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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Len Lye: Poesie/Industrie

von Rainer Kienböck

Drei Minuten Farben- und Formenspiel. Punkte und Linien tanzen über die Leinwand, knallige Signalfarben wechseln sich wild ab, verdrängen sich, verbinden sich, gehen ineinander über. Kreolische Tanzmusik gibt den Takt an, legt den Rhythmus fest, in dem sich die Farbkleckse in nicht enden wollender Fantasie gegenseitig ablösen. Das geht rund drei Minuten so, ein früher Versuch eines kameralosen Films. Der Filmemacher Len Lye hat für A Colour Box den Filmstreifen direkt bearbeitet. Er hat das Zelluloid Kader für Kader mit der Hand bemalt und mit Schablonen bedruckt. A Colour Box ist einer der ersten Filme, der auf diese Weise entstanden ist, der gebürtige Neuseeländer Lye ist einer der Pioniere des „direct film“. Die ästhetischen Qualitäten seiner Filme, vor allem jener aus den dreißiger Jahren, in denen er die Möglichkeiten neuartiger Farbfilmprozesse, die direkte Bearbeitung des Filmmaterials und Einflüsse polynesischer Kunst zusammenführte, sind unbestritten. Ein Schock markiert aber den Höhepunkt von A Colour Box, wenn nach rund zwei Minuten abstrakten Formenspiels zu fröhlicher Tanzmusik große schwarze Lettern im Film auftauchen. Das filmische Formexperiment wird zur Werbeannonce. „Cheaper Parcel Post“ heißt es da. Der Paketdienst des General Post Office wird angepriesen. Die Werbebotschaften tanzen über die Leinwand, wie zuvor die geometrischen Formen, das Farbenspiel wird ebenfalls nicht unterbrochen. Die Banalität des Postverkehrs trifft auf die avantgardistische Qualität von Lyes Kurzfilm. Eine ungewöhnliche Kombination. Wie kam es, dass der künstlerische Freigeist Lye einen Werbefilm für die Post produzierte? Wie kam es dazu, dass die Post einen Avantgardisten wie Lye mit einer Kommission bedachte? Wie fanden Kunst und Kommerz hier zusammen?

Das General Post Office (GPO) ist freilich in der Filmgeschichte keine unbekannte Größe. Der Filmemacher John Grierson hatte Anfang der dreißiger Jahre die Führungsetage des GPO davon überzeugen können, eine eigene Filmsparte ins Leben zu rufen. Die GPO Film Unit produzierte fortan Werbefilme für die Post und sozialkritische Dokumentarfilme. Zudem zeigte sich Grierson immer offen für Experimente und unterstütze Filmemacher in der Umsetzung experimentellerer Filmprojekte. Zu seinem Team zählten unter anderem Alberto Cavalcanti, Humphrey Jennings, Basil Wright, Paul Rotha und Norman McLaren (seines Zeichens ebenfalls Pionier des direct film) , der Dichter W.H. Auden und der Komponist Benjamin Britten zählten zu ihren regelmäßigen Kollaborateuren. Auf Lye war Grierson Mitte des Jahrzehnts aufmerksam geworden. Lye hatte die kostengünstige Form der direkten Bearbeitung des Filmmaterials für sich entdeckt. Er bat den Schauspieler John Gielgud eine Passage aus William Shakespeares Stück The Tempest einzusprechen. Diesen Soundtrack ergänzte Lye um ein abstraktes Formenspiel aus geometrischen Elementen. Der Film, Full Fathom Five, wurde Grierson vorgeführt, der Lyes Potenzial erkannte und ihn an Bord holte. Grierson war ein begnadeter Verhandler. Er hatte immerhin die staatliche Postbehörde davon überzeugen können, eine Filmabteilung zu gründen, die in erster Linie anspruchsvolle Dokumentarfilme herstellte, die soziale Missstände anprangerte. Lyes Arbeit stellte ihn dann aber doch vor Herausforderungen. Wie rechtfertigen, Staatsgelder für abstrakte Filmexperimente aufzuwenden? Grierson entschied, dass dem Film am Ende eine kurze Werbebotschaft für die Post hinzugefügt werden sollte. Lye war zu diesem Kompromiss bereit, anstatt Full Fathom Five umzuarbeiten, stellt er einen ganzen neuen Film her. Die Werbebotschaft am Ende stand nicht gesondert vom restlichen Film, sondern er integrierte sie in den Film: A Colour Box wurde seine erste Arbeit für die GPO Film Unit. Fortan erhielt Lye von Grierson ein bis zwei Aufträge im Jahr für Werbefilme. Die Budgets blieben überschaubar, doch Lyes Produktionen waren vergleichsweise kostengünstig herzustellen. 1936 entstand als nächste Auftragsarbeit des GPO der Film Rainbow Dance. Rainbow Dance soll die GPO Savings Bank bewerben, Lye legt den Film daraufhin als große (Bild-)Metapher an. Vom rein abstrakten Formenspiel geht Lye über zu einem etwas narrativeren Ansatz. Am Anfang regnet es Farben. Farbige Punkte rasen über die Leinwand, treffen auf die Silhouette eines Manns mit Regenschirm. Der Mann beginnt zu tanzen, tritt in Interaktion mit dem Farbenspiel, hüpft durch rote, grüne, blaue monochrome Landschaften, führte einen irren Tanz mit allerlei geometrischen Formen auf, die Lye auf ihn loslässt. Am Ende des Regenbogens dann ein Sparbuch der GPO Savings Bank. Die kreolische Tanzmusik verstummt. Eine Stimme aus dem Voice-over meldet sich zu Wort: „The Post Office Savings Bank puts a pot of gold at the end of the rainbow“. Ein fulminanter Abschluss eines Meisterwerks des Avantgarde-Films, ein weiterer Schock des Aufeinandertreffens von Kunst und Kommerz.

