einen Begriff. Der Bedeu­tungs­wan­del ist vollzogen.

Le cochon

Die Bau­ern ver­rich­ten ihre Tätig­keit mit der Gelas­sen­heit und leicht gelang­weil­ten Pro­fes­sio­na­li­tät von Men­schen, die etwas tun, weil man es eben tut. Sie rau­chen, lachen und reden viel bei der Arbeit, letz­te­res viel­leicht nur, weil Kame­ras auf sie gerich­tet sind, in die sie gele­gent­lich auch bli­cken. Alain Phil­ip­pen spricht in einem Text über den Film von einem „Zere­mo­ni­ell“ und „Todes­ri­tu­al“, doch für mich war davon nichts zu spü­ren. Zu einem Zere­mo­ni­ell gehört eine gewis­se Selbst­zweck­haf­tig­keit. Ich sah nur Hand­werk, Tra­di­ti­on, Not­wen­dig­keit – nicht freud­los, aber auch nicht wei­he­voll. Ob das Gesche­hen grau­sam, schön oder bei­des ist, dar­über kann man dis­ku­tie­ren, im Film ist es fürs Ers­te ein­fach nur wert, gese­hen zu wer­den. Der Blick der Fil­me­ma­cher ist weder distan­ziert noch invol­viert, bloß anwe­send. Er beob­ach­tet auf­merk­sam, ohne sich auf­zu­drän­gen oder zu urtei­len. Hier ein sub­ti­ler Zoom, da ein kur­zes Ver­har­ren, mehr nicht. Der Abspann ver­zeich­net vier Kame­ra­leu­te, und es wird ver­hält­nis­mä­ßig viel mon­tiert; das ver­mit­telt einen Ein­druck von Geschäf­tig­keit, von simul­ta­nen Akti­vi­tä­ten und ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven, von Ereig­nis­haf­tig­keit und Unge­stellt­heit. Denn wie will man len­kend in ein Gesche­hen ein­grei­fen, das man mit einem Blick nicht zu fas­sen ver­mag, das selbst schon einen arbeits­tei­lig koor­di­nier­ten Pro­zess dar­stellt, der sich in sei­nen Fein­hei­ten nur den Teil­neh­mern erschließt? In einem lesens­wer­ten Inter­view beschreibt Eusta­che die Dreharbeiten:

„With Jean-Michel Bar­jol, we each cho­se a com­ple­te crew, inclu­ding a DP, an AC, and a sound mixer. And, wit­hout con­sul­ting each other, we film­ed the same event at the same time. Sin­ce we were near each other, we each vague­ly saw what our fri­end was doing; we didn’t fall over each other to get to the same place, we tried to posi­ti­on our­sel­ves, but Bar­jol shot what he wan­ted, as he wan­ted, and I did the same. This all hap­pend real­ly fast sin­ce it invol­ved film­ing a real event at the moment it was hap­pe­ning. Some­ti­mes we even split the work, for exam­p­le, when the­re were things hap­pe­ning in two dif­fe­rent places. But it had to be done quick­ly. In any case, it had not­hing to do with the fact that I would have been able to have two crews and say, for exam­p­le, to one DP, ‘You come here,’ and to ano­ther, ‘You go the­re.’ No, it was not­hing like that and we would have then been able to do, at most, two films on the same sub­ject, which may­be wouldn’t have been unin­te­res­t­ing, but it wasn’t the idea behind the film, that would have been ‘artis­tic.’ Two points of view on the same event. That’s pre­cis­e­ly what I refu­sed to do. Ins­tead, we mixed the foo­ta­ge and edi­ted the film tog­e­ther. As for the length and the amount, there’s may­be 49% of him and 51% of me, or the other way around. You’d have to mea­su­re. I’ve never had the cou­ra­ge to do that. You’d first have to know his shots from mine and that isn’t as easy as you’d think. “

Jean Eustache

Eine Ciné­ma-véri­té-Uto­pie: Kann man den Autor ganz aus dem Film her­aus­neh­men, das Ereig­nis rest­los eman­zi­pie­ren und für sich selbst spre­chen las­sen? Der­ar­ti­ge Bestre­bun­gen sind auch eine Reak­ti­on auf die Erzäh­lungs­ma­schi­ne­rie des Fern­se­hens, die (auch zur Zeit der Ent­ste­hung des Films) kei­ne Ehr­furcht vor sei­nem Rea­li­täts­ma­te­ri­al mehr kennt. Eusta­che ver­sucht das Auf­kom­men einer das Sujet bedrän­gen­den „Welt­sicht“ zu hin­ter­trei­ben, indem er die spon­ta­nen Erzeug­nis­se zwei­er ohne­hin schon den Vor­gän­gen erge­be­ner Regis­seu­re ver­mengt – wobei das Ver­men­gen selbst, die Mon­ta­ge also, natür­lich doch wie­der eine Art von Autor­schaft ist. Dem Pri­mat des Ereig­nis­ses zuträg­lich ist auch die Kür­ze der erzähl­ten Zeit des Films (ein Abend), und in gewis­ser Hin­sicht sogar der Ver­zicht auf eine Unter­ti­telung des süd­fran­zö­si­schen Idi­oms der Vieh­züch­ter – zumin­dest hat­te die Kopie, die am 20. Juni im Öster­rei­chi­schen Film­mu­se­um gezeigt wur­de, kei­ne – das so schnell zum Teil der all­ge­mei­nen Geräusch­ku­lis­se wird (und im Übri­gen an Ray­mond Depar­dons ein­fühl­sa­me Por­träts des land­wirt­schaft­li­chen Lebens in den Ceven­nen gemahnt). Wor­in liegt also der künst­le­ri­sche Kom­men­tar, wenn es denn einen gibt? Viel­leicht in der Aus­wahl des Motivs: Le cochon ist jeden­falls das Doku­ment einer gemein­schaft­li­chen kul­tu­rel­len Pra­xis aus dem fran­zö­si­schen Nir­gend­wo (und dar­in Eusta­ches Zwil­lings­fil­men „La Rosiè­re de Pes­sac“ 19691979 ver­wandt). Viel­leicht in der Bilds­e­lek­ti­on: wenn man etwa nach der Schwei­ne­zer­le­gung sieht, wie ein Bau­er sei­nen Hund strei­chelt. Viel­leicht im Titel: War­um heißt der Film le cochon (Das Schwein) und nicht l‘abattage (Die Schlach­tung), obwohl das Schwein als sol­ches nach kur­zer Zeit aus dem Film schei­det? Viel­leicht in einem Inter­view, das an einer Stel­le des Films mit einem der Bau­ern geführt wird, aber eben­so unüber­setzt bleibt wie der Rest des Dia­logs. Und viel­leicht liegt er ein­fach nur im Behar­ren auf Kom­men­tar­lo­sig­keit, wis­send, dass den ent­schei­den­den Kom­men­tar ohne­hin immer der Zuschau­er setzt.