Für Rainbow Dance nutzte Lye ein neues Farbverfahren. Hatte er zuvor mit Dufaycolor gearbeitet, wechselte er zu Gasparcolor, das der ungarische Chemiker Bela Gaspar entwickelt hatte. Anders als Dufaycolor, einem additiven Farbverfahren mit Linienraster, wurden bei Gasparcolor (wie auch etwa beim berühmten Three-strip-Technicolor) drei verschiedene Negative produziert und anschließend subtraktiv zusammengeführt. Lye interessierte sich weniger dafür, mit diesem Prozess natürliche Farben zu erzielen, sondern erkannte das künstlerische Potenzial der Arbeit mit drei Negativen. Die nutzte er für fulminante Matte-Effekte, so ist etwa der Tänzer im Film immer nur als Silhouette zu sehen, der jedoch wild die Farben wechselt, während die Landschaften im Hintergrund in einer anderen Farbe erstrahlen. Das gelang nur deshalb, weil Lye nie auf einen natürlichen Farbeindruck, sondern auf möglichst wilde Kombinationsmöglichkeiten der drei Negative hinarbeitete. Für seinen nächsten GPO-Film Trade Tattoo ging er ähnlich vor, setzte nun aber Three-strip-Technicolor ein – und brachte die Techniker des neugegründeten Technicolor Labors in Großbritannien an den Rand der Verzweiflung. Trade Tattoo ist handwerklich noch einmal ein Stück aufwändiger als Rainbow Dance. Der Film erzählt von einem Arbeitstag in Großbritannien – und wie die Post durch ihre unterschiedlichen Dienstleistungen den Motor der britischen Industrie am Brummen hält. Dafür hat Lye nicht verwendetes Material früherer GPO-Dokumentarfilme verwendet. Arbeitsszenen in Fabriken und Häfen, Feldarbeit wie Büroarbeit tüncht Lye in knallige Farben, übermalt sie, unterbricht sie durch ornamentale Muster. Geometrische Formen, Farbfelder, rasende Übergänge bestimmen das Bild, der kreischende Funkenflug eines Schweißgeräts sprengt in aggressivem Orange nahezu die Leinwand, ein Flugzeug am Himmel wird von Farbklecksen ausgefüllt. „The rhythm of trade is maintained by the mails“, heißt es am Schluss.

Auf Trade Tattoo folgt mit N. or N.W. noch ein letzter Film für die GPO Film Unit. Der ist jedoch kaum mehr mit den früheren Arbeiten Lyes vergleichbar. N. or N.W. ist ein Informationsfilm, der die Öffentlichkeit für die richtige Verwendung von Postleitzahlen sensibilisieren soll. Ein junges Paar hatte Streit und möchte sich aussprechen. Ihr Briefverkehr kommt aber zum Erliegen, weil der Mann die falsche Postleitzahl angibt. Im letzten Moment erreicht der Brief die Frau aber doch – die Post hat den Fehler des Manns korrigiert und verhindert die (Liebes-)Katastrophe. In Schwarz-Weiß statt in Farbe, mit ausgedehnten Voice-over-Passagen, in denen die Inhalte der Briefe vorgetragen werden und ein paar Dialogzeilen am Ende, ist N. or N.W. um ein vieles konventioneller als Lyes abstrakte Filme. Sein Avantgarde-Background kommt nur zur Geltung, wenn er Gesichter, Briefe und Himmel mittels Doppelbelichtungen übereinanderlegt. Der Film ist ein Vorbote dessen, was Lye in den Folgejahren produzieren wird, wenn er für die Propagandaabteilung des Ministry of Information (MOI) arbeitet und die Kriegsanstrengungen der Alliierten unterstützt. Sein Vorgesetzter im Ministerium ist Jack Beddington. Beddington war für Lye kein Unbekannter. Da Lye kaum von der einen jährlichen Kommission durch die GPO leben konnte, nutzte er die positive Resonanz, die er für seine GPO-Filme bekam, um auch von anderen Stellen Aufträge für Werbefilme zu bekommen. Ähnlich wie die Post, hatten auch private Unternehmen in den dreißiger Jahren eigene Filmabteilungen gegründet. Eine von entstand 1934 beim Mineralölkonzern Shell. Leiter der Abteilung war Jack Beddington. Beddington kannte Lyes experimentellen Puppenanimationsfilm Peanut Vendor, den dieser Anfang des Jahrzehnts produziert hat, als er mit unterschiedlichen Animationsfilmtechniken experimentierte. Beddington gab bei Lye also ebenfalls einen solchen Film in Auftrag. Der lieferte 1936 The Birth of the Robot ab, die Geschichte eines Forschungsreisenden in der afrikanischen Wüste, der mit seinem anthropomorphen Auto in einem Sandsturm gefangen wird. Die Fata Morgana, die sich das Auto herbeiimaginiert, ist eine Tankstelle mit Werkstatt, die es wieder in Schuss bringen könnte. Das Leid des Autos wird von einer Göttin im Himmel entdeckt, die mit ihrer Laute (in Muschelform) einen Metallroboter auf die Erde schickt, der das Auto wieder in Schuss bringt und die Wüste in eine moderne Autobahnlandschaft verwandelt: „Modern Worlds need Modern Lubrication. Lubrication by Shell Oil“. Der Film wurde ein voller Erfolg, von der Kritik gelobt und von über drei Millionen Menschen im Kino gesehen.

Beddington war jedoch nicht der erste Vertreter der Privatwirtschaft, der Lyes Dienste als Werbefilmer in Anspruch nahm. Schon im Jahr davor hatte er mit Kaleidoscope einen direct film produziert, der in Konzept und Form stark A Colour Box ähnelte. Kaleidoscope war eine Auftragsarbeit für das Tabakunternehmen Churchman’s, die Oskar Fischingers Arbeiten für Muratti Zigaretten kannten, die am Festland großen Erfolg hatten. Lye stellte also seine fantasievolle Interpretation einer Zigarettenwerbung her. Dafür entwickelte er eine Stahlmatrize, mit der er schnell und effizient aufeinanderfolgende Kader mit dem gleichen Muster versehen konnte. Kaleidoscope ist folglich geprägt von längeren Passagen, in denen Schablonenmuster zum Klang eines kreolischen Beguine über die Leinwand ziehen. Gegen Ende des Films übermitteln dann farbige Lettern wie in A Colour Box die Werbebotschaft. Als der Film im Herbst 1935 in die Kinos kam, schrieb der Kritiker des Sunday Referee, Lye sei ein „English Disney“ – in den folgenden Jahren sollten seine Filme noch mehrere Male diesen Vergleich provozieren. Den „echten Disney“ traf Lye jedoch nie. Als der Kinounternehmer Sidney Bernstein dem amerikanischen Zeichentrick-Mogul bei einer US-Reise Lyes Filme vorführte, zeigte sich dieser begeistert. Zeitgenössische Kritiker in Großbritannien verglichen wenige Jahre später einige Sequenzen von Fantasia mit den Arbeiten von Lye. Es ist jedoch nicht überliefert, ob Walt Disney seinen Animatoren als Vorbereitung tatsächlich Lyes Filme gezeigt hat.

Nach dem Ende seines Engagements bei der GPO Film Unit und bevor der Krieg losging, vollendete Lye noch einen weiteren Werbefilm für ein privates Unternehmen. Colour Flight war eine Auftragsarbeit für die Imperial Airways. Zunächst unterscheidet sich der Film kaum von früheren Arbeiten wie A Colour Box oder Kaleidoscope: Farbkleckse, geometrische Formen, Farbwechsel, gezeichnete und gekratzte Muster. Dem Auftraggeber entsprechend gehen die abstrakten Formen schließlich in stilisierte Flugzeuge über, die in allen Farben des Regenbogens über die Leinwand flitzen. Der Himmel, die Wolken, die Flugzeuge: So endet auch dieses abstrakte Farb- und Formenspiel mit einer Werbebotschaft, die einerseits abgesetzt vom restlichen Film, andererseits ästhetisch einheitlich vermittelt wird. Colour Flight ist ein weiteres beeindruckendes Beispiel für Lyes Fähigkeit, seine künstlerischen Ansprüche mit den Anforderungen einer Auftragsarbeit zu vereinbaren. Etwas, das nicht allen Avantgarde-Filmemachern immer leichtfiel. Legendär, Peter Kubelkas Anekdoten zur Abnahme seiner Filme Schwechater und Unsere Afrikareise, die auf wenig Gegenliebe stießen, weil Schwechater ein konventioneller Werbespot hätte werden sollen und Unsere Afrikareise ein filmisches Andenken einer Safari. Lye hatte es da ein wenig einfacher. Er wurde aufgrund des Stils seiner vorherigen Filme beauftragt und hatte weitestgehend freie Hand, soweit er nur die Werbebotschaft seines Auftraggebers unterbrachte. Diese Freiheit hatte er sich zuvor durch lange Jahre der kunstgewerblichen Arbeit erkauft. Während seiner Zeit in Neuseeland hatte er als Grafiker und Plakatmaler gearbeitet, in Sydney war er eine Zeit lang in einem Animationsstudio für Werbefilme tätig. Dort eignete er sich das Rüstzeug für seine späteren künstlerischen Arbeiten an, entwickelte sich vom Abbildrealismus, wie er an den Kunstkursen in Neuseeland gelehrt wurde, hin zur Abstraktion, zur visuellen Poesie. So entstanden Meilensteine des Avantgarde-Films, geformt durch Kunsthandwerk, finanziert durch Post, Fluggesellschaften, Tabak- und Mineralölindustrie. Die Dreißiger waren eine goldene Ära für diese Form der Künstlerförderung. Der bereits erwähnte Oskar Fischinger machte Werbefilme in Deutschland, Joris Ivens tat es ihm in den Niederlanden nach und in Franklin D. Roosevelts USA finanzierten staatliche Behörden Informationsfilme wie The Plow That Broke the Plains und The River. Nach dem Krieg veränderten sich die Produktionsbedingungen für unabhängige Dokumentar- und Experimentalfilmer – auch für Len Lye. Als er 1957 mit Rhythm eine grandiose Miniatur über die Autoindustrie in den USA abliefert, wird diese abgeschmettert